kulturfreak.de Besprechungsarchiv Theater, Teil 3

© Auri Fotolia

Ledarálnakeltüntem / Gehacktundverschwunden

Katona Szinház, Budapest im schauspielfrankfurt im Rahmen des 15. Festival der Union des Théâtres de l’Europe
Besuchte Vorstellung:
3. Mai 06 (Premiere)

Nicht gerade leicht auszusprechen ist der ungarische Titel dieses Stückes. Nicht minder leicht ist es, diese Inszenierung einer bestimmen Kategorie zuzuordnen. Klamotte, Tragödie, Musical, Kabarett, Schmuddeltheater, Travestie… Regisseur Viktor Bodó hat gemeinsam mit András Vinnai Franz Kafkas unvollendeten Roman „Der Prozeß“ gehörig verhackstückelt. Dabei fängt der Abend ganz traditionell an. Der junge, schmale Josef K (Tamás Keresztes) tritt aus seinem Zimmer in den Flur, wo schon ein buntes Treiben von Mitbewohner herrscht und finster blickende Männer in den Ecken lauern. Letztere fackeln nicht lange und knüpfen sich Josef vor, binden ihm brutal einen Sender auf den Bauch und machen ihm schnell klar, Fragen stellen ist sinnlos. Je mehr er sich auf die Suche nach den Gründen für die Untersuchung gegen ihn macht, umso skurriler werden die Personen, denen er dabei begegnet, da ist der Polizeichef mit seiner Schligensief-Frisur noch harmlos.
Bizarre Gestalten und groteske Situationen steigern sich von Szene zu Szene, bis Josef am Ende in eine monströse, geheimnisvolle Apparatur gesteckt und zerhackt wird, bis die Blutsuppe herausläuft.
Keresztes spielt Josef mit authentischer Unfassbarkeit der Dinge, die um ihn herum passieren. Ein alptraumhaftes Panoptikum das ihn zwischen (Alp-) Traum und Wahnsinn pendeln lässt. Weil Josef nicht geschwiegen hat, werden den Männern die ihn verhafteten als Strafe sämtliche Zähne ohne Betäubung mittels einer Bohrmaschine grad mal so rausgebrochen und weil’s besser ist, die Zunge mit herausgezogen, lecker. Das Abendessen der Köchin (Éva Olsavszky) entpuppt sich als Kot und der durchgeknallte Anwalt uriniert mit seinem Riesendödel durch die Gegend, während die Frau vom Richter (Judit Rezes) einem jungen Mann lustvoll ins beste Stück beißt. Zuvor konfrontiert sie Josef als sabbernde und verklärte Stummfilmdiva mit seinen sexuellen Gelüsten.
Bodó mutet seinen Zuschauern einiges zu. Das dies nicht zum Aufschrei oder neuem Skandal wird, liegt nicht an der Abgeklärtheit des Publikums sondern am Gesamtkonzept dieser Umsetzung. Dem Horror des Josef´s setzt Bodó nicht nur Illusionsbilder a la Baz Luhrmann´s Moulin Rouge entgegen, wenn er beispielsweise ein Hochrad oder ein Schiffchen durch den Raum fahren lässt, es wird auch viel gesungen und getanzt. Die nicht live gesungenen Lieder wie „All that Jazz“ aus dem Mörder-Musical Cabaret oder aus Webbers Cats werden in Broadwaymanier in schicken Anzügen und eleganten Kleidern präsentiert (Kostüme: Krisztina Berzsenyi). Darüber hinaus gibt es weitere Tanz- und Akrobatikeinlagen, die vor allem durch die Herren, zum großen Showact geraten. So führt ein Breakdancer mit rasenden Drehbewegungen u.a. einen Head Spin vor, ein andere turnt an Ringen und auch im Ensembletanz machen sie eine gute Figur.
Die schmale Bühne von Levente Bagossy ist ein sich perspektivisch verengernder Flur in dunkel getäfelten Holz. Mit vielen Türen, mit Stufen und einem großen Bullaugenfenster. Dazu mit etlichen Tricks ausgestattet, ganz so als hätte Daniel Düsentrieb hier gewerkelt. Telefone, Regale und selbst ein Armsessel werden da herausgekippt und gedreht, passend zum rasenden Tempo der fast dreistündigen Aufführung. Zeit für Fragen bleibt da wirklich nicht. Zum Ende ist aus Josef alles Belastende herausgefiltert und er ist befreit bereit, zum Manöver durch das Leben, für das schon Monty Python empfahl: always look on the bright side of life.

Markus Gründig, Mai 06


The Changeling – Der Zerfall

Cheek by Jowl, London im schauspielfrankfurt im Rahmen des 15. Festival der Union des Théâtres de l’Europe
Besuchte Vorstellung:
29. April 06 (Premiere)

