kulturfreak.de Besprechungsarchiv Oper, Teil 8

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Offene Wunden

Oper Frankfurt im Bockenheimer Depot
Besuchte Vorstellung:
28. Juni 10 (Premiere)


Die Gemeinschaftsproduktion „Offene Wunden“ von Ensemble Modern, dem Kurt Weill Fest Dessau /Anhaltisches Theater Dessau, der MusikTriennale Köln und der Oper Frankfurt wurde im Februar in Dessau uraufgeführt. Zum Abschluss der Spielzeit 2009/10 fand jetzt die Frankfurter Erstaufführung im Bockenheimer Depot statt. “Offene Wunden“ ist ein Abend des Ensemble Modern mit zwei Songspielen: Kurt Weills „Mahagonny“ und Helmut Oehrings „Die WUNDE Hein“. Beiden ist gemein, dass sie Auftragskompositionen sind (wobei zwischen den jeweiligen Uraufführungen 83 Jahre liegen).

Weills „Mahagonny. Ein Songspiel“ war das erste Produkt der Zusammenarbeit von Weill mit Brecht. Weill folgte damit dem Wunsch der Deutschen Kammermusik Baden-Baden (dem ältesten und traditionsreichsten Festival für Neue Musik; heute: „Donaueschinger Musiktage“), für deren Musikfest eine Kurzoper zu komponieren. Dem Werk war kein Erfolg beschieden, allerdings folgte bereits ein Jahr später „Die Dreigroschenoper“ und aus der Kurzoper „Mahagonny“ wurde 1930 die noch immer auf den Spielplänen stehende Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“.

Bereits 1918 konzipierte Bertolt Brecht seinen Gedichtsband „Hauspostille“, der 1927 erschien und auf den Weill aufmerksam wurde. Schon der Titel ironisiert, indem er auf die ursprünglich kirchlichen, häuslichen Erbauungsschriften anspielt. Brecht: „das Richtige für die Stunden des Reichtums, das Bewusstsein des Fleisches und die Anmaßung“.Weil formte daraus sechs Gesänge (für sechs Sänger), die in drei Teilen von der imaginären amerikanischen Stadt Mahagonny erzählen. Von der Gründung und den Menschen, vom Leben dort und den Niedergang. Weill schuf damit, ganz der Intension seiner Auftraggeber entsprechend, etwas Neues, das stark Musik und Dichtung verband und die Grenze zwischen Ernst und Parodie, zwischen U- und E-Musik aufhob (für Giselher Schubert: „Veredelte Gebrauchsmusik“). So hat der weithin bekannte „Alabama-Song“ einen starken Ohrwurmcharakter. Entscheidend für den Klang ist aber auch die kammermusikalisch angelehnte Instrumentalisierung.

Die Inszenierung von Stefanie Wördemann und Helmut Oehring zeigt das Stück nicht szenisch im klassischen Sinn. Links sitzen die Musiker, rechts befindet sich eine, anfangs noch mit Holzlatten zugestellte, große Box, davor eine doppelte Reihe Zuschauersitze (einmal Richtung Publikum, einmal Richtung Bühne). In der Mitte ein Podest und Platz für den Sologitarristen. Die Lieder werden mit minimaler Mimik, langsamen Körperbewegungen und ausdrucksstarken Stimmen gesungen. Schon bei der skandalträchtigen Baden Badener Uraufführung wurden Bildprojektionen verwendet. So auch bei dieser Produktion. Neben im Raum verteilten einzelnen Leuchtkästen, mit unterschiedlichen schwarz-weiss Motiven, ist im Bühnenhintergrund eine große Leinwand, auf der Texte, Bilder und Videosequenzen gezeigt werden. Collagen, Landschaften, Menschen auf der Suche (nach einer neuen Heimat?). Hagen Klennert hat da wirklich Umfangreiches zusammengetragen.

Einen derartigen Bilderreigen gibt es auch im längeren, zweiten Teil, Helmut Oehrings „Die WUNDE Heine“. Helmut Oehrings Textbuch von Stefanie Heine verwendete als Vorlage nicht einen zeitgenössischen Text, sondern Gedichte von Heinrich Heine. Die Emanzipation des Menschen voranzutreiben und das Eintreten für demokratische Grundrechte zeichnen Heines heterogenes Werk aus. Heine versuchte Kunst und gesellschaftliche Realität zusammenzubringen. Sechs Gedichte von ihm wurden nicht nur mit zusätzlichen Texten von Oehring versehen, sondern auch mit Texten und improvisatorischen Adaptionen von Liedern des 1996 verstorbenen Rio Reiser („König von Deutschland“). Diese erklingen in sechs sogenannten „Songfenstern“.

Musikalisch ist „Die WUNDE Heine“ besonders interessant, weil hier nicht nur von der großartigen Universalkünstlerin Salome Kammer, der Sopranistin Sylvia Nopper und dem Atrium Ensemble (Oliver Uden, Philipp Neumann, Martin Schubach und Frank Schwemmer) einfühlsam den Texten Leben eingehaucht wird (trotz Mikrofonverstärkung), sondern weil sich gerade in den Songfenstern, der Gitarrist, Erzähler und Sänger Jörg Wilkendorf kraftvoll austoben kann. Gleichwohl machen die Texte betroffen und verhallen nicht im Belanglosen. Wobei es auch nicht schlecht gewesen wäre, wenn der Zuschauerraum nicht ganz dunkel wäre, denn dann hätte man die im Programmheft abgedruckten Verse mitlesen können. Schon musikalisch ist der Abend ein Hochgenuss. Das von Kapellmeister Hartmut Keil geführte Ensemble Modern (in kleiner Besetzung) spielt bissig und überaus prägnant.

Der Titel „Offene Wunden“ nimmt Bezug zu Theodor W. Adorno. Dieser sprach 1956 in einem Rundfunkessay anläßlich von Heines hundertstem Todestag über „Die Wunde Heine“. Adorno sah in Heines Lyrik einen auffälligen Trend dem gängigen Publikumsgeschmack zu dienen. Diese Gefahr läuft „Offene Wunde“ nicht. Dafür ist die Inszenierung, ist die Musik und sind die Texte viel zu anspruchsvoll, entdeckungsreich und komplex, auch wenn alles in ein harmonisches Ganzes gehüllt ist. Die Wunde, das sind wir, heute, im Hier und Jetzt.

