- Patrik Ringborg: „Alles wunderbar“
- Orchesterkonzert am 27.Juli: Drei Chöre, ein gewaltiges Werk
- Sag mal, Elim Chan…
Patrik Ringborg: „Alles wunderbar“
Patrik Ringborg, schwedischer Dirigent, hat doppelt Premiere. Er leitet zum ersten Mal ein Spiel auf dem See und die Wiener Symphoniker. Er findet Qualität und Arbeitsatmosphäre in Bregenz „wunderbar“.
Der Probenmarathon der letzten vier Wochen ist geschafft, die Premiere zur zweiten Saison von „Der Freischütz“ steht unmittelbar vor der Tür. Patrik Ringborg, international tätiger schwedischer Dirigent, sieht ihr mit freudiger Spannung entgegen.
Für den viel beschäftigten, mit zahlreichen Preisen honorierten Künstler ist die Premiere des Freischütz eine mehrfache: Er arbeitet zum ersten Mal für die Bregenzer Festspiele, das Spiel auf dem See ist für ihn eine neue Erfahrung und ebenso die Zusammenarbeit mit den Wiener Symphonikern. Müsste er die letzten vier Wochen mit einem Wort umschreiben, würde es wohl „wunderbar“ lauten. „Ganz wunderbar“ seien die Proben verlaufen, die Symphoniker sind für Ringborg ein „gut gelauntes professionelles Toporchester“, Philipp Stölzl habe eine sehr besondere Produktion geschaffen. Für den Dirigenten ist der Bregenzer Freischütz „ein Gesamtkunstwerk – fantastisch, filmisch, spannend“.
Beeindruckt ist Patrik Ringborg vom Arbeitsklima bei den Bregenzer Festspielen. Hohe Qualität habe er andernorts auch erlebt, aber die Kombination aus Qualität und Teamgeist, die sei eine ganz seltene: „Die gute Stimmung, das schöne Miteinander von Tontechnik, Bühnentechnik, Chor, Solisten, Stuntmen und Orchester – das ist besonders. Fast wie im Sommercamp.“ Nein, Urlaubsstimmung komme nicht wirklich auf, schließlich probe man bis Mitternacht und am nächsten Vormittag gehe es dann weiter, sagt Ringborg lachend. Und noch etwas sei wunderbar: Das Wiedersehen mit Intendantin Lilli Paasikivi und dem neuen Leiter des künstlerischen Betriebsbüros, Jaakko Kortekangas: „Wir haben vor über 30 Jahren miteinander gearbeitet, jetzt trifft man sich wieder.“
Eine neue Herausforderung ist für den musikalischen Leiter die Arbeit abseits von Bühne und Orchestergraben. Denn beim Spiel auf dem See sind Bühne und Orchester räumlich getrennt, die Musiker:innen befinden sich im Festspielhaus. Das eigens für die Seebühne geschaffene Tonsystem BOA Bregenz Open Acoustic sorgt dafür, dass sich die Orchesterklänge mit den Stimmen der Solistinnen und Solisten vereinen. Monitore verbinden Orchester und Bühne und machen die Musiker:innen auch für das Publikum sichtbar.
Ziel der Bregenzer Tontechniker:innen war und ist, den Klangraum des Festspielhauses akustisch nachzubauen. Was 90 Mikrofone im Saal aufnehmen, wird über rund 400 Lautsprecher auf, hinter, neben der Bühne und Tribüne wiedergegeben. Zehn Tontechniker:innen sind bei jeder Aufführung anwesend, arbeiten mit Hochleistungsrechnern und sorgen dafür, das perfekt abgemischt und gesteuert wird. Das Publikum soll trotz großer Entfernung zur Bühne und den einzelnen Solist:innen deren Position und Bewegungen und auch die zahlreichen anderen Schallquellen Effekte genau wahrnehmen können. Eine Klanghülle wie in einem Konzerthaus wird geschaffen.
„Das Leise und Laute sollte der Dirigent regeln”
Patrik Ringborg sieht Parallelen zum Spiel in großen Konzerthäusern mit ihren sehr spezifischen Bauweisen und Ausstattungen: „Es ist erstaunlich, wie Tonanlage und Beschaffenheit der Tribüne Anpassung beim Spiel erfordern. Genauso wie man in unterschiedlichen Opernhäusern unterschiedlich spielt.“ Die Tonanlage biete extreme Möglichkeiten in der Qualität und Variation, erfordere aber auch Anpassung.