Kaum zu Glauben ist, das das Stück “The Changeling” schon beinahe vierhundert Jahre alt ist (und dabei bei uns weitgehend unbekannt geblieben ist und selbst auch nicht bei den Briten zum Britischen Repertoire gehört). Denn absolut zeitnah präsentiert das Londoner Cheek by Jowl Ensembles unter der Regie seines Leiters Declan Donnellan diesen englischen Klassiker von Thomas Middleton und William Rowley.
Der deutsche Titel des Stücks „Der Zerfall“ gibt die Geschichte nur unzureichend wieder. Zwar geht es um den Zerfall der Lady Beatrice-Joanna, doch auch um das in „Changeling“ steckende „change“, also Wandel, Veränderung.
Mittelpunkt ist eben diese Figur der Beatrice-Joanna, die bereits einem Mann versprochen wurde, den sie nicht will und deshalb den verhassten, entstellten, Diener De Flores zum Mord anstiftet, welcher wiederum ihr verfallen ist. Im weiteren Verlauf kehren sich die Machtverhältnisse um, spitzt sich die Gewalt zu, bis am Ende in einem Akt der Selbsterkenntnis die Moral von der Geschichte gezogen wird.
Dazu gibt es in einer zweiten Ebene eine Nebenhandlung, in der auch eine Frau (Isabella) zentrales Lustobjekt zweier Männer ist. Hier wird sich dem aber auf komödiantischer Weise genähert.
Einerseits also ernstes Spiel, andrerseits lustige Szenen aus dem Irrenhaus. „The Changeling“ verbindet ernste mit leichter Unterhaltung, denn auch bei der ernsten Haupthandlung hat das Autorenduo einen zarten, britischen, Humor eingeflochten (etwa bei der Bestimmung der Jungfräulichkeit einer frau mittels eines Zauberwassers).
Eine Liebe zwischen Herrin und Diener gibt es öfters in der Theaterliteratur, hier hat sie durch die Hässlichkeit de Flores (Will Keen) eine zusätzliche Dimension. So ist es Beatrice-Joanna doppelt unmöglich, ihn zu lieben (wobei sich die Hässlichkeit de Flores auf ein paar Pickel neben seinem Vollbart beschränkt, die von hinteren Sitzreihen immer weniger auffallen dürften). Liebe, Erotik und Sex von und mit gesellschaftlich Ausgegrenzten, (wie entstellte und behinderte Menschen), dieses Stück hat ein breites Spektrum an Themen.
Mit der Eleganz und Härte eines Gentlemans, zu dem er werden will, dreht de Flores den Spieß um und interessanter Weise verfällt ihm Beatrice-Joanna schließlich, bilden die beiden ein Paar dass Hassliebe aneinander bindet.
Die große Bühne des schauspielfrankfurt ist nahezu leer, die schwarzen Bühnenwände vermittelt Düsterheit und inmitten des Raumes (der Kirche, Schloss von Vermanderas und Irrenhaus in einem ist) steht ein Aufzugsschacht, daneben ein Eisschrank, ein Tisch und ein Überwachungsmonitor für die Insassen von Dr. Alibius.
Dreizehn rote Plastikstühle stehen im weiten Raum verteilt, auf jedem je einer der Schauspieler. Langsam kristallisieren sich die Hauptpersonen heraus, während die Bühne lediglich von seitlichen Strahlern beleuchtet wird (nur für die Szenen im Irrenhaus gibt es volles Licht).
Die 37-jährige Olivia Williams in der Rolle der Beatrice-Joanna wurde als Ehefrau von Bruce Willis im Film „The Sixth Sense“ international bekannt, wechselt zwischen Film- & Theater und überzeugt auf voller Linie in ihrer Zartheit, der Verletzung, ihrem Lustdrang, aber auch mit ihrem Hass gegenüber De Flores (als Wolf im Schafspelz, vom Diener zum Master: großartig Will Keen).
Trotz der Weite des Bühneraums gelingt es dem Regisseur Declan Donnellan die vielen Figuren sinnvoll zu führen, nutzt die Ecken als Auf- und Abtrittsort und selbst intime Momente leben greifbar nah auf. Dabei lässt er die Darsteller auch immer wieder direkt zum Publikum sprechen.
Großes Theater! Nicht ohne Grund konnte Cheek by Jowl bereits in der ganzen Welt auftreten (Gastspiele in 301 Städte und in über 40 Ländern, wow!).

Markus Gründig, April 06


kain !

schauspielfrankfurt, nachtschwärmer
Besuchte Vorstellung:
28. April 06 (Premiere)

Witzig, schrill und grell sind meist die Projekte, die im schauspielfrankfurt im Rahmen der nachtschwärmer-Reihe im Zwischendeck gezeigt werden. Jener Reihe, in der mit kleinem Budget und großen Einsatz geackert und gezaubert wird und die deshalb in der Frankfurter Theaterszene einen Kultstatus erreicht hat.
Die jüngste Produktion „kain!“ beschäftigt sich anhand der bibischen Erzählung von Kain und Abel (1. Buch Mose, Kapitel 4, Verse 1-16) sehr ernsthaft mit den Themen Schuld, Verantwortung und Freiheit. Jeden Besucher ist zum Nachlesen sogar ein Exemplar der Bibel mit markierter Textstelle auf den Platz gelegt. Als Textmaterial wurden Texte von Friedrich Koffka, Fjodor Dostojewskij, Comte de Lautréamont und anderen verwendet. Dabei geht es immer wieder um eines jeden tragische Vereinzelung, eines jeden tragische Schuld. Alles kreist um den Brudermord, um die unterschiedlichen Brüder. Den nach Zuneigung suchenden Kain, der sich nicht in die Erwartungshaltung der Gesellschaft einpassen will und des angepassten, Tatmenschen Abel.

Das Besondere an der Inszenierung von Florian von Hoermann ist, das er die Rollen von den Schauspielern wechselnd spielen lässt. Jeder spielt jeden. Das erfordert zwar ein wenig mehr an Konzentration als sonst bei dieser zu später Stunde stattfindenden Reihe, doch dafür bieten die vier Darsteller ein hoch dichtes unmittelbares Spiel, bei dem sich letztlich der Zuschauer betroffen wieder findet.

Christian Kuchenbuch (in zotteliger Outlaw-Kleidung) und Robert Kuchenbuch (im Business-Anzug und später Oberkörperfrei mit großen Kainsmal-Tätowierungen wie HASS, Hakenkreuz, Schlange und Lamm; Kostüme: Katja Strohschneider) haben ihr außergewöhnliches schauspielerisches Talent schon oft genug unter Beweis gestellt und zeigen auch hier wieder ohne nachlassender Intensität fesselndes Spiel.
Katrin Grumeth, kürzlich noch als herrlich nervende Tochter in „In seiner frühen Kindheit ein Garten“ zu sehen, zeigt hier als Eva, als Mutter, als verführende Frau und finale Todesvollstreckerin in fast schicker Freizeitkleidung, feinfühliges, bedachtes und stilles Spiel. Moritz Peters hat scheinbar von seinen „Brüdern“ mächtig profitiert, denn er gibt sich hier in seiner bisher besten Form: die unterschiedlichen Gewühlswelten nervös, verunsichert, verängstigt und sich nach Liebe sehnend, authentisch und eindruckvoll wiedergebend.

Das diese Performance so intensiv rüber kommt ist neben der schauspielerischen Leistung und der Regie vor allem ein Verdienst von Norgard Kröger, die die Bühne diesmal als abgetrennten, kleinen und intimen Raum gestaltet hat. Die 50 Zuschauer sitzen nicht wie sonst meist auf den Treppenstufen zum oberen Foyer, sondern in zwei Stuhlreihen hufeisenförmig um eine circa 4×4 Meter große Spielfläche herum, der Raum ist mit weißen Vorhängen abgegrenzt. Videointerviews mit Passanten auf dem Willy-Brandt Platz zeigen zu Beginn ein diffuses Bild der Geschichte von Kain und Abel in den Köpfen der Befragten; kurz vorm Ende erfolgen kurze Kriegsberichterstattungssequenzen zur Unterstützung des aktuellen Bezugs (Video: Fabian Hentzen).