Markus Gründig, Juni 10


La Damnation de Faust (Fausts Verdammnis)

Oper Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
21. Juni 10

Mit einem weiteren, etwas abseits des gängigen Repertoires stehenden Stück beendet die Oper Frankfurt den Reigen der eindrucksvollen und ausgefallenen Stücke in der laufenden Saison im Opernhaus. Über den Komponisten wie über das Werk und die Inszenierung ließe sich reichlich schreiben. Kurz zusammengefasst sei festgehalten: Die Inszenierung ragt ob der musikalischen und szenischen Umsetzung aus allen Anderen stark hervor. Hier ist ein seltener Fall, bei dem für Auge und Ohr gleichermaßen richtig viel geboten wird.
Berlioz machte sich in erster Linie als Komponist für Orchestermusik und als Musikkritiker einen Namen. Wegweisend war sein Wirken, was die Ausweitung der Ausdrucksmöglichkeiten des Orchesters anbelangte. Dies nicht durch Masse im Sinne eines größeren Orchesters, sondern durch Schaffung neuer Klangräume mithilfe überlegener Instrumentierungskunst.
Ist „La Damnation de Faust“ nun ein klanggewordenes dramatisches Gedicht, eine Symphoniekantate, musikalisches Traumtheater oder eine Konzertoper? Jedenfalls entspricht es keiner Oper im klassischen Sinne. Zu dominant ist hier die Orchester- und Chormusik. Berlioz selber bezeichnete das Werk als „Légende-dramatique“, als dramatische Legende. Die Handlung ist lediglich auf vier Personen verteilt. Doch hat sie alles andere als einen kammermusikalischen Charakter.
Dirigentin Julia Jones und das Frankfurter Opern- und Museumsorchester lassen dieses geniale Konglomerat von Höreindrücken plastisch und in seiner ganzen Vielfalt erklingen. Als Marguerite, die erst nach über einer Stunde erstmals auf der Bühne erscheint, nimmt einen Alice Coote mit ihrem intensiven Spiel und ihren zarten Pianotönen gefangen. Ihren Verführer und erträumten Prinz, den ewigen Zweifler Faust, gibt mit tenoraler Wärme Matthew Polenzani. Mit großer Spielfreude und kräftiger Stimme wartet Simon Bailey als vielschichtiger Méphistophélès auf. Thorsten Grümbel gibt einen soliden Brander.
Für „La Damnation de Faust“ wurden von Berlioz verschiedene Szenen von Goethes Werk verwendet und mit einem eigenen Schluss versehen. Regiealtmeister Harry Kupfer, dessen letztjährige Operninszenierung „Palastrina“ vor Kurzem wiederaufgenommen wurde, zeigt auch hier Großes. Es ist seine fünfte Inszenierung dieses Stückes. Er zeigt Fausts und Marguerites fatale Liebe als Rückblende eines gealternden Mannes, der Sucher und Zweifler ist. Die zwanzig Szenen des Dramas werden mal intim, mal skurill, manchmal brutal und mit extrem effektvoller Bühnenzauberei gezeigt, immer aber sehr bildgewaltig (nahezu ein Feuerwerk gehobener Unterhaltungskunst).
Wo es bei „Das Rheingold“ an der Oper Frankfurt noch recht spartanisch zuging, ist hier genau das Gegenteil der Fall. Auf die Bühne wurde für die vier Teile ein Einheitsbild geschaffen. Statt einer Ebene in Ungarn, einer in Norddeutschland und natürlich Marguerites Zimmer gibt es groß dimensioniert einen Zuschauerraum eines Opernhauses zu sehen. Dessen Seiten befinden sich im Restaurierungszustand (d.h. sie bestehen aus Gerüsten, hinter denen es festlich leuchtet (und auch höllisch funkelt). Einzig die prächtige Königsloge ist (vorerst) unzerstört (Bühnenbild: Hans Schavernoch).
Der um Extra- und Kinderchor erweiterte Chor kann sich hier förmlich austoben, hat er doch multiple Aufgaben zu erfüllen: Bauern, Christen, Zecher, Sylphen und Gnomen, Soldaten, Studenten, Irrlichter, Nachbarn, Höllengeister, Seraphime und himmlische Geister sind von ihm darzustellen. Dabei beeindruckt er schon optisch durch die vielen aufwändigen Kostüme (Yan Tax), aber auch darstellerisch und gesanglich. Die jeweilige szenische Grundstimmungen wird hervorragend untermalt (Einstudierung: Matthias Köhler).
Am Ende, nach einem phantastisch anmutenden Ritt durch die Lüfte auf aus Alutravesen bestehenden Höllenhengsten, mit dämonischem Geisterchor und einem Feuer- und Rauchspektakel sondergleichen, kehrt der, im wahrsten Sinne des Wortes, gefallene Faust in alter Form zurück, legt den Bart ab und scheint durch diesen seinen Traum geläutert. Und das Publikum jubelte.

Markus Gründig, Juni 10


Die verkaufte Braut

Staatstheater Mainz
Besuchte Vorstellung:
19. Juni 10 (Premiere)

“Bauer sucht Braut“ steht zu Beginn in großen Lettern auf einem großen Plakat vor schwarzem Vorhang. Dieser Bezug zu der auf RTL laufenden Doku-Soap lässt zunächst vermuten, Regisseurin Tatjana Gürbaca hat das dörfliche Geschehen aus Böhmen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts in die Moderne verlegt. Doch dieser Verdacht bestätigt sich nicht. Freunde klassischer Inszenierungsstile brauchen sich daher nicht zu sorgen, dass Hans, Wenzel und Marie sich hier beispielsweise in einem Club kennen und lieben lernen. Von einem Dorfplatz und einem Wirtshaus, wie von Smetana gedacht, ist aber bei Marc Weegers kargem Bühnenbild nichts zu sehen. Mit einer nach hinten und den Seiten leicht ansteigenden Fläche wird auf der großen Bühne lediglich ein Platz angedeutet. Ein großer rückseitiger Landschaftsprospekt mit weidenden Kühen, Wiesen und Bergen ist der einzige ländliche Bezug auf der ansonsten leeren Bühne. Das Volk trägt einheitliche, lediglich nach Geschlechtern unterschiedene, braune Kellnerkleidung (Kostüme: Silke Willrett), soviel zum Thema Wirtshaus. Viele dunkle und blasse Farben bestimmen die Szenerie und so herrscht optisch die knapp drei Stunden über eine gewisse Tristesse.