So echt wie möglich solle das Spiel klingen, sagt Ringborg. Dazu müsse die akustische Spannweite möglichst groß sein: „Was wir unheimlich leise spielen, soll auch als unheimlich leise wahrgenommen werden. Denn laute Stellen werden erst spannend, wenn es auch mal richtig leise sein darf. Daran arbeiten wir.“ Natürlich könnte man die Lautstärke auch mit der Tonanlage regeln. „Klar, mit über 400 Lautsprechern wäre die Technik übermächtig. Man könnte das Orchester laut oder leise regeln, sogar ganz wegschalten. Aber ich finde das Leise und Laute sollte der Dirigent regeln. Ich arbeite seit 35 Jahren daran, Orchester, Sänger und Sängerinnen auszubalancieren. Das mache ich auch gerne hier.“
Viel zu diskutieren gäbe es zwischen Dirigent und Tontechnik, „und noch viel mehr gute Zusammenarbeit“. Auf diese baut der musikalische Leiter bei jeder Aufführung. Denn jeder Abend sei anders. „Da kommt Wind und bläst den Ton weg. Oder es regnet und 7000 Regenponchos werden übergezogen. Das wird dann laut. Die Technik muss darauf reagieren, jeden Abend anders.“
Aber gerade Der Freischütz profitiere durch das Spiel mit und in der Natur, sagt Ringborg: „Wenn die Ouvertüre erklingt und man über den See guckt, die Sonne untergehen sieht oder Wald und Berge – besser kann die Stimmung für den Freischütz nicht sein.“
Orchesterkonzert am 27.Juli: Drei Chöre, ein gewaltiges Werk
Das archaische Chor-Orchester-Werk Kullervo von Jean Sibelius bildet das Herzstück des Orchesterkonzerts vom 27.Juli unter der Leitung von Jukka-Pekka Saraste. Zwei Tage zuvor tritt der YL Male Voice Choir mit einem großenteils finnischen Programm auf.
Jean Sibelius ist ein Denkmal – ein Komponist, dessen Werke man kennt, und der, wie niemand sonst, für seine Heimat steht: für Finnland. Seine herausragende Position besetzt er zu Recht, doch haben solche Denkmäler auch den Nachteil, dass sie Andere verdecken.

(© Bregenzer Festspiele / Eva Cerv)
„Das ist auch bei anderen großen Komponisten so, dass sie viele Zeitgenossen vergessen machen“, sagt Jaakko Kortekangas, Leiter des künstlerischen Betriebsbüros der Bregenzer Festspiele. „Im Falle von Jean Sibelius kommt hinzu, dass seine Bedeutung über das Musikalische hinausgeht.“
Nichts zeigt das so deutlich wie jenes große Werk, das bei uns selten gespielt wird, und das am 27.Juli im Orchesterkonzert der Wiener Symphoniker erklingen wird. Jukka-Pekka Saraste wird die Chor-Orchester-Sinfonie Kullervo dirigieren, mit der der 27-jährige Komponist 1892 die große Bühne seines Landes betritt: „eine Schöpfung aus dem Nichts, ein halsbrecherischer Sprung in die Zukunft fast ohnegleichen“, wie der Sibelius-Biograph Volker Tarnow schreibt.
Nicht nur ein groß besetztes Orchester wird da zu hören sein in einem siebzig Minuten dauernden Werk, das kraftvoll-rhythmischen Verse mit einer archaisch geformten Musik verbindet. Beteiligt sein werden auch zwei Solisten – die Sopranistin Marjukka Tepponen und der Bariton Ville Rusanen – und nicht weniger als drei Chöre: die Männerstimmen des Bregenzer Festspielchors und des Prager Philharmonischen Chors, und schließlich der 1883 an der Universität Helsinki begründete YL Male Voice Choir.
Ein Werk zwischen Mythos, Sprache und Selbstvergewisserung
Kullervo ist ebenso musikalisches wie politisches Statement zu einer Zeit, da sich die finnische Identität erst langsam herauszubilden beginnt. Fünf Jahrhunderte lang hat Schweden das Land beherrscht, dann, 1809, öffnet Schwedens Niederlage gegen Russland das Tor für eine kulturelle Selbstbesinnung, die dann, 1917, auch in die Unabhängigkeit des Landes mündet.
Stück um Stück verdrängt das Finnische das vorher tonangebende Schwedische, mit dem auch der 1865 geborene Jean Sibelius noch aufwächst. Erst in der Familie Järnefelt lernt der Musikstudent dann jenen finnischen Nationalstolz kennen, der sich so langsam auch in der Bildungsschicht breit macht. Und er lernt dort auch Aino kennen, die seine Frau fürs Leben werden und sechs Kinder zur Welt bringen wird.