Abseits plakativer Effekte zeigt das Team hochdramatisches Theater in kleinem Raum, stellt Fragen nach dem richtigen Weg, die auch auf einer großen Bühne nicht beantwortet werden können, sondern nur im Herzen eines jeden Zuschauers.

Markus Gründig, April 06


La Sagra del Signore della nave – Das Fest unseres Heilands vom Schiff

Teatro di Roma im schauspielfrankfurt im Rahmen des 15. Festival der Union des Théâtres de l’Europe
Besuchte Vorstellung:
27. April 06 (Premiere)

Mediterrane Straßenatmosphäre herrscht auf der Bühne im Kleinen Haus des schauspielfrankfurts beim Gastspiel des Theatro di Roma. Auf dem Dorfplatz vor der kleinen, normannischen Kirche von St. Nikolaus (abstrakt als die Zeiten überdauernde Pyramide) beten die Dorfbewohner den Heiland des Schiffes an – ein großes Kruzifix. Marktplätze an den Seiten nebst reichlich geschmückten Stellwänden, alles in einen warmen sandfarbigen Ton gesetzt (incl. Boden; Bühne und Kostüme: Guiseppina Maurizi).
Mit großen Ensemble und musikalischer Unterstützung (Posaune, Akkordeon, Trompete und  Percussion) beginnt die Prozession zum Schlachtfest, bei der froh gesungen und musiziert wird.
Die Prozession ist äußerer Rahmen für den Disput zwischen zwei Männern über die Wertigkeit von Mensch und Tier. Die Liebe zu einem fett gezogenen Schwein und die Behauptung, das Tier sei „bei Verstand“, verstört den anderen. Der sizilianische Autor Luigi Pirandello (1867-1936, Literaturnobelpreis 1934) verbindet in diesem Stück, mit leichter Hand geführt, überzeichnete Komik mit philosophischer Reflexion.
Sein Stil ist nicht das große Charakterdrama, sondern vielmehr, im Rückgriff auf die Commedia dell’Arte, Parodie und Groteske. Vincenzo Pirrotta vom Theatro di Roma hat Pirandellos Stück in diesem Stil bearbeitet, inszeniert und auch gleich die Hauptrolle des fetten Herrn Lavaccara übernommen.
Die Figuren sind sehr plastisch herausgestellt, vor allem der Pädagoge (schlank, im schicken bunten Anzug nebst eleganten Strohhut und Schirm) und Herr Lavaccara, nebst Frau und Sohn.
Die in Italienisch gesprochene Aufführung wurde mit deutschen Übertiteln versehen, wobei es galt bei dem schnellen Sprachstil der Italiener schnell genug beim Lesen zu sein. Durch den bewegungsreichen wie mimikstarken Schauspielstil der gesamten Truppe (die sich auch mehrfach durch die Seitenaufgänge bewegte) konnten auch die nicht des Italienisch mächtigen der Geschichte sehr gut folgen.
Am Ende begeisterter Applaus für die spielfreudigen Italiener.

Markus Gründig, April 06


Santa Joana dels Escorxadors – Die heilige Johanna der Schlachthöfe

Teatre Lliure, Barcelona im schauspielfrankfurt im Rahmen des 15. Festival der Union des Théâtres de l’Europe
Besuchte Vorstellung:
26. April 06 (Premiere)

500 Jahre nach der Verbrennung der historischen Johanna von Orléans (Jeanne d’Arc) auf einem Scheiterhaufen in Rouen, schrieb Berthold Brecht sein Stück „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ 1929/30, zur Zeiten der Weltwirtschaftskrise. Die Figur der heiligen Johanna versetzte er, erweitert,  in das moderne Zeitalter. Gesendet wurde im Jahr 1932 lediglich eine Radiofassung, die geplante Uraufführung am Landestheater Darmstadt im Jahr 1933 musste wegen der Machtergreifung der Nazis abgesagt werden. Sie fand unter der Regie von Gustaf Gründgens erst im Jahr 1959, nach Brechts Tod, in Hamburg statt.
Das Stück zählt zu Brechts Frühwerken und bietet eigentlich nicht den Unterhaltungswert der kurz davor entstandenen Dreigroschenoper. Plakativ mahnt Brecht Kapitalismus und dessen unaufhaltsame Sucht nach Profitmaximierung an.
Die mehrfach ausgezeichnete Inszenierung des Theatre Lliure unter der Regie von Alex Rigola macht aus der Vorlage einen kraftvollen, musikalisch und tänzerisch durchzogenen, fesselnden Abend. Im rasenden Tempo wird die Geschichte in voller akustischer Breite (also mit lauten und auch sehr leisen Tönen) erzählt und erschreckend viele Parallelen zu Heute offen gelegt (wie Arbeitslosigkeit und Globalisierung, Gewalt beim G9-Treffen in Genau und Entlassungen in Barcelona).

Einen klar auszumachenden Bühnenraum, im Sinne eines bestimmten Ortes, gibt Bibiana Puigdefàbregas Bühne nicht vor. Ein vitrinenähnlicher Glaskasten, ein Riesenaquarium, dient als Verhandlungsort für die Besprechungen der Schlachthofbosse, die einheitlich in schwarzen Hosen und weißen Hemden und Krawatten gekleidet sind (Kostüme: M. Rafa Serra) und sich so leicht erkennbar von der Arbeiterklasse schon optisch unterscheiden. Videokameras fangen die Gespräche ein und bilden sie auf einer großen Leinwand im linken Bühnenhintergrund großformatig ab. Das Spiel im beengten Raum gewinnt dadurch eine vollkommen andere Perspektive, da die Kameras geschickt lediglich die Darsteller einfangen und im großen Format wiedergeben. So erscheinen sie in ihren leidenschaftlichen Machtkämpfen nah und unmittelbar, wie sich gegenseitig zerfleischen und um ihren Machterhalt nicht nur verbal sondern auch körperlich hart miteinander kämpfen. Dazwischen blendet Juanjo Giménez immer wieder einstürzende Hochhäuser und kämpfende Haifische ein, zum Schluss die Logos heutiger Global-Player wie Coca-Cola, Ikea, Microsoft oder Nike.