Die verkaufte Braut
Staatstheater Mainz
Marie (Susanne Geb) und Wenzel (Alexander Kröner)
Foto: Martina Pipprich ~ martina-pipprich.de

Lediglich ausgelassen feiernde Dorfbewohner zu zeigen gilt heute als längst überholte Werkinterpretation, doch bleibt Gürbacas Interpretation im Unklaren, auch zu einer deutlichen sozialkritischen Perspektive konnte sie sich scheinbar nicht durchringen. Mit kleinen Pointen bringt sie immerhin etwas Leben in die Geschichte. So hat der Stotterer Wenzel ein Abbild seiner selbst in Form einer Puppe, über die er versucht einen leichteren Zugang zu seinen Mitmenschen zu finden. Der (Zirkus-) Direktor betätigt sich als charismatischer und publikumsanimierender Conférencier (Ks. Jürgen Rust) und Esmeralda (Inga-Britt Andersson) erscheint mit Wenzel am Ende als ein außerirdisches Wesen (statt als Bär).
Vermittelt die Szenerie eine elegische Stimmung und gleicht die Inszenierung eher einer tragischen Komödie anstelle einer folkloristischen heiteren, besticht die musikalische Seite umso mehr. Das Philharmonische Staatsorchester Mainz (Leitung: Andreas Hotz) spielt leidenschaftlich und überaus plastisch. Schon die farbenreich und temperamentvoll gespielte Ouvertüre ist ein Hochgenuss für die Ohren.
Susanne Geb gibt nicht nur eine einfühlsame, hinreißende Marie, mit ihrem kraftvollen Sopran schafft sie auch hervorragend dramatische Ausbrüche und verfügt bei den lyrischen Passagen über eine bezaubernde, gut geführte Stimme (super ihr „Wie fremd und tot ist alles umher“). Ihr gleichwertig sind die mit tenoralem Glanz aufwartenden Bräutigame. Alexander Spemann als viriler Hans und Alexander Kröner als sympathischer Wenzel (der hier nicht als der sonst übliche Tollpatsch gezeichnet ist). Mit fundiertem Bass trumpft Hans-Otto Weiß als umtriebiger Heiratsvermittler Kezal auf. Auch die weiteren Rollenbesetzungen überzeugen, was auch auf den kraftvoll aufwartenden, von Sebastian Hernandez-Laverny einstudierten, Chor zutrifft. Es wird mit guter Textverständlichkeit gesungen (in deutscher Sprache, ohne Übertitel, dazu gibt es gesprochene Zwischentexte).  Am Ende lediglich freundlicher Applaus und einige Buh-Rufe für das Regieteam. Denn das Publikum steht noch unter Schock: Wenzel ist nicht fröhlich mit der Zirkustruppe weitergezogen, sondern hat sich erhängt. Sein Tod ist der Preis für das Glück von Marie und Hans, die am Ende wie in einem grßen Bilderrahmen neben der hängenden Leiche stehen.