Jetzt findet er zu seinem Stil. Und zu seinem ersten großen Thema. Es sind die alten, vom Sprachforscher Elias Lönnrot in den 1830er-Jahren gesammelten und zum Kalevala-Epos geformten, von den Stämmen Kareliens im Norden und Nordosten Finnlands mündlich weitergegebenen Gesänge und Legenden, die den jungen Komponisten fesseln.
Dort findet sich in den Gesängen 31 bis 36 auch die Geschichte des unglücklichen Viehhüters Kullervo, der auf der Landstraße einer Frau begegnet, die er verführt. Als sie erfährt, dass sie seine Schwester ist, ertränkt sie sich im Fluss. Er aber stürzt sich in sein Schwert. „In seinem Leben geht alles schief“, sagt Jaakko Kortenangas, „so etwas lieben die Finnen. „Das Dunkle, Melancholische gehört zu diesem Land im hohen Norden, das unterstreicht auch Pasi Hyökki, Leiter des YL Male Voice Choir. „Wir haben lange, dunkle Winter, deshalb mögen die Finnen traurige Geschichten so sehr.“
„Kullervo ist eine neue Erfahrung für uns“
Unheilvoll wabern Streicherfiguren, gewaltig schmettert das Blech, ungewöhnliche Tonarten und ein ungewöhnlicher Rhythmus wecken jene Stimmung, die dann in den vorwärtstreibenden Versen des Chors zum Ausdruck kommt. „Kullervo, das ist Kalevala pur“, sagt Jaakko Kortekangas. „Deshalb wird es von finnischen und estnischen Dirigenten auch in der ganzen Welt gespielt. Ich selber habe es mit dem YL Male Voice Choir in Singapur gesungen.“
Die Chorleiter freuen sich auf das Kullervo-Abenteuer. „Es ist großartig, dass dieses bei uns wenig bekannte Werk für die Bregenzer Festspiele programmiert wurde», sagt Benjamin Lack, Leiter des Bregenzer Festspielchors. «Der Männerchor wird über weite Strecken unisono geführt, er tritt kraftvoll und deklamierend auf. Und: Die Sprache passt wahnsinnig gut auf die Musik.“ „Kullervo ist eine neue Erfahrung für uns“, erklärt auch Lukáš Kozubik vom Prager Philharmonischen Chor. „Sibelius’ dramatische und kraftvolle Musik ist eng verknüpft mit einer Sprache, deren Schönheit ich durch die Arbeit an Kullervo kennen gelernt habe.“
Pasi Hyökki kann das nur bestätigen. Mit dem YL Male Voice Choir dirigiert er den ältesten Männerchor Finnlands, der sich auch heute weder über Nachwuchs noch über Popularität zu beklagen hat. „Wir waren der erste Chor, der Konzerte nur auf Finnisch gegeben hat“, sagt er, „viele Chorwerke von Sibelius sind von uns in Auftrag gegeben worden.“ Die Weihnachtskonzerte des Chors seien extrem populär, er unternehme viele Tourneen – in Finnland selbst, aber auch immer wieder ins Ausland. Oft mit dabei ist Kullervo als ein wuchtiger Türöffner in die finnische Kultur.
Doch damit das Denkmal Sibelius nicht allzu einsam in der Landschaft steht, gibt der YL Male Voice Choir in Bregenz noch ein zweites Konzert: Unter dem Titel Waldeinsamkeit gastiert er am 25.Juli in der Pfarrkirche Herz Jesu mit einem A-cappella-Programm, das zwar mit Sibelius startet, dann aber Werke anderer, weit weniger bekannten Romantiker wie Toivo Kuula oder Leevi Madetoja zu Gehör bringt und in einer weiteren Etappe in unsere Zeit vorstößt, zu Juuso Vanonen, Mikko Sidoroff, der aus der Ukraine stammenden Galina Grigorjeva und dem etwas älteren Einojuhani Rautavaara. Da zeigt sich dann: Finnlands musikalische Kultur ist so weitläufig und reich wie das Land selbst.
Mehr über Sibelius’ „nullte“ Symphonie“: bregenzerfestspiele.com.
Sag mal, Elim Chan…
Boxen, Sherlock Holmes und fliegen können
Von Hongkong aus eroberte die Dirigentin Elim Chan die großen Bühnen der Welt und ist heute bekannt für ihre klare, expressive Gestik und beeindruckende Klangführung. Mit einem französischen Konzertprogramm, das sich Werken der Umbruchszeit um 1900 widmet, gibt sie in diesem Sommer ihr Debüt bei den Bregenzer Festspielen.
Was ist deine Lieblingsbeschäftigung?
Abgesehen vom Dirigieren liebe ich Sport, vor allem Boxen. Das hält mich fit und macht meinen Kopf frei.
Wie sieht für dich ein perfekter Tag aus?
Voller Dankbarkeit dafür aufzuwachen, dass ich am Leben bin, eine wunderbare Tasse Kaffee trinken, ins Fitnessstudio gehen, einen schönen Spaziergang machen, ein köstliches Mittagessen zu mir nehmen und dankbar dafür sein, dass ich ein Dach über dem Kopf habe, dass ich zu essen habe und dass ich eine wunderbare Familie und tolle Freund:innen habe.
Was ist einer deiner stärksten Charakterzüge?
Ich bin sehr aufgeschlossen, neugierig und abenteuerlustig.
Wer ist dein:e Held:in der Kindheit?
Als Achtjährige in der Grundschule habe ich gesehen, wie Frau Wing-sie Yip ein Konzert mit Sätzen aus allen möglichen Musikstücken von Tschaikowsky über Strawinsky bis zu Holst und vielen anderen dirigiert hat. Und plötzlich hatte ich das Gefühl, dass auch ich mir das erlauben durfte. Sie wurde für mich zu einem Symbol dafür, mir den Traum zuzugestehen, Dirigentin zu werden, und auf dieses Ziel hinzuarbeiten.
Was ist deine größte Schwäche?
Schokolade!
Was inspiriert dich am meisten?
Die nächste Partitur, die ich in die Hand nehme.
Welche Fehler entschuldigst du am ehesten?
Wir sind alle nur Menschen und jede:r kann einen Fehler machen. Ich bin loyal und großzügig und das kommt in solchen Situationen zum Vorschein.
Wenn du in eine andere Zeit reisen könntest, wohin würde es gehen?
Ich würde in der Zeit zurückgehen und die französische Komponistin Mel Bonis (1858-1937) treffen, um mit ihr über die Realität der Frauen zu sprechen, die damals versuchten, kreativ zu leben, sei es als Komponistin, Musikerin, Künstlerin, Dichterin oder Schriftstellerin: um zu sehen, was sich seither verändert hat.
Welches Talent würdest du gerne haben?
Ich würde gerne wie ein Vogel fliegen können – das wäre großartig!
Was ist dein Motto?
Bleib dir selbst und der Musik treu.
Wann bist du vollkommen du selbst?
In dem Moment in dem ich auf das Podium steige.
Was schätzt du bei deinen Freund:innen am meisten?
Ich glaube, dass wahre Freund:innen einem immer die Wahrheit sagen und auch in schweren Zeiten zu einem stehen.
Welchen Rat würdest du deinem jüngeren Ich geben?
Verschwende keine Zeit.
Welche Person (tot oder lebendig) würdest du gerne auf einen Kaffee treffen?
Ich würde mich sehr gerne noch einmal mit meinem geschätzten Mentor, Maestro Bernard Haitink, zusammensetzen.
Gibt es einen Traum, den du dir unbedingt noch erfüllen möchtest?
Eine Ausbildung zur Detektivin – wie Sherlock Holmes.
Was denkst du in den ersten paar Sekunden auf der Bühne?
Das gibt mir immer viel Energie und ich atme tief ein.
Welche:n Komponist:in findest du am schwierigsten zum Dirigieren?
Niemand und alle. Jede:r verdient eine ganz eigene Aufmerksamkeit –und ich bin immer für eine Herausforderung zu haben.
Welches Orchester würdest du eines Tages gerne einmal dirigieren?
Eines, das es noch nicht gibt – mein eigenes, handverlesenes Orchester, das aus gleichgesinnten Musiker:innen besteht.
Was ist das Beste daran, Dirigentin zu sein?
Jeder einzelne Aspekt davon ist das Beste. Ich kann mit anderen Menschen und auch an mir selbst arbeiten. Ich lerne ständig dazu und wachse in dieser Rolle. Dirigieren ist eine große Verantwortung und gleichzeitig ist es ein großes Geschenk. Ich liebe, was ich tue.
Wie reagierst du, wenn du mit Gechlechter-Stereotypen des Dirigierens konfrontiert wirst?
Erwartungen hinterfragen, Denkmuster aufbrechen und Barrieren überwinden – keine Alibi-Aktionen mehr!
In diesem Fragebogen verraten Menschen der Bregenzer Festspiele allwöchentlich Gedanken rund ums Leben – und sich selbst.
Mehr über legendäre Frauen bei den Bregenzer Festspielen: bregenzerfestspiele.com
Die Bregenzer Festspiele 2025 finden von 16. Juli bis 17. August statt.
Tickets und Infos unter bregenzerfestspiele.com und Telefon 0043 5574 4076.