An beiden Seiten(neben zwei DJs) strampeln sich zwei Radler auf einem Bike die Vorstellung hindurch. Bild für den kleine Arbeiter, der nie zur Ruhe kommt und über dessen Schicksal die Wirtschaftsbosse schon längst entschieden haben. Eine große Kuh, Tisch, Stuhl, Sessel und eine Ampel (damit die wütenden Arbeiter wissen was sie wann dürfen?) ergänzen das Bild.
Die Bühne wirkt voller als sie eigentlich ist und der Betrachter kann durchaus in Not geraten, wo er denn gerade hinschauen soll, weil ständig irgendwo jemand zusätzlich agiert. Ein rotes Leuchtband im Hintergrund kündigt auf Deutsch die elf Bilder des Stückes an, so dass dadurch eine zusätzliche Orientierung gegeben wird. Das in katalanischer Sprache aufgeführte Stück wird mit Übertiteln in deutscher Sprache angezeigt, was aufgrund der Unterschiedlichkeit in den Längen des Ausdrucks nicht immer synchron läuft.

Die Inszenierung fragt nicht mit dem Festivalmotto „wenn Liebe käme“, sondern mit dem wunderbar im Chor vorgetragenen Black Eyed Peas Hit „Where is the love?“. Ein (laut-) starkes Ende gibt es mit dem, erneut von der ganzen Truppe vorgetragenen, Linkin Park Song „Somewhere I Belong“, der die Schlüssigkeit Rigolas Inszenierung perfekt abrundet.

Markus Gründig, April 06


Sonja

Koproduktion schauspielfrankfurt und Jaunais Rîgas Teâtris
im Rahmen des 15. Festival der Union des Théâtres de l’Europe
Besuchte Vorstellung:
22. April 06 (Premiere)

Poesie des Alltäglichen

Wenn Liebe käme, wer wäre Sonja dann? In ihrer kurzen Erzählung berichtet Tatjana Tolstaja von der Frau Sonja, an die sich heute kaum noch jemand erinnern kann, von der nur der Name noch geblieben ist.
Die Bühne im Kleinen Haus des schauspielfrankfurt zeigt ein russisches Zuhause in den dreißiger Jahren. Ein ungewöhnlich gegenständliches, altertümlich anmutendes Bühnenbild von Kristine Jurjane: Küche mit Speisekammer, Esstisch und Schlafzimmer, viele Möbel und Utensilien, alles sehr detailverliebt, bis hin zum Wasserbecken für fließendes Wasser beim Händewaschchen.
Zwei Einbrecher stehlen sich in aktuellen Freizeitanzügen und Strumpfmaske über den Kopf in dieses Heim. Während sie die Wohnung durchsuchen und ersten Verlockungen von Marmelade erliegen, fällt Ihnen ein Bilderalbum in die Hände, mit einem Bild von Sonja. Ein Streit zwischen den beiden entsteht und schon ist der Zeitsprung zurück geschafft und einer der Einbrecher zu Sonja verwandelt.
Sei es bei „Charlys Tante“ oder „La Cage aux Folles“ („“Birdcage“), schon oft haben Männer gezeigt, dass sie die bessere Frau sein können. So auch hier. Gundars Abolins spielt die einfältige Sonja mit einer solchen Hingabe, das die Augen des Publikums nahezu an ihm/ihr heften bleiben. Und das, obwohl Sonja die ganze Zeit über kein Wort spricht. Zwei vorbereitete Tortenböden werden von ihr mit einer Creme überzogen, Sahnekrönchen draufgespritzt und dann zum festlichen Abschluss mit Kirschen garniert. Oder die exakte Vorbereitung eines Hähnchens für den Backofen, mit einem Schmunzeln wird die Vorstellung fast zu einem Kochkurs. Während Sonja backt, kocht und später dann ihre Liebesbriefe schreibt, erzählt Jevgenijs Isajevs die Geschichte von Tatjana Tolstaja. stellenweise so leidenschaftlich heftig, dass es ihm vom Stuhl haut oder, wo er einschläft, mit dem Gesicht in die Torte fällt, die er vorher gierig lustvoll zu essen angefangen hat. Regisseur Alvis Hermanis nimmt sich viel Zeit, es gibt immer wieder lange Erzählpausen, die aber nie als unangenehm empfunden werden. Ein poetisches, liebevolles Portrait einer ungewöhnlichen Außenseiterin, die damals wie heute jeder gerne in seiner Nähe hätte.

Markus Gründig, April 06


Gier

schauspielfrankfurt, im Rahmen des 15. Festival der Union des Théâtres de l’Europe
Besuchte Vorstellung: 21. April 06 (Premiere)

Nach der Erkundung der stets übersehenen Ecken und Winkel des schauspielfrankfurt in ihrer Vor-/Ausstellung „For Sale“ begibt sich die Raum-Meisterin Wanda Golonka mit Sarah Kanes Stück „Gier“, das als Beitrag des schauspielfrankfurts zur Eröffnung des 15. „UTE“-Festivals gezeigt wurde, nun in nahezu universelle Weiten. Die große Bühne des Hauses verzaubert sie zu einem Theaterpantheon, das ganze Raumvolumen für einen großen Zylinder ausnutzend. Mit langen schwarzen Vorhängen schafft sie einen runden, hohen Saal, dessen Spielfläche vollkommen leer ist und an dessen Rand für die Zuschauer zwei Reihen (harter) Bänke stehen.
Es gibt wenig Licht und zu Beginn auch erst einmal Stille, dann sanfte, ganz zarte klassische Musik, so als würde man mit einer kleinen Feder liebevoll gestreichelt werden. Nach und nach treten die tänzerischen Schauspieler und schauspielernden Tänzer auf. Kane´s „Gier“ ist kein klassisches Sprechtheaterstück mit fester Dramaturgie und Regieanweisungen. Die Personen sind nur durch ihren Körper und ihre Stimme präsent, haben keinerlei persönliches Profil (und nur je einen Buchstaben als Namen zur Unterscheidung). Kane liefert Gedankenbruchstücke und Textfragmente, keine Dialoge oder übliche Monologe.
Golonka greift Kane´s Gedankenwelt um Liebe, Sehnsucht, Geborgenheit, Ganzheit, aber auch von Entfremdung, Verlust und Verstörung auf und komponiert daraus ein Gesamtkunstwerk, ein sinnliches Erlebnis, das Theater, Tanz, visuelle und akustische Eindrücke umfasst und gleichwertig präsentiert.

