

Vor einem Jahr starb der 1936 in Berlin geborene Komponist, Musikwissenschaftler und Pianist Aribert Reimann ebenda. Neben umfangreicher Vokal- und Kammermusik, sowie zahlreichen Orchesterwerken komponierte er auch elf Opern. Viele davon fanden internationale Beachtung. Zu den bekanntesten zählen Lear und Medea. Seine letzte abgeschlossene Oper ist L’invisible (Der Unsichtbare). Die Uraufführung fand im Oktober 2017 an der Deutschen Oper Berlin statt. Zum damaligen Zeitpunkt war er 81 Jahre alt.
Die Erstinszenierung von L’invisible an der Oper Frankfurt erfolgt in Gedenken an ihn, „der unserem Haus bis zuletzt als Künstler und Freund verbunden war“ (Programmheft).
Panorama der menschlichen Endlichkeit
Dem von Reimann selbst erstellten Libretto liegen drei Erzählungen und Gedichte des belgischen Schriftstellers und repräsentativen Dramatiker des Symbolismus, Maurice Maeterlinck (1862 – 1949), zugrunde. Sie verbindet ein „Panorama der menschlichen Endlichkeit“ (Maximilian Enderle): der Tod. Allein durch die Nachrichten werden wir täglich mit ihm konfrontiert, doch meistens bleibt er dabei abstrakt und fern.

Oper Frankfurt
v.l.n.r. Ursule (Irina Simmes), Der Onkel (Gerard Schneider), Der Großvater (Erik van Heyningen), Ursules Schwestern (Statisterie der Oper Frankfurt; in die Mitte genommen), sowie Der Vater (Sebastian Geyer)
© Monika Rittershaus
Ganz anders in L’invisible. Die Kurzgeschichten schildern Geschichten in denen der Tod die Hauptrolle spielt, ohne selbst zu erscheinen. Er bleibt unsichtbar. Sei es bei einem Familienessen, an deren Ende eine junge Mutter stirbt (L’intruse; Der Eindringling), nach dem Selbstmord einer Frau, und den Problemen, es ihrer Familie mitzuteilen (Intérieur / das Innere) und schließlich bei der Ermordung eines Jungen zur Wahrung von Machtansprüchen (La mort de Tintagiles / Der Tod des Tintagiles).
Die ersten beiden Stücke dauern rund 20 Minuten, das Dritte rund 40 Minuten, hinzu kommen drei Zwischenspiele (Interludes). Der Abend hat eine Spiellänge von nur 90 Minuten und wird ohne Pause gegeben.
Intime Klangwelten
Anders als in Lear, verzichtete Reimann bei L’invisible auf gewaltige orchestrale Cluster-Ausbrüche und losen Bezügen zum Free-Jazz. Die Trilogie lyrique besticht durch eine intensive Klangverfeinerung. Dabei hat jedes Stück eine eigene Orchestersprache.
Das erste beginnt mit harten Schlägen und kurzen dunklen Sequenzen der Streicher. Drohendes Unheil liegt von Anfang an in der Luft. Im zweiten Stück steht ein Holzbläserenesmble im musikalischen Mittelpunkt, zwischen kammermusikalischer Intimität und schmerzhaften Ausbrüchen chargierend. Im großen dritten Stück sind die Gesangspartien größer und der gesamte Orchesterapparat kommt, z. T. auch tobend, zum Einsatz.

Oper Frankfurt
Die Tote im Wasser (Statisterie der Oper Frankfurt; vorne) sowie dahinter v.l.n.r. Drei Dienerinnen der Königin (Dmitry Egorov, Iurii Iushkevich und Tobias Hechler)
© Monika Rittershaus
Gastdirigent Titus Engel ist ein Spezialist für Alte Musik und für Neue Musik (an der Oper leitete er u. a. Orpheus oder Die wunderbare Beständigkeit der Liebe und Maskerade. Unter seiner Leitung spielt das Frankfurter Opern – und Museumsorchester die feinen Schattierungen und die inneren Kämpfe der Figuren subtil heraus.
Verbundenheit
Zwischen den Stücken gibt es verschiedene Verbindungen. So sind die unterschiedlichen Figuren der drei Stücke mit den gleichen Sänger:innen besetzt. Die Wechsel erfolgen teilweise offensichtlich (durch ein Abstreifen von Kleiderteilen). Zusätzlich wurde die Figur des Jungen Tintagiles aus La mort de Tintagiles erweitert (alternierend: Johann Böhme / Victor Böhme). Noch bevor der erste Ton gespielt wird, steht er in der Bühnenmitte, die zu diesem Zeitpunkt noch ganz leer ist. Langsam tritt er nach vorne. Er zieht seine Jacke aus, formt daraus ein Bündel und legt es in eine Wiege, die inzwischen auf die Bühne geschoben wurde. Sodann ist er Teil der Familie. Im zweiten Stück weilt er unter den Picknickenden. Relativ viel zu sprechen (auf Französisch!) hat er dann als Hauptfigur in La mort de Tintagiles. Die Figuren-Erweiterung kann auch als Verweis auf den Komponisten gesehen werden, der die Oper seinem 1945 im Alter von nur 12 Jahren verstorbenen Bruder Dietrich gewidmet hat.
Sinnliche Umsetzung
Mit dieser Inszenierung gibt Regisseurin Daniela Löffner nicht nur ihr Debüt an der Oper Frankfurt, sondern überhaupt als Opernregisseurin. Seit 2017 ist sie Hausregisseurin am Staatsschauspiel Dresden. Am Schauspiel Frankfurt inszenierte sie in 2010 Bleib mein schlagendes Herz.