Markus Gründig, Juni 10


La Giuditta

Oper Frankfurt im Bockenheimer Depot
Besuchte Vorstellung:
16. Juni 10

„La Giuditta“, das klingt zunächst nach Leichtigkeit und einer amourösen Geschichte. Tatsächlich geht es hier aber um viel mehr. Um Kriege, Besitzansprüche und um einen Einsatz fürs Vaterland, der in einer hinterhältigen Enthauptung endet. Im Mittelpunkt die figur der Giuditta (im Deutschen: Judith). „La Giuditta“ beruht auf dem alttestamentarischen Buch Judith, in dem verschiedene Geschehnisse der israelischen Geschichte von einem Zeitraum von vierhundert Jahren zu einer fiktiven Geschichte zusammengeführt wurden. Mit erzählt wird dabei die Enthauptung des Feldherrn Holofernes durch die schöne Witwe Judith. Das Buch Judith gehört zum Kreis der apokryphen Bücher. Das sind Bücher zweifelhafter Authentizität und Autorität. Enthalten sind diese im griechischen und im lateinischen Alten Testament, nicht jedoch in der Hebräischen Bibel und den Bibelausgaben der reformatorischen Kirchen. Obwohl das Buch Judith weitgehend unbekannt ist, hat die Juditherzählung, ähnlich der Figur der Salomé, eine breite Rezeption erfahren. Dies besonders in der Renaissance, sei es von Künstlern wie Caravaggio, Botticelli, Lucas Cranach, Peter Paul Rubens oder später bei Gustav Klimt. Musikalisch sorgten Antonio Vivaldi („Juditha triumphans“), Mozart („La Betulia Liberata“) und der Barockkomponist Alessandro Scarlatti (mit zwei Versionen von „La Giuditta“) für Umsetzungen. Die Oratoriums-Version des portugiesischen Komponisten Francisco António de Almeida wurde bereits im Jahr 1726 erstmals aufgeführt, rein konzertant. De Almeidas „La Giuditta“ ist jedoch kein typisches Oratorium, wenn man dabei an Werke von Johann Sebastian Bach, Friedrich Händel oder Heinrich Schütz denkt. „La Giuditta“ entstand, als in Rom ein päpstliches Verbot für Bühnenaufführungen galt. Insoweit ist es eher eine getarnte Oper als ein Oratorium.
Als szenische Erstaufführung zeigt die Oper Frankfurt nun im Bockenheimer Depot dieses Stück. Das erscheint in gewisser Weise paradox, sind doch für Oratorien konzertante Aufführungen bestimmend. Doch warum nicht etwas nachholen, was seinerzeit nicht möglich war. Zumal die gelungene Inszenierung von Guillaume Bernardi fesselnde Unterhaltung vermittelt. Dazu musiziert das verkleinerte und mit drei Barock-Musikern verstärkte Opern- und Museumsorchester unter der Leitung von Felice Venanzoni freudig und lebhaft. Vor allem bietet der Abend aber sängerische Hochgenüsse.
Auf effektvolle Oratorien-Hits à la „Jauchzet, frohlocket“ (Weihnachtsoratorium) oder „Halleluja!“ (Der Messias) wartet man aber vergebens, einen Chor gibt es hier nicht. Allenfalls das unter einem großen Drahtkäfig sitzende Orchester kann als leidendes und eingesperrtes Volk interpretiert werden. Lediglich vier Sänger erzählen das Drama.
Da Oratorien üblicherweise in Kirchen aufgeführt werden, erscheint das Bockenheimer Depot mit seiner kirchenschiffähnlichen Architektur zunächst nicht als große Herausforderung. Andererseits gilt es gleichzeitig, den Nahen Osten von vor über 2000 Jahren nach Frankfurt zu transportieren. Die Bühnenbildlösung von Dirk Becker schafft nicht nur dies, sondern mehr. Mit einer Kanzel wird dem sakralen Aspekt gedient. Mit verwaschenen, erdtonfarbenen Böden, einer Schrägfläche, einem großen, aufrecht stehenden, betonähnlichen Halbrund und einem Berg Sand wird eine gewisse karge Landschaft imaginiert. Als Drittes gibt es eine Traumsequenzebene. Das ist ein hoch oben stehender großer Container, der Einblicke in vergangene Zeiten (wie den Tod von Giudittas Ehemann zu Beginn) gibt, in dem kurze Traumsequenzen ablaufen (z.B. wenn Giuditta beim tödlichen Liebesakt mit Holofernes dort zeitgleich an ihren Mann denkt) und in der auch zu geringen Teilen die laufende Handlung passiert. Moderne Multimediaelemente wie bei Schlingensiefs Fluxus-Oratorium „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“, gibt es jedoch nicht (allerdings kann man allein im Bühnenbild auch eine Assoziation zu den vielen Bauhaus-Gebäuden in Israel sehen und dadurch eine zusätzliche Brücke zwischen den Jahrhunderten und den Orten finden).
Die mehrgliedrige Bühne geht nahtlos zum Zuschauerraum über, der Tribünenaufgang für das Publikum dient zugleich als Auftrittsfläche der Protagonisten. Diese kommen mal erhaben herab geschritten, mal gehen sie darüber ab, mitunter trollt sich aber auch einer der hinzugefügten vermummten Beduinen (in schwarzer Kutte) die Treppe herunter (Choreografische Mitarbeit: Bernd Niedecken). Und obwohl es keine handlungsreichen Szenen gibt, das Ganze eher wie ein Tableau dunkel gefärbter Bilder wirkt (Licht: Matthias Paul), lockert Regisseur Guillaume Bernardi nicht zuletzt mit diesen tänzerischen Einlagen das Geschehen auf.
Musikalisch betört das virtuos aufspielende Orchester, doch noch viel mehr die vier Sänger.
Brenda Rae verleiht der jungen Witwe Giuditta  (im hochgeschlossenen) schwarzen Kleid und hochgesteckten Haaren) zunächst ein großes Maß an Würde und Anmut. Mit offenem Haar und weißem Kleid (dem ein schmales, roten Striemengeflecht übergestülpt wird), schwarzen Lederstiefeln und rot gefärbten Lippen wandelt sie sich im zweiten Teil von der weisen Schriftgelehrten zur Femme fatale (Kostüme: Jorge Jara). Dabei weiß sie mit gut geführter Stimme glutvolle Emotionen zu modellieren. Mit intensiv aufblühenden Klangfarben glänzt und bewegt Christiane Karg in der Hosenrolle des Hauptmanns Achior. Stürmisch, aber kein überzeichneter Despot: der Holofernes des Julian Prégardien, mit klangschönen, kernigen Tönen. Sein Debüt an der Oper Frankfurt gibt bei dieser Produktion der Altus Matthias Rexroth in der Rolle des Befehlshabers Ozias. Er ist hier kein Mitglied der Streitkräfte, sondern christlicher Priester und damit gewissermaßen Bote einer neuen Zeit. Er verzaubert mit balsamischen, warmen Klängen und vermittelt ein eindrucksvolles Bild des Ozias (das bis zur Flagellation reicht).
Ob nun Oper, Oratorium oder irgendetwas dazwischen: „La Giuditta“ ist eine facettenreiche Rarität, auf die es sich lohnt, sich einzulassen.

Markus Gründig, Juni 10


Das Rheingold

Oper Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
7. Mai 10

Wasser.   Feuer.   Erde.   Luft.   Rheingold.

Seit der Saison 2002/2003 ist Bernd Loebe Intendant der Oper Frankfurt, der er zu einem überragenden Renommee verholfen hat. In seinen Spielplänen sind fast alle Opernklassiker vertreten, doch fehlen insbesondere auch nicht Stücke, die außerhalb des gängigen Opernkanons stehen. Ein besonderes Werk hat allerdings seine Zeit gebraucht, bis es auf dem Spielplan erschien. Nun ist der Anfang gemacht: Richard Wagners Bühnenfestspiel „Der Ring des Nibelungen“, dessen „Vorabend“ jetzt Premiere feierte.
Mit der szenischen Umsetzung wurde die Deutschbulgarin Vera Nemirova beauftragt. Im Rhein-Main-Gebiet inszenierte sie bereits Richard Wagners „Tannhäuser“ an der Oper Frankfurt (2007) und Giacomo Puccinis „La Boheme“ am Staatstheater Mainz (2008). Zuletzt führte sie Regie bei Giuseppe Verdis „Macbeth“ an der Wiener Staatsoper und Donizettis „L’Geysir d’amore“ an der Oper Bonn. Im Sommer folgt Bergs „Lulu“ bei den Salzburger Festspielen und das Jahr ist noch nicht zu Ende…
Mittlerweile hat die 1973 geborene Regisseurin knapp 40 Opern inszeniert und somit große Erfahrung. Dennoch wurde ihre „Ring“-Umsetzung mit Spannung erwartet, schließlich wird er nicht of inszeniert und noch seltener von einer Frau.
Exceptionell ist ihr schon der Anfang geglückt. Dirigent Sebastian Weigle steht schon eine Weile auf seinem Podest (es gibt keinen Auftritt im Halbdunkeln wie sonst üblich; wobei sich Sebastian Weigle durch seinen legeren Kleidungsstil ohnehin modern präsentiert), als langsam das Licht heruntergefahren wird. Nicht nur im Saal, auch im Orchestergraben. Nur die feuerpolizeilich notwendige Notbeleuchtung ist eingeschaltet. Ansonsten herrscht totale Finsternis auf dem Grund des Rheins. Mit den ersten Tönen fährt der Vorhang hoch und zunächst ist nur eine große Scheibe zu erkennen. Auf diese Scheibe fallen per Videoprojektion einzelne Wassertropfen, sanfte Wellen breiten sich auf der Scheibe aus. Sodann steigen aus der Mitte die drei Rheintöchter (Woglinde: Britta Stallmeister; Wellgunde: Jenny Carlstedt; Floßhilde: Katharina Magiera) auf und die gesamte Bühnenkonstruktion wird erkennbar. Die Wellen haben sich in fünf konzentrische Kreise gewandelt, die einzeln gedreht und in der Höhe variiert werden können. Dadurch entstehen multiple Konstellationen, die frei assoziiert nicht zuletzt die vier Elemente aufgreifen. Diese Konstruktion als alleiniges Bühnenbild ist schlicht und doch extrem aufwendig, zumindest von der technischen Seite. Von Felsen, Bergeshöhen und Burg also keine Spur, aber die gibt es ja schon seit Wieland Wagner nicht mehr. Nemirova und Bühnenbildner Jens Kilian geben dem „Ring“, so wie sie ihn hier beim „Das Rheingold“ zeigen, keine grundsätzlich neue Interpretation. Freigelegt von äußeren Beeinflussungen (wie durch ein opulentes Bühnenbild), ist der Fokus ganz auf die Figuren gelegt. Dabei überzeugt Nemirova mit ihrer detailscharfen Personenführung auf diesen großen Ringflächen. Oftmals verbleiben einzelne Figuren im hinteren Bereich stehen oder sitzen, pusten Seifenblasen in den Himmel oder erscheinen als gealterte Ebenbilder der Hauptpersonen. Sehr gegenständlich einzig die dritte Szene in Nibelheim. Hier dreht die Ringkonstruktion derart, dass die Unterseite hervortritt. Ausgeleuchtet mit gelben Schiffsleuchten tritt die Illusion eines Bergwerkes hervor, die unterirdischen Klüfte Nibelheims plastisch andeutend. Die geknechteten Nibelungen sind Kinder, der „Goldschatz“ besteht aus Säcken mit Geldscheinen. Dies sind zwei der wenigen Andeutungen auf heutige Zeiten (Kinderarbeit in der 3. Welt / Macht durch Geld). Dezenter der Lindwurm und die Kröte des verzauberten Alberich: Diese werden nur durch rote bzw. grüne Handschuhe angedeutet. Die dritte Szene ist nicht nur optisch herausragend, sondern auch in ihrer musikalisch breit aufgefächerten Umsetzung durch das Frankfurter Opern- und Museumsorchester. Ein absoluter Höhepunkt dieses ohnehin famosen Auftakts zum „Ring“.
Ist die Inszenierung auch weitestgehend losgelöst von Raum und Zeit, kommen die Kostüme von Ingeborg Bernerth aus dem Heute. Die Götterfamilie trägt helle Kleider und Anzüge, schwarze Kampfanzüge dagegen die Riesen und die Kleider der Rheintöchter wecken Assoziationen zu Meerjungfrauen. Aus dem Rahmen fallen Erda und Loge. Erda im Yeti-Fellbezug und der Freigeist Loge zwar mit maskuliner Cargohose und Netzhemd, darüber ironisierend aber ein aus bunten Plastikseilen gebundenes Röckchen.
Generalmusikdirektor Sebastian Weigle hat mit seinen Dirigaten von den „Meistersingern“ in Bayreuth längst den wagnerischen Olymp erreicht. Zu großer Hingabe spornt er die Musiker des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters an. Ohne Hast und ohne Vehemenz wird die Wagnerische Klangwelt aufgefächert, dass es ein Fest für die Ohren ist. Und auch die Sänger profitieren von dieser überaus fein nuancierten Umsetzung, brauchen sie doch nicht gegen das Orchester anzukämpfen. Die Sängerriege wurde mit Gästen und Ensemblemitgliedern bestens besetzt. Allesamt begeisterten sie und animierten das Publikum zu tosendem Applaus. Bei den Göttern sticht der norwegische Bassbariton Terje Stensvold als kraftvoller Wotan hervor (Donner: Dietrich Volle; Froh: Richard Cox; Fricka: Martina Dike; Freia: Barbara Zechmeister ). Sensibel und mit kultivierter Stimme gaben sie die beiden Riesen gleichwertig (der verliebte Fasolt: Alfred Reiter; der machtgierige Fafner: Magnus Baldvinsson ).
Der Alberich des Jochen Schmeckenbecher ist bei Verda Nemirova kein hässlicher Gnom, sondern ein barfüßiger Geschäftsmann par excellence, anrührend und mit deklamatorischer Stimmkraft. Hans-Jürgen Lazar weiß sich als Mime vortrefflich in Szene zu setzen. Meredith Arwardy sorgt mit ihrem kurzen Auftritt als Erda für Gänsehaut auf dem Rücken, so intensiv und präsent mahnt sie Wotan. Alle überragend aber Kurt Streit als Intrigant Loge, der lustvoll vom Himmel auf einer Schaukel herbeischwebt, um am Ende tänzelnd wieder dorthin zurückzukehren. Athletisch schwingt er sich an einem Seil empor, um aus Nibelheim herauszuschauen und zieht immer wieder die Augen auf sich. Er fesselt nicht nur durch seine authentisch wirkende Spielfreude, sondern auch mit seinem heldisch-lyrischen Gesang mit innigem Schmelz.
Zum Ende gehen die Götter entlang am Regenbogen (an den Seitenwänden) zur vorderen Publikumsreihe und von dort zu den Seitenlogen im Parkett. Sie sind in Frankfurt angekommen und betrachten gespannt den weiteren Verlauf der Geschichte.