Sieben kleine Taschenlampen und drei große Scheinwerfer vom Bühnenhimmel reichen als Lichtquelle in dieser dunklen Welt. Einzeln treten die Figuren vor, markieren ihren Standpunkt mit den auf einem Stab festgebundenen Taschenlampen. Aus dem Gegenüber folgt Begegnung und Nähe. Ein Körper, mal der einer Frau, mal der eines Mannes, wird versucht zu umklammern, festzuhalten, doch er gleitet davon, sind es auch noch so viele die sich um ihn bemühen. Die Gruppe ist in ständiger Bewegung, wobei keiner herausgestellt ist, auch wenn einzelne immer wieder aus der Gemeinschaft ausbrechen und nah vors Publikum treten und mit abgehackten Bewegungen dem Text Ausdruck verleihen. Sie Traumwandeln und bewegen sich rasend, als Gruppe und einzeln, wie Mathias Max Hermann der als „A“ gar mehrere Bühnenrunden rennt, bis er von „B“ (Bert Tischendorff) ausgebremst wird und wieder Bestandteil der Gruppe wird.
Als tanzende Schauspieler agieren zudem Sascha Icks (M) und Anne Müller (C), als schauspielernde Tänzer Shila Anaraki, Veronique Dubin, Nicola Gründel und Katharina Wiedenhofer (alle einheitlich gekleidet, die Männer in grauer Hose, die Damen in kurzen grauen Röckchen, später alle in einem beigen Pflechtkorsett).
Die Stimmen kommen mitunter irgendwo aus dem Raum, genauso wie die Geräusche der Räder auf den Schienen während einer Eisenbahnfahrt. Und während sich die große Drehbühne dreht und dreht denkt man plötzlich, man selber sei auf der Fahrt, so intensiv wirkt Golonkas mehrschichtiges, einer Fuge gleichendes, Glanzstück.
Durch die punktgenaue und dezente Ausleuchtung entstehen ständig neue Bilder, neue Orte. Eine große Veränderung gibt es kurz vorm Ende, als plötzlich dünne, gazeähnlich, helle Vorhängen herabfallen. Während die Darsteller in ihrer Position verharren, ziehen die Vorhänge durch die Drehbewegung der Bühne sanft über sie hinweg, genauso wie die einsetzende Schlussmusik. Jeder ist allein, als das Rad des Lebens schließlich stehen bleibt. Das ist wie im richtigen Leben. Golonka und die DarstellerInnen zeigen jedoch, das der Einzelne seinen Platz in der Gemeinschaft hat, sie braucht und seine Position dort zu erkunden hat. Das Leben ist voller Möglichkeiten.

Markus Gründig, April 2006


Schändung

Schauspiel Bochum
Besuchte Vorstellung:
Gründonnerstag 13. April 06

Im vergangenen Sommer sollte Botho Strauss neustes Stück „Schändung“ im Berlin Ensemble mit Bruno Ganz uraufgeführt werden, doch aufgrund unterschiedlicher Auffassungen zwischen Ganz und Peymann bei den Proben wurde daraus nichts. So fand die Uraufführung von Schändung im Oktober 05 im Pariser Théâtre de l’Odéon statt (unter dem französischen Titel: Viol, Regie: Luc Bondy; diese Inszenierung wird ab 11. Juni 06 auch vom Koproduktionspartner, den Wiener Festwochen, gezeigt werden). Die deutsche Erstaufführung folgte im Januar im Berliner Ensemble mit Jürgen Holtz in der Hauptrolle des Titus.
Für die Inszenierung von „Schändung“ an seinem Haus wählte Elmar Goerden einen Ansatz, der auf schockierendes Blutgespritze verzichtet. Gierdens Schändung ist eine stille, textnahe Interpretation, ein intensiv wirkendes Kammerspiel das in der gezeigten Nüchternheit unter die Haut geht. Bei der besuchten B-Premiere verließen rund ein Dutzend Personen entsetzt die Vorstellung, zwei Damen erlitten einen Kreislaufzusammenbruch und wurden mit Krankenwagen ins örtliche Krankenhaus gebracht, die Vorstellung deshalb kurz vor der Pause für einige Minuten unterbrochen. Strauss Text ist stark genug auch ohne Ekeleffekte zu wirken.
Dabei fängt der Abend fängt ganz friedlich an. Junge hübsche Menschen sprechen per Videogroßeinspielung von „Terra secura“, der exclusiven Wohnanlage in absolut geschützter Lage, bei sorgloser Abgeschiedenheit: sanfte Wiesentäler als Traum vom irdischen Paradies. Und irgendwo in dieser geheimen, verborgenen und unzugänglichen Welt lauert das Übel. Nicht in schäbigen Straßenecken, sondern in einer schicken und großzügigen Wohnlandschaft. Vorne am Bühnenrand ein wenig abgesenkt eine Loungelandschaft aus verschiedenen Polsterhockern, die Seitenwände in diesem Bereich sind mit einem wild strukturierten Rahmen versehen, oben schwebt überdimensional das gespiegelte Wort „Amor“ in stylischer Schrift, von der Bühne liest sich dies als „Roma“. Liebe und die verwahrlosten Zustände im alten Rom. Das Stück beruht auf Shakespeares „Titus Andronicus“, Shakespeares blutrünstigem Stück. Gegenseitige Morde und auch das „Versöhnungsessen“ finden sich schon hier. Strauss packt die Themen Gewalt und Liebe in eine neue Sprache und transferiert die Geschichte in die Gegenwart.
Die Hauptbühne ein leerer Raum, mit zwei mehrgliedrigen braunen, glatten Schiebeelementen. Dahinter eine Spiegelwand. Ein Regal als Vitrine für die von Titus gesammelten Urnen seiner Opfer dient später als Kochtisch (Bühne: Silvia Merlo und Ulf Stengl). Zwischen den einzelnen Szenen immer wieder sphärische Klänge (Musik: Matteo Fargion), die erste Gelegenheit bieten, über das Gezeigte nachzudenken.
Die kurzen Augenblicke des Mohren Aaron´s Nacktheit schockt heute niemanden mehr. Auch die dem Stück schon in den Titel gelegte Schändungsszene läuft mehr im Kopf des Zuschauers brutal ab, als auf offener Bühne (wo Chiron und Laviana mit Kleidern aufeinander liegen und später hinter der Schiebewand veschwinden). Bedrückend allein der Moment, als Lavinia nach der Schändung im rot gefärbten Unterrock nach vorne tritt. Louisa Stroux, kurz drauf dann im zugeknöpften rosa Kleid (Kostüme Lydia Kirchleitner), gibt der Lavinia bewegenden Ausdruck: in ihrer Verletztheit, Ohnmacht und Schmerz, aber auch in ihrer großer Lebenssehnsucht, die sich überwiegend auf Sex bezieht. Nachdem ihr Chiron in ihrem Bett vom Vater erstochen wurde, läuft sie in das vom Vater bereitgestellte Schwert, doch auch hier geht rechtzeitig die Schiebetür zu. Die Rolle der Laviana ist mehr als eine Opferrolle: ein Spiegelbild für eine Gesellschaft ohne innere Werte.
Der Titus des Bruno Ganz ist kein Brutalo-Totschläger, kein Tyrann. Er ereifert sich, wenn seine Ordnung gestört wird. Ganz spielt mit seiner großartigen Mimik sehr behutsam und macht den Titus zum freundlichen Nachbar.
Martin Rentzsch gefällt als eingemohrter Aaron und Liebhaber der Tamora, die im eleganten Abendkleid von Ulli Maier als energische und gleichwohl attraktive Frau gespielt wird.

Botho Strauss Text ist intensiv, Goerden lässt ihm Zeit zu wirken und trotz der ruhigen Gangart vergehen die gut drei Stunden wie im Fluge.

Markus Gründig, April 06


In seiner frühen Kindheit ein Garten

schauspielfrankfurt
Besuchte Vorstellun:
7. April 06 (Premiere, Uraufführung)

27. Juni 1993 – Bad Kleinen (eine Mecklenburg Vorpommern´sche Gemeinde mit keinen 4.000 Einwohnern zwischen Schwerin und Wismar) – Bahnhof – Tod von RAF Mitglied Grams und GSG 9 Beamte Newrzella – Rücktritt des Bundesinnenministers Seiters – Hinrichtung oder Selbstmord Grams?
Nachdem Autor Christoph Hein in „Horns Ende“ einen Blick auf das Leben im Sozialismus der ehemaligen DDR warf, nahm er die Geschehnisse vom Bahnhof Bad Kleinen zum Anlass, einen Blick auf den goldenen Westen zu werfen, wo längst auch nicht alles so ist, wie man denkt. Früher gab es einen „Garten“ und heute? Öde und Resignation ob der politischen Allmacht des Staates, der sich Rechtsstaat schimpft.
Richard Zurek, pensionierter Lehrer und Schuldirektor, ist der Vater von Oliver, wie Grams hier heißt. Er ist geschockt vom Tod des Sohnes und den Umstände. Schon bald hat er Zweifel an den offiziellen Erklärungen zu dem Vorfall am Bahnhof Bad Kleinen. Er verlangt Gerechtigkeit für seinen Sohn, Offenlegung aller Fakten. Je mehr er sich bemüht und kämpft, umso mehr erschrickt er über den Staat, auf dem er einst einen Eid geschworen hat.
Jens Groß macht aus dem Aktivisten Zurek in seiner Bühnenfassung von Heins Roman einen über das Stück geschockten, handlungsunfähigen Zurek. Andreas Leupold, sonst genial in seinem eloquenten bewegungsreichen Spiel, ist hier zum passiven Grübler reduziert, der mit seiner Tochter Christin (forsch: Katrin Grumeth) zwar auch immer wieder heftig diskutiert, doch erst ganz am Schluss ein Stück Freiheit findet indem er sich von seinem Eid lossagt. Weit stärke Bedeutung hat hier seine Frau, Friederike Zurek, bekommen. Mit minimalen Veränderungen ihrer Gesichtszüge spricht Friederike Kammer gleichwohl ganze Bände. Die Mutter ist wie so oft Bindeglied und treibende Kraft in einer Familie Schließlich hat sie ja auch einst ihrem unerfahrenen Richard die Angst vor den Frauen genommen. Köstlich ist sie in Ihrem Bestreben, endlich auch von ihrem Weltenbummelnden Sohn Heiner (Simon Solberg) ein Enkelkind und eine Schwiegertochter zu bekommen. Dazu, Gunnar Teuber als Anwalt Feuchtenberger.

In seiner frühen Kindheit ein Garten
schauspielfrankfurt
Andreas Leupold, Gunnar Teuber, Friederike Kammer
Foto: Alexander Paul Englert ~ englert-fotografie.de

Trostlos ist es im Westen, bei den Zureks Daheim. Keine Eigenheimidylle, die Wände kahl und mit schattiger Tapete, als wären die Zureks schon längst ausgezogen. Die Rollläden vor den großen Fenstern sind aus Angst vor der Presse herabgelassen (Bühne: Katrin Frosch). Ein Ort der von der Stimmung einem Untersuchungszimmer gleicht. Was insoweit passt, da es ja hier um die Untersuchung zum Geschehen am Bahnhof Bad Kleinen geht.

Und im Westen nichts Neues? Armin Petras verzichtet auf Spaß und Übertreibungen, zeichnet Groß´s Bühnenfassung des Romans als nüchternes, ernstes Spiel, bis hin zum Wehmutsschrei Christins, als sie Olivers Kinder-Eisenbahn im Sand wieder findet, mit dem das Stück endet.

Markus Gründig, April 06


Horns Ende

schauspiel frankfurt in kooperation mit dem Schauspiel Leipzig
Uraufführung: März 06 (Leipzig)
Besuchte Vorstellung:
7. April 06 (Premiere Frankfurt)

Herr Horn, seines Doktortitels aberkannt und in die Provinz strafversetzt, ist ein verschlossener, sehr zurückgezogen lebender Mann. Nachdem er sich erneut Untersuchungen wegen staatsuntergrabender Gedankenäußerungen stellen muss, beendet er freiwillig sein Leben.
Christof Hein hat in seinem Buch „Horns Ende“ noch zu Zeiten der DDR diese frei erfundene Figur genutzt, um in einer erzählerisch kurzweilig Weise einzelne Personen und damit das tröge Alltagsleben in einer DDR Provinzstadt in den 50er Jahren nachzuzeichnen. Mehr durch ein Versehen ist das Buch überhaupt in der DDR erschienen und war auch sofort ausverkauft. Jeder dieser Personen stand irgendwie in Beziehung zu diesem Herr Horn (dessen Vorname verschwiegen wird): seine Vermieterin, der Arzt, der Bürgermeister, bis hin zum Sohn des Apothekers, der die Leiche im Wald fand. Hinter diesen Portraits geht es um die Frage, was das Staatssystem mit den Menschen macht.
Armin Petras, (noch) Hausregisseur am schauspielfrankfurt (und designierter Intendant des Berliner Gorki Theaters) und selber in der ehemaligen DDR groß geworden, hat aus Heins Buchvorlage eine Theaterfassung erarbeitet und sie auch selber inszeniert. Wo bei Hein über allen Personen ein Schleier von Wehmut über das nicht selbst bestimmt gelebte Leben und die nicht genutzten Chancen schwebt, packt Petras mit einem gehörigen Schwung an feiner Groteske die Bewohner Bad Guldenbergs am Schopf und zeigt sie als gar nicht so traurige Zeitgenossen.

Horns Ende
schauspielfrankfurt
Anja Schneider, Aleksandar Radenkovic, Berndt Stübner, Ronald Kukulies, Robert Kuchenbuch
Foto: Alexander Paul Englert ~ englert-fotografie.de

Die Bühne von Kathrin Frosch ist ein breiter, flacher Raum, der im Hintergrund ein gezeichnetes Landschaftsidyll Guldenbergs wiedergibt und ist Praxis (links), Bürgermeisterzimmer (mitte) und Wohnung/Ladengeschäft/Burgmuseum (rechts) in einem, liebevoll mit einer Gegenständen der 50er Jahre ausgestattet. Weitgehend leer sind die Regale in Fischlingers Laden, aber so war das damals tatsächlich.

Am Lebensfrohsten und -durstigen ist Marlene, die Tochter des Malers Gohl. Geistig nicht ganz auf der Höhe ist ihre Unbekümmertheit ihr großer Vorteil. Doch auch sie holt die Realität des Lebens ein, als „ihr Mann“ sie schmerzhaft nimmt und verläßt. Susanne Buchenberger macht aus ihr, die in der Romanvorlage einen weitaus geringeren Anteil hat, keine fern stehende Verrückte, sondern eine Frau, die einem in Ihrem Drang nach Erfahrungen und Gefühlen ganz nah kommt. Kindlich naiv drückt sie sich aus, wo die „Normalen“ voller Verklemmungen sind. Wie zum Beispiel der verkappte und unter dem Joch seines gehassten Vaters stehende Dr. Spodeck. Berndt Stübner zeigt ihn als Anstandsmensch, der sich erst viel zu spät seine wahren Gefühlen seiner Sprechstundenhelferin Christine (sexy, energisch und mit Osteuropadialekt: Anja Schneider) gegenüber eingesteht.
Ein Mann zwischen den Fronten ist der Bürgermeister Kruschatz. Protzig und doch Unbeholfen von Ronald Kukulies gespielt, gelingt es ihm nicht den Graben zwischen ihm und Herrn Horn zu überwinden, auch wenn er ihn schützend vor Bachofen auf die Arme nimmt. Seine für diese Kleinstadt nicht geeignete Frau (mondän: Ellen Hellwig) entgleitet ihm erst und weil die beiden viel länger als vereinbart in der Stadt bleiben wo jeder nur vor sich hin lebt, erkrankt sie und stirbt. Kruschatz selbst wird senil und landet im Altersheim, wo Petras ihm die Scheiße an die Wand schmieren läßt.
Brillant ist Bettina Riebesel als Gertrude Fischlinger, die Vermieterin und Not-Geliebte Horns. In ihr Spiel mit Augen und gesamter Gestik legt sie enorm viel Ausdruck hinein (selbst ohne Text würde sie diese Rolle wohl hervorragend spielen können). Robert Kuchenbuch ist Herr Horn, seriös im Anzug und mit schwarzer Hornbrille. Innerlich zum Zerreißen angespannt, kann und will er sich seiner Umwelt nicht erklären, bleibt ein Eigenbrödler, nur bei seinen Vorträgen donnerstags auf der Burg kommt er aus sich heraus. Seinen aufgestauten Ärger frisst er immer tiefer in sich hinein. Sein Potential wird jedoch deutlich als er beispielsweise mit einem beherzten Sprung aus dem Stand auf den Tisch springt, um Krutschatz Aug ins Aug zu sehen.
In weiteren Rollen: Andreas Haase (Bachofen, Herr Gohl) und Aleksandar Radenkovic (Thomas).

Heins Roman gleicht mit seinen ständig wechselnden kurzen Episoden einem Flickenteppich, dessen Muster erst aus der Distanz erkennbar wird. Petras Stück und Inszenierung führt die Geschichten zu einem stimmigen Portrait deutschen Kleinbürgertums, jenseits der Grenzen, zusammen.

Markus Gründig, April 06


Jesus d´amour, gest./auferst. (Das Evangelium)

Theater Willy Pramle, Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
6. April 06 (Premiere)

Jesus auf der Bühne ist eigentlich nichts Ungewöhnliches. Wenn sich eine freie Theatergruppe die Bibel vorknüpft, verspricht dies einen spannenden Blick auf das meistgelesene Buch der Welt. Bereits zur Weihnachtszeit beschäftigte sich das Frankfurter Theater Willy Praml mit der Figur des Jesus, treffender Weise mit der Geburt. Als zweiter Teil folgte nun ein Blick auf seine letzten Tage auf Erden.
Wer in den letzten Jahren eine Vorstellung des Theater Willy Praml gesehen hat, kennt auch die Spielstätte Naxoshalle im Frankfurter Stadtteil Bornheim, schräg gegenüber dem Künstlerhaus Mousonturm. Es ist ein ganz besonderes Industriedenkmal, die große Halle gleicht einer Kathedrale mit Mittel- und Seitenschiffen. Seit Jahrzehnten brach liegend, wurde dies Juwel für den Theaterbetrieb ausgestattet. Nicht so chic wie das Essener Colosseum, dafür ungemein urban und mit deutlichen Spuren der Vergangenheit. Da es keine Heizung für den riesigen Hauptsaal gibt, wird in den kälteren Monaten am Fuße des Gebäudes, in einem abgegrenzten und beheizbaren Raum gespielt, mit Blick durch schützende Glasscheiben in die Halle hinein.

Am großen Tisch sitzen die Pharisäer, professionelle Schauspieler und engagierte Laien (die mittlerweile fast zum festen Bestandteil des Ensembles des Hauses geworden sind). Vom Kind bis zur älteren Generation, ein bunt gemischte Schaar. Vor jedem von Ihnen ein blutgetränkerter Glasbierkrug. Der Platz in der Mitte ist unbesetzt, ein Stuhl liegt umgedreht oben auf. Wechselnd erzählen Sie aus den Evangelien.

Jesus d´amour, gest./auferst. (Das Evangelium)
Theater Willy Praml
Foto: Seweryn

Der zweite Teil ist zugleich der Höhepunkt und interessanteste Teil des Abends. Alle Besucher verlassen ihren Platz und folgen dem Ensemble in die große Halle, wo in den Seitenschiffen rechts und links jeweils vier kleine Bühnen eingerichtet sind, eine weitere befindet sich am Ende der Halle. In dieser „Straße der Wunder“ zeigt jeweils ein oder zwei Schauspieler ironisch und grotesk ein Wunder Jesu, wie „Die Heiligung des Besessenen von Gerasa“ (Nazir Abdaly), „Die Auferweckung der Tochter des Jairus“ (Emilie Stefaner, Klaus Gößwein) oder „Die Heilung eines besessenen Jungen“ (Irene Buresch, Cüneyt Kayaalp). Daneben aber auch Wunder Jesu in Kurztexten des Satirikers Dario Fo. Zwar kein „verstecktes Theater“, aber Theater abseits der üblichen Bühne. Die einzelnen Szenen dauern nur wenige Minuten, so dass es möglich und erwünscht ist, sich verschiedne Vorführungen anzuschauen, leider reicht es nicht für alle.

In der Halle sind die Stahlträger später grün angeleuchtet und illuminieren so anstelle von Palmzweigen die Ankunft Jesu. Michael Weber schafft es immer wieder aufs Neue ästhetisch bezaubernde Bilder zu gestalten. Die Jünger kommen verschlafen aus allen Ecken nach und nach wieder an den jetzt gedeckten Tisch. Genüsslich wird fett Nutella aufs Brot geschmiert und lustvoll dem Schokohasen der Kopf abgebissen, Cornflakes, Aufschnitt Obst und Gemüse gegessen, die Jünger sind beim letzten Mahl.
Nach der Pause folgt der vierte und letzte Teil, die Passion. Versehen mit „I.N.R.I. –Schild (Jesus Christus König der Juden), Galgenseil, Kreuzigungsmalen und Dornenkranz treten die Jünger stellvertretend für Ihren Herrn auf, eine ungeheuer dichte Szene.

Abgesehen vom zweiten Teil beschränkt Praml das Ensemble auf das Vortragen der Erzählungen aus den Evangelien, was visuell äußerst anmutend umgesetzt wird (Raum & Kostüme: Michael Weber).

Markus Gründig, April 06


Nach den Klippen

Koproduktion Burgtheater Wien & schauspielfrankfurt
Uraufführung, Wien: 21. Januar 05
Premiere Frankfurt: 7. Januar 06
Besuchte Vorstellung: 17. März 06 (Ffm)

Zufälle bestimmen das Leben und auch im Theater. Albert Ostermaier und Andrea Breth trafen nach einer Talkshow in einer Hotelbar aufeinander und aus dieser Begegnung entstand ein enger Kontakt. Er ist einer der wichtigsten Gegenwartsautoren für das Theater, dem vor kurzem Gerhard Stadelmaier (FAZ) anlässlich der Premiere seines Stückes „Trauer muss Elektra tragen“ (Berlin) einen doppelten Theatergottsegen zusprach („für diesmal“). Sie ist gefeierte Regisseurin am Wiener Burgtheater, wo sie sich vor allem mit Inszenierungen von Klassiker einen Namen gemacht hat. Insoweit ist das 2004 entstandene und im Januar 2005 in Wien uraufgeführte „Nach den Klippen“ untypisch für Breth.
Man könnte das aus drei Teilen bestehende Stück als ein choreographiertes Hörspiel bezeichnen, doch ist es mehr ein großer Monolog ohne Punkt und Komma. Ein Monolog einer Frau, die stellvertretend für andere Frauen, die Stimme ergreift, weil es ja sonst immer die Männer sind, die die großen Reden schwingen.
Mit Cicre, der Figur aus der griechischen Mythologie, bei der Odysseus einst für ein Jahr zu Gast war, den es aber dann wieder hinaus in die Welt zog, beginnt das Stück. Die Beine mit einer Decke umhüllt sitzt sie zu Beginn auf einer Bank, mit Blick zur linken Bühnenseite, dem Publikum nicht zugewandt. Sie spricht zu dem einen Mann, der sie verlassen hat und von ihrer unerlösten Liebe zu ihm. Derweil liegt auf der anderen Bühnenseite unter einer Bühnenbodenplatte halb vergraben ein Mann, quasi zum Schweigen gebracht.
In den beiden nachfolgenden Teilen ist Circe Moly (heißt genau so, wie das den Odysseus schützende Heilkraut), ist in der Gegenwart angekommen und beobachtet weiterhin die Männer, analysiert ihr (Geschlechter-) Verhalten, ist Realistin und in ihrer eigenen Welt gefangen.
Elisabeth Orth spielt jene Cice/Moly. Ihr Monolog wird größtenteils eingespielt doch ist die große Dame des Wiener Burgtheaters hier viel mehr als nur ein Statist. Sie bleibt nicht sitzen, sondern wechselt ihre Positionen, ihre Kleidung und die Haare, wird zur coolen Dame wie zur Putzfrau, zum Vamp und zur Intellektuellen. Bezirzt ausdrucksstark mit Gesten, Mimik und wenn sie live spricht, berührend mit ihrer leicht angerauten Stimme.
Von den Männern sind vom besagten Erschlagenen abgesehen, zunächst nur Schuhpaare zu sehen. In eines dieser Schuhpaare steigt zaghaft ein Kraftprotz ein, weitere attraktive Muskelpakete kommen später dazu, ebenso ein dutzend junger Frauen.
Breth lässt sie in kurzen Sequenzen auf die Bühne, manchmal müssen sie innerhalb einer Sekunde ihre Position wechseln, werfen sich kunstvoll über einander, rennen über die Bühne und sind für Minuten Statuen.
Das ganze geschieht mit höchster Präzision und perfektem Timing, mit kurzen Lichtabdunkelungen und Geräusch-/Musik- und Stimmeinspielungen, harte Schnitttechniken wie beim Film.
Äußere Rahmen ist ein öffentlicher Raum, wie die Unterführung zu einer U-Bahnstation, als Bild von Hast, Eile und Oberflächlichkeit. Aber auch als Chance andere Menschen zu treffen. 21 Telefonzellen auf einfachen Sperrholzwänden grenzen die Bühne ein und können als Mahnmale miteinander in Kommunikation zu treten verstanden werden. Martin Zehetgrubers Bühne ergänzt die volle Konzentration verlangenden Ostermaierschen Wortkaskaden, die Breth mit vielen Ideen abwechslungsreich und Publikumsnah umgesetzt hat.

Am Ende ist Moly im Altersheim angekommen, sitzt wieder alleine mit Ihrer Decke da, jetzt mit Blick zum Publikum. Wo kein Gegenüber mehr, bleibt zumindest der Friede der jenseits der Klippen liegenden universellen Weite des Meeres.

Markus Gründig, März 06