Oper Frankfurt
v.l.n.r. Ygraine (Irina Simmes), Tintagiles (Victor Böhme), Bellangère (Karolina Makuła) und Aglovale (Erik van Heyningen)
© Monika Rittershaus
In Zusammenspiel mit einem spektakulären Bühnenbild von Fabian Wendling sorgt sie für einen ergreifenden Abend, der in Erinnerung bleibt. Ähnlich wie die Musik ist der Anfang dezent und zurückhaltend gestaltet. Drohendes Unheil wird bald sichtbar, die Spannung steigert sich ständig. Gleichzeitig wird deutlich, dass es nicht um die großen Effekte an sich geht, sondern um Sinnlichkeit, um die Vermittlung eines Gefühls vom Sterben, vom Tod. Wann beginn er? Bereits dann, wenn eine Krankenschwester ein Mittel spritzt, wenn dem Tod billigend entgegen gegangen wird oder wenn er brutal als Mord ausgeführt wird?
Metaphysisch anmutendes Bühnenbild
Beschränkt sich das Interieur anfangs noch auf eine große Tafel mit Kerzenleuchtern und Stühlen, senken sich beim Übergang zu Intérieur vier begrünte Inseln vom Schnürboden herab. Zusammen mit der Musik Reinmanns ist dies ein metaphysischer Moment. Das Besondere an Ihnen ist, ihr langes und umfangreiches Wurzelwerk. Es sieht wie eine undurchsichtige und undurchdringliche düstere Masse aus. Die Vorstellung einmal unter der Erde zu liegen, wird hier lebendig. In die Fertigung dieser Inseln hat die Bühnenwerkstatt enorm viel Arbeit hineingesteckt (Reels auf den Social Media Kanälen und auf dem YouTube-Kanal der Oper Frankfurt zeigen die Anfertigung anschaulich).
Artifiziell anmutender Gesang
Um Sorgen und Ängste auszudrücken, fand Aribert Reimann ein faszinierendes Geflecht an artifiziell anmutenden Tönen. Gesanglich besonders anspruchsvoll ist die Partie der Ygraine in La mort de Tintagiles. Sopranistin Irina Simmes ( auch Ursule und Marie) meistert sie mit scheinbarer Leichtigkeit. Souverän gibt Tenor Erik van Heyningen den Großvater, den Alten und Aglovale. Karolina Makuła kann insbesondere als Bellangère überzeugen. Dazu in weiteren Rollen u. a. : Sebastian Geyer, Cláudia Ribas und Gerard Schneider. Besondere Effkte setzen die drei Dienerinnen der Königin (in La mort de Tintagiles). Die drei Countertenöre (Iurii Iushkevich / Tobias Hechler / Dmitry Egorov) gestalten, begleitet von Harfen, auch die Inteludes und untermauern dabei die unheimliche Atmosphäre.
Am Ende intensiver Beifall für diese bildstarke und fesselnde Umsetzung.
Markus Gründig, April 25
L’invisible
Trilogie lyrique
Von: Aribert Reimann (1936 – 2024)
Textfassung vom Komponisten nach Maurice Maeterlinck
Auftragswerk der Deutschen Oper Berlin, gefördert mit Mitteln der Ernst von Siemens Musikstiftung
Uraufführung: 8. Oktober 2017 (Berlin, Deutsche Oper)
Premiere / Frankfurter Erstaufführung: 30. März 25 (Opernhaus)
Besuchte Vorstellung: 5. April 25
Musikalische Leitung: Titus Engel
Inszenierung: Daniela Löffner
Bühnenbild: Fabian Wendling
Kostüme: Daniela Selig
Licht: Joachim Klein
Dramaturgie: Maximilian Enderle
Besetzung:
L’intruse
Großvater: Erik van Heyningen
Vater: Sebastian Geyer
Der Onkel: Gerard Schneider
Ursule: Irina Simmes
Ihre zwei Schwestern: Kaya Draganovic / Greta Simon / Katharina Schüller / Clémentine Brodach
Die Dienerin: Cláudia Ribas
Die Mutter: Viola Pobitschka
Die Krankenschwester: Karolina Makuła
Kind: Johann Böhme / Victor Böhme
Intérieur
Der Alte: Erik van Heyningen
Der Fremde: Gerard Schneider
Marthe: Karolina Makuła
Marie: Irina Simmes
Der Vater: Sebastian Geyer
Die Mutter: Viola Pobitschka
Die Tote im Wasser: Kaya Draganovic / Katharina Schüller
Ihre Schwester: Greta Simon / Clémentine Brodach
Ihr Bruder: Johann Böhme / Victor Böhme
La mort de Tintagiles
Ygraine: Irina Simmes
Bellangère: Karolina Makuła
Aglovale: Erik van Heyningen
Drei Dienerinnen der Königin: Iurii Iushkevich / Tobias Hechler / Dmitry Egorov
Tintagiles: Johann Böhme / Victor Böhme
Frankfurter Opern- und Museumsorchester