Wer für eine der wenigen noch ausstehenden Vorstellung von „Das Rheingold“ in der Saison 2009/10 bislang keine Karte hat, hat Pech, denn alle Vorstellungen sind ausverkauft (eine Wiederaufnahme in der kommenden Saison wird es nicht geben). „Die Walküre“ startet am 31. Oktober 2010 (es folgen sechs weitere Aufführungen). Auch hier gilt: rechtzeitig Karten sichern! Der Vorverkauf beginnt am 2. August 10.
Den kompletten Frankfurter „Ring“ wird es in zwei Zyklen im Sommer 2012 zu sehen geben. Wer bis dahin nicht warten will, hat dazu u. a. im September 2010 und Januar 2011 in Freiburg (Regie Frank Hilbrich) die Gelegenheit, ebenso im Frühjahr 2011 in Hamburg (Regie Claus Guth).

Markus Gründig, Mai 10


Maria Stuarda

Staatstheater Darmstadt
Besuchte Vorstellung:
24. April 10 (Premiere)

Der erbitterte Kampf zweier Königinnen

Elisabeth I (1533 – 1603) und Maria Stuart (1542 – 1587) sind zwei große Frauen gewesen, die Geschichte geschrieben haben und über die viel geschrieben wurde. Schiller verfaßte über diese Königinnen das Schauspiel „Maria Stuart“, es diente Gaetano Donizetti als Vorlage für seine 46. Oper „Maria Stuarda“. Schillers Stück wurde für die Oper gestrafft und von Nebenpersonen befreit. Donizetti, Meister des Belcanto („Lucrezia Borgia“,  L’Elisir d’amore , „Lucia di Lammermoor“), stattete auch diese Oper mit schönstem lyrischem Wohlklang aus und verband sie mit einem der spannendsten historischen Konflikte. Im Zentrum der Oper steht nicht die damalige politische Interessenslage.Es geht vielmehr um die Macht der Gefühle (in Form von Liebe, Hass und Eifersucht) bei den Cousinen Elisabeth I und Maria Stuart. Wie schon bei Schiller und anders als in der Wirklichkeit, treffen sie hier aufeinander (was den szenischen Höhepukt der Oper darstellt).

Maria Stuarda
Staatstheater Darmstadt
Maria Stuarda (Adréana Kraschewski), im Hintergrund Elisabeth (Stephanie Theiß), Elisabetta (Katrin Gerstenberger)
Foto: Barbara Aumüller ~ szenenfoto.de

Shakespeares´ Globe-Theatre in Darmstadt

Der junge Regisseur Alfonso Romero Mora zeigt den Kampf der englischen und der schottischen Königin als Theater im Theater, indem er die Geschichte als Rückblende der gealterten Elisabeth (als stumme Mimin: Stephanie Theiß) zeigt. Sie erlebt das Geschehen als Traum in Form einer Aufführung im legendären Londoner Globe Theatre (dem Theater, in dem die meisten Stücke Shakespeare uraufgeführt wurden). Hierzu hat Dirk Hofacker ein hübsches, verkleinertes Abbild des Theaters auf die Bühne gestellt, bei der das Publikum (d.h. der von André Weiss bestens einstudierte Chor) auf den beiden Rängen das Geschehen beobachtet und kraftvoll kommentiert (ohne in die eigentliche Handlung einzugreifen). Ortswechsel werden nur durch den dezenten Austausch von Requisiten angedeutet. Die opulente Szenerie ist düster ausgeleuchtet und vermittelt schon optisch drohendes Unheil.
In ihren schwarzen Mänteln und mit typisch weißer Halskrause zeigt das Volk bereits elisabethianische Strenge. Viel mehr davon strahlt Elisabeth aus (im prächtigen, klassischen ovalen Reifrock der Tudorepoche). Modernen Stils sind die nicht minder schön anzuschauenden Kleider der Elisabetta und der Maria. Die weißen bzw. schwarzen Anzügen der drei beteiligten Männer nehmen ebenso Bezug zur damaligen Zeit (Kostüme: Gabriela Salaverri).

Starkes Damenduo

Ihre würdige optische Präsenz spiegelt sich beiden Hauptprotagonistinnen auch bei ihrem überragenden vokalen Wohlklang. Katrin Gerstenberger überzeugt als strenge, würdevolle Monarchin Elisabetta („Die jungfräuliche Königin“) mit eleganter Stimmführung, glühendem Timbre und auch der Fähigkeit den harten und kalten Tönen belcantischen Zauber zu verleihen.
Adréana Kraschewski, vor Beginn als durch Pollenflug indisponiert angekündigt, verlieh der Maria nicht nur eine packende schauspielerische Präsenz, sie meisterte auch die immensen stimmlichen Anforderungen dieser Rolle eindrucksvoll, voller Wärme und Leidenschaft.
Bei dem Kampf der beiden Frauen geht es aber nicht nur um politische bzw. kirchenpolitische Interessen, sondern auch um ganz Profanes, um einen erotischen Konflikt: Die Rivalität der beiden Frauen um die Gunst eines Mannes. Roberto, Conte di Leicester, wird von beiden begehrt, entscheidet sich aber für Maria und ist somit für ihren Tod mitverantwortlich. Für diese Rolle sollte bei der Premiere eigentlich Angelo Scardina auf der Bühne stehen, dieser weilte aber aufgrund des Eyjafjöll-Desasters noch in Spanien. Auch die vorgesehene Zweitbesetzung stand nicht zur Verfügung. Für die Rolle des Roberto war kurzfristig kein Ersatz zu finden und so gab Regisseur Alfonso Romero Mora kurzerhand sein Schauspieldebüt, in dem er die Rolle des Roberto szenisch übernahm. Der kurzfristig eingesprungene Erik Fenton vom Theater Erfurt sang vom rechten Zuschauerrang des Globe-Theatre heraus die Rolle vom Blatt. Das klappte überraschend gut. Mora gab einen charmanten und blendenden Roberto, dem Fenton mit vokalen Schattierungen und tenoraler Strahlkraft eine ausdruckstarke Stimme verlieh. Sehr gut gefallen hat auch die weiteren Besetzungen (Oleksandr Prytolyuk als Lord Guglielmo Cecil; John In Eichen als Giorgio Talbot und Margaret Rose Koenn als Anna Kennedy).
Martin Lukas Meister und das Staatsorchester Darmstadt begleiteten die Sänger mit ihrem agilen und leidenschaftlichen Spiel, ohne einer dramatischen Überhitzung zu verfallen.

Das Staatstheater Darmstadt hat Donizettis selten gespielte Maria Stuarda, unter Verzicht auf einen neuzeitlichen Blick, stilvoll in Szene gesetzt und trumpft mit einem ausgezeichneten Damenduo auf.

Markus Gründig, April 10


Salome

Staatstheater Mainz
Besuchte Vorstellung:
10. April 10 (Premiere)

Vom Blick in den Spiegel

Regisseur und Intendant Matthias Fontheim scheint eine gewisse Vorliebe für Richard Strauss zu haben. Dessen Oper „Ariadne auf Naxos“ inszenierte er 2003 in Graz und 2007 stellte er sich mit „Der Rosenkavalier“ in Mainz als Opernregisseur vor. Als weitere Straussoper folgte nun, als Dritte im Bunde, die im Jahr 1905 in Dresden uraufgeführte „Salome“, die noch immer ein faszinierender Mythos umgibt (schließlich handelt sie von einer Femme fatale par excellence).
Als Vorlage für diese Oper diente Richard Strauss nicht die Geschichte aus dem Neuen Testament (Markusevangelium, Kap.6, 17-29), sondern das gleichnamige Dramolett von Oscar Wilde (von 1891). Strauss übernahm den Text fast wörtlich (es erfolgte keine Bearbeitung eines Librettisten), allerdings kürzte er es etwa auf die Hälfte, indem er sich auf den Kern der Handlung beschränkte.

Salome
Staatstheater Mainz
Salome (Annette Seiltgen)
Foto: Martina Pipprich ~ martina-pipprich.de

Werknahe und zeitgemäße Interpretation

Fontheim, dessen Opernregiestil seine große Erfahrung als Schauspielregisseur anmerken lässt, inszenierte diese Salome zeitgemäß und weitestgehend „werktreu“. Er verzichtet auf oberflächige Effekte und konzentriert sich ganz auf Herausarbeitung der Seelenkonflikte der Hauptprotagonisten. Dabei hält er den Figuren und dem Publikum große Spiegel vor, um eine selbstgefällige, oberflächliche Gesellschaft, Menschen ohne Ecken und Kanten, dafür mit abstrusen Sehnsüchten und irregeleitetem Liebesverständnis zu zeigen. Das ist zwar nicht der Originalität letzter Schrei, aber ein stimmiger Ansatz. Dem einzigen Buhrufer beim Schlussapplaus antwortete seine Nachbarin dann auch entsprechend: „Erzkonservativer Spießer, bleib doch zuhause vor deinem Fernseher“. Dabei hätte ein Blick in die Rezeptionsgeschichte der Oper ihm auch gezeigt, dass Fontheim sehr korrekt gearbeitet hat. Aber vielleicht hat der Buhrufer auch einfach mehr Blut, Crime und nacktes Fleisch (das es lediglich für einen kurzen Augenblick in Form eines nackten Po beim „Tanz der sieben Schleier“ zu sehen gibt) erwartet, allen kann man es ohnehin nie recht machen.
Statt großer Terrasse im Palast des Tetrarchen Herodes, mit angrenzendem Bankettsaal und alter Zisterne, zeigt Michael Rützs Bühne eine vollständig in Spiegel eingekleidete leere Bühnenfläche, die eine sterile und kalte Atmosphäre vermittelt. Ein kleiner Pool im hinteren Bereich symbolisiert stellvertretend die vorherrschenden herrschaftlichen Verhältnisse. Vom eigentlich vorgesehenen Mond gibt es keine Spur. Zurzeit der vorletzten Jahrhundertwende galt der Mond als Symbol für die kranke Seele. Da Fontheim die Seelenkonflikte der Protagonisten mit den vielen Spiegelflächen herausarbeitet, ist ein Mond denn auch entbehrlich. Die weißen Wandflächen über den Spiegelbereichen kann man sich allenfalls als Illumination des Mondlichts denken.
In diesem Raum sind die Personen trotz der vielen Türen (für jeden eine) quasi gefangen und die ganze Zeit präsent. Auf eine bestimmte Zeit oder einen bestimmten Konflikt nimmt die Inszenierung keinen Bezug. Die Kostüme von Marc Thurow sind heutig, die Soldaten moderne Bodyguards.

Starkes Sängerquartett

Nach einem soliden Auftakt in der ersten Szene trumpft mit Erscheinen der Salome dann das Quartett Herodes, Herodias, Salome und Jochanaan umso mehr mit ihren kräftigen Stimmen und ihrer kultivierten Sangeskunst auf. Alexander Spemann überzeugt schauspielerisch und stimmlich als leicht ironisierend angelegter Herodes.
Katherine Marriott gibt mit großer Spielfreude der Herodias, bei aller dominanter Kühnheit, auch warme Züge (selbst die Tücken des glatten Bodens meistert sie trotz mehrfacher, nicht immer freiwilliger, Stürze bravourös).
Die höchst anspruchsvolle Partie der Salome verkörpert Annette Seiltgen hier zum ersten Mal. Ihre Salome ist kein exaltierter und verluderter Vamp, sondern eine ganz normale Tochter aus gutem Haus. Ihre farbenreich changierende Stimme führt sie mit leuchtenden Bögen zu strahlender Höhe.

Als Geschenk des Himmels kommt der Prophet Jochanaan (Oliver Zwarg) nicht aus einer Zisterne heraus, sondern schwebt in einem schmalen Käfig vom Himmel herab. Dies gilt vor allem für seine Stimme. Mit warmem Timbre und expressiver Kraft bezaubert er nicht nur Salome, sondern den gesamten Hof und auch das Publikum.

Tanz der 15 Salomes

Legendär und mit Spannung erwartet: der „Tanz der sieben Schleier“, zweifelsohne ein Höhepunkt der Oper. Fontheim hat sich auch hierfür etwas Besonderes einfallen lassen (auch wenn es nicht einen einzigen Schleier zu sehen gibt). Während Salome langsam auf den Pool zugeht, steigt aus diesem plötzlich ihr Spiegelbild aus dem Wasser empor. Von Takt zu Takt erscheinen nun immer mehr Spiegelbilder in natura, bis es schließlich 15 identische Salomes sind. Für jeden Protagonisten auf der Bühne ein Realität gewordenes Salome-Spiegelbild, das sich albtraumhaft über jeden hermacht (Leitung Statisterie: Dieter Rößler).
Am Ende wird beim bereits herabfahrenden Vorhang (d.h. hier ist es eine Spiegelwand) nicht nur Salome getötet, sondern auch Herodes kriegt sein Fett ab: Er wird in seinem Pool ertränkt.

Strauss´ Klangfarben

Die Faszination der Oper „Salome“ beruht bei Weitem aber nicht nur auf der Figur der Salome, sondern genauso stark auf der außerordentlichen Musik von Richard Strauss, die voller exotischer Harmonik ist und gleichzeitig eine große stilistische Bandbreite aufweist. Über 100 Musiker sah er für das Orchester vor. Am Staatstheater Mainz sind es allein aus Platzgründen nur gut die Hälfte. Dennoch zaubert das Philharmonische Staatsorchester Mainz unter der Leitung von Catherine Rückwardt mit Biss und Aggressivität all die exotischen Finessen plakativ heraus, ohne sich zu sehr den stürmischen Aufwallungen hinzugeben. Orientalisches, Erotisches und atmosphärisch Dichtes ist hier in einem homogenen Gesamtklang zu hören.
 
Diese „Salome“ bezaubert musikalisch und fesselt szenisch mit interessanten Details, kurz: Sehenswert!

Markus Gründig, April 10


Daphne

Oper Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
1. April 10 (mit anschließende Talk-Runde „Oper Lieben“ mit ZDF-Moderator Steffen Seibert)

Vom Übergang in eine andere Welt

Richard Strauss´ „Rosenkavalier“ wird gerne und überall gegeben (so z. B. derzeit in Darmstadt), ebenso seine Opern „Elektra“ (demnächst in Wiesbaden) und auch die „Salome“ (demnächst in Mainz). Doch seine „Daphne“ wird nur sehr selten aufgeführt. Im mutigen, weil mit wenigen bekannten Opern aufwartenden, aktuellen Saisonprogramm der Oper Frankfurt passt dieses Werk allein schon deshalb. Und Intendant Bernd Loebe kann sich freuen, dass auch dieses relativ unbekannte Werk in der gelungenen Neuinterpretation von Claus Guth schon nach der Premierenaufführung großen Presse- und Publikumszuspruch gefunden hat. In Frankfurt ist diese Oper erst zum zweiten Mal zu sehen. Die Erstaufführung fand am 11. Juni 1939 statt, unter der musikalische Leitung von Franz Konwitschny und der Regie von Herbert Decker.

Entstanden in dunklen Zeiten

Mit „Daphne“ kehrte Richard Strauss nach „Arabella“ und „Die Frau ohne Schatten“ wieder zur naturhaft untermalten Antike der „Ariadne auf Naxos“ zurück. War es purer Eskapismus, wie ZDF-Moderator Stefan Seibert in der Oper-Lieben-Talkrunde (und Christine Schiemann im Programmheft) zur Diskussion stellte? Schließlich entstand das Stück zur Zeit des Nationalsozialismus (die Uraufführung erfolgte am 15. Oktober 1938 in Dresden; es dirigierte Karl Böhm, dem die Oper auch gewidmet ist). War es eine Umdeutung der gesellschaftlichen Vorkommnisse? Dr. Susanne Gaensheimer, seit 2009 Direktorin des MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main: „Die Oper zeigt menschlich Abgründiges, das über die Menschheit hereinfällt, hier stellvertretend dargestellt von Daphne“.
Zum Entstehungsprozess der Oper gibt es zahlreiche Dokumente, wie den Briefwechsel zwischen Richard Strauss und seinem österreichischen Librettisten Joseph Gregor (dem Nachfolger des in die Schweiz immigrierten Stefan Zweig) und Berichte von ihren Aufenthalten an der Adria und in Garmisch. Derartige Deutungen werden dabei aber nie erwähnt.

Daphne
Oper Frankfurt
Apollo (Lance Ryan) und Daphne (Maria Bengtsson)
Foto: Barbara Aumüller ~ szenenfoto.de

Freudscher Blick auf „Daphne“

Die Geschichte der reinen, naturverbundenen Königstochter Daphne sieht Regisseur Claus Guth im Jahr 2010 tiefsinniger. Die Antike und jegliche bukolische Bezüge klammert Guth ganz bewusst aus. Er konzentriert sich stark auf die Figur der Daphne. Während des heiter und warm einsetzenden Vorspiels, bei dem die Holzbläsermelodie Daphnes völlig ungetrübtes Leben widerspiegelt, sieht man die greise Daphne (die es im Libretto nicht gibt; hier sensibel von Corinna Schnabel gespielt) langsam und mit Krückstock durch einen abgelebten, verlassenen Raum (mit kaputten Vitrinenscheiben und zerfetzter Wandtapete) gehen. Der Raum weckt bei ihr Erinnerungen an vergangene Zeiten, an vergangene Erlebnisse. Und während sie in einen weiteren Raum läuft, beginnt die eigentliche Geschichte, die als Lebensrückblende Daphnes gezeigt wird.
Guth blickt durