Einem trostlosen Lebensende so nah: »Die Perlenfischer« eröffneten die Internationalen Maifestspiele Wiesbaden

Die Perlenfischer ~ Staatstheater Wiesbaden ~ Junge Leïla (Bianca Zueneli), Junger Zurga (Eugene Richards III), Jungr Nadir (Jan Deboom), Zurga (Kartal Karagedik), Nadir (Marc Laho) ~ Foto: Eike Walkenhorst

Bei Kaiserwetter konnten in Wiesbaden die diesjährigen Internationalen Maifestspiele eröffnet werden. Schon vor der Eröffnungspremiere im Großen Haus fanden sich in den Kolonnaden und dem Theatergarten viele Besucher ein. Bei Sekt, Wasser, Brezeln und Popcorn, konnte sich bestens auf die Aufführung eingestimmt werden. Dazu gab es die Möglichkeit, eine Fotowand zu nutzen. Die fröhliche und gelöste Stimmung wurde von einer weiblichen DJ dezent mit Beats unterlegt. Im Foyer des großen Hauses sorgte derweil eine Pianistin für einen stilvollen Rahmen.

Plädoyer für »Die Perlenfischer« von Ministerpräsident Boris Rhein

Bevor sich im ausverkauften Großen Haus der Vorhang hob, begrüßten nach einem kurzen musikalischen Auftakt mit Posaunen und Fanfaren aus einer Proszeniumsloge, die beiden Intendantinnen, Dorothea Hartmann und Beate Heine das Publikum. Sie wurden vom Oberbürgermeister der Stadt Wiesbaden, Gert-Uwe Mende und vom Hessischen Ministerpräsidenten, Boris Rhein, begleitet.

Die Festspiele bringen Glanz und Glamour nach Wiesbaden, vor allem aber bauen sie Brücken. Beteiligte Compagnien kommen aus ganz Europa, aus Südafrika und Australien. Dabei öffnen sich die Festspiele auch erstmal der Stadt mit einem kostenlosen Programm außerhalb. Ermöglicht werden die Festspiele nicht zuletzt durch den Freundeskreis der Festspiele und durch die Unterstützung der Stadt Wiesbaden.

Boris Rhein legte ein leidenschaftliches Plädoyer für Die Perlenfischer ein. Ein bedeutender deutscher Intendant habe einst irritiert auf seine Frage reagiert, ob er nicht einmal diese Oper inszenieren würde. Er soll mit einer Gegenfrage geantwortet haben: Wer will den diese heute noch sehen? Nun, Boris Rhein auf jeden Fall. Er schenkte vor wenigen Jahren seiner Frau eine Perlenfischer-Aufführung an der Oper Graz, die dann aber durch Corona entfiel. So ist diese Eröffnungspremiere für ihn eine willkommene Sache.

Typische Oper des Exotismus des 19. Jahrhunderts

Der Komponist von Die Perlenfischer, Georges Bizet, erschuf mit seiner 12 Jahre später komponierten Oper Carmen einen Hit, der noch heute weltweit gespielt wird. Diesbezüglich steht es um Die Perlenfischer schlechter. Sein erstes bedeutendes Bühnenwerk hat mit einer an schönen musikalischen Motiven reichen Partitur durchaus viel Potential. Allerdings zeigt das Libretto deutlich, dass sie eine typische Oper des Exotismus des 19. Jahrhunderts ist. Die Dreiecksgeschichte mit dem Motiv der „Heiligen Jungfrau“ spielt „in alten Zeiten“ auf Ceylon, dem heutigen Sri Lanka und ist nur bedingt in die Gegenwart zu transferieren.

Ein in die Jahre gekommenes Altersheim mit Leichenkühlanlage

Das belgische Theaterkollektiv FC Bergman (Stef Aerts, Joé Agemans, Thomas Verstraeten und Marie Vinck) hat die Oper im Jahr 2018 erarbeitet, als Koproduktion von Opera Ballet Vlaanderen, Opéra National de Lille und Les Théâtres de la Ville de Luxembourg. Die erstmals in Antwerpen gezeigte Produktion wurde von den internationalen Maifestspielen Wiesbaden übernommen.

Die Perlenfischer
Staatstheater Wiesbaden
Leïla (Elena Tsallagova) und Chor
Foto: Eike Walkenhorst

Den zeitlichen Rahmen in der Geschichte vergrößerte FC Bergmann enorm. Handlungsort ist bei ihnen ein Speisesaal eines in die Jahre gekommenes Altersheim einfacher Art. Kahle Wände, kalte Beleuchtung durch Straßenlampen, einfache Tische und Stühle prägen den Aufenthaltsort, in dem die Bewohner scheinbar dahinvegetieren. Das Leben scheint vorbei zu sein. Sie trotzen dem Tod, so lange sie es eben können. Die Zeit steht still, sie zeigt stets fünf vor Zwölf an. Das Pflegepersonal arbeitet sachlich, aber ohne größere Anteilnahme. Gleich zu Beginn gibt es zwei Sterbefälle. Der Rest der Bewohner scheint nur noch auf den Tod zu warten. In einem desolaten, fensterlosen Sterbezimmer hängen aufgerissene Tapeten von den Wänden herab. Wie praktisch, dass sich im Nebenraum gleich eine große Leichenkühlanlage befindet (was fehlt, ist eigentlich nur noch eine Inkontinenz-Beduftung). Von diesem deprimierenden Ort gibt es einen spektakulären Ausblick ins Freie, auf eine riesige Welle, die kurz davor ist, sich am Strand zu überschlagen.

Junge alter Egos, Verjüngerung und Vervielfältigungen

Die drei Akte werden nahtlos hintereinander gespielt, ohne Pause. Innen- und Außenbilder wechseln durch Einsatz der Drehbühne. Das Thema der Erinnerung, an vergangene Zeiten, an gemeinsam Erlebtes, ist omnipräsent. So sind die jungen alter Egos der drei Hauptprotagonist:innen am Strand zu erleben, teils wie als im Wind stehende Statue, teils als Liebespaar, nackt am Strand tollend (Bianca Zueneli und Jan Deboom). Durch ihre Erinnerung wird die greise Leila wieder jung. Der ins Gewissen redende Nurabad (eindringlich: der amerikanische Bariton Eugene Richards III, auch junger Zurga) erscheint als zu einer großen Gruppe massenhaft vervielfältigt.

Die Perlenfischer
Staatstheater Wiesbaden
Nadir (Marc Laho), Zurga (Kartal Karagedik)
Foto: Eike Walkenhorst

Große Stimmen des französischen Fachs & tolle Chorleistung

Wie Carmen, ist auch die Oper Die Perlenfischer im Original auf französische Sprache (Les pêcheurs de perles). Als ein Highlight der Internationalen Maifestspiele Wiesbaden gastieren hierfür Sänger:innen, die bereits bei vorherigen Aufführungen dieser Produktion mitwirkten. Die russische Sopranistin Elena Tsallagova zeigt sich als Leila (die einzige Frauenpartie) sehr wandelbar. Anfangs ganz auf alt getrimmt, wird sie im Rollstuhl sitzend und verschleiert auf einer Bahre in das Altersheim getragen. Später gibt sie sich mit jugendlichem, verführerischem Charme. Sie begeistert das Publikum mit ihren höhensicheren Koloraturen und ihrer lyrischen Emphase.

Die über all die Jahre in sie verliebten Freunde Nadir und Zurga bleiben hingegen im Seniorenstatus. Der belgische Tenor Marc Laho (Nadir) nimmt mit zartem Schmelz für sich ein. Der türkische Bariton Kartal Karagedik (Zurga) mit noblem Wohlklang.

Der Chor des Hessischgen Staatstheaters Wiesbaden steigert sich im Laufe der Aufführung immer mehr (Einstudierung: Albert Horne, beim Schlussapplaus von Holger Reinhardt vertreten). Die farbenreichen Situationsschilderungen Bizets lässt Gastdirigent Chin-Chao Lin vom Hessischen Staatsorchester Wiesbaden energievoll spielen. Es weiß aber auch mit den zarten, lyrischen Momenten zu überzeugen.

Das Leben auskosten, so lange es geht

Wer regelmäßig in Alten- und Pflegeheimen ist, kennt die oftmals verhaltene Stimmung. Die Möglichkeiten der Bewohner werden allein durch körperliche und geistige Einschränkungen immer weniger. Das ist normal, auch wenn man es nicht wahrhaben oder sehen will. Insoweit ist diese Inszenierung auch ein Aufruf für das Leben, die vielen Möglichkeiten stets auszukosten (und ein Plädoyer für Freundschaft und Liebe).

Markus Gründig, Mai 25


Die Perlenfischer

(Les pêcheurs de perles)

Oper in drei Akten
Von: Georges Bizet (1838 – 1875)
Libretto: Michèle Carré und Eugène Cormon
Uraufführung: 30. September 1863 (Paris, Théâtre Lyrique)

Premiere in Amsterdam: 18. Dezember 18 (Opera Ballet Vlaanderen)
Premiere am Staatstheater Wiesbaden: 1. Mai 25 (Großes Haus; Eröffnungspremiere der Internationalen Maifestspiele)
Eine Koproduktion von Opera Ballet Vlaanderen, Opéra National de Lille und Les Théâtres de la Ville de Luxembourg

Musikalische Leitung: Chin-Chao Lin
Inszenierung, Bühne & Lichtdesign: FC Bergman
Kostüme: Judith van Herck
Licht: Joé Agemans/Oliver Porst
Chor: Albert Horne
Stellvertretende Chorleitung: Holger Reinhardt
Regieeinstudierung: Fanny Gilbert-Collet
Dramaturgie: Hanna Kneißler/Luc Joosten
Vermittlung: Oliver Riedmüller
Regieassistenz: Kilian Bohnensack
Regiehospitanz: Loïs Heirman
Musikalische Assistenz: Holger Reinhardt
Musikalische Einstudierung: Adam Rogala/Tim Hawken
Kostümassistenz: Kim Zartin

Besetzung:

Leïla: Elena Tsallagova
Nadir: Marc Laho
Zurga: Kartal Karagedik
Nurabad | Junger Zurga: Eugene Richards III
Junge Leïla: Bianca Zueneli
Junger Nadir: Jan Deboom
Restaurator: Patrick Vermeulen

Chor: Chor des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Orchester: Hessisches Staatsorchester Wiesbaden


Trailer auf YouTube: youtu.be

staatstheater-wiesbaden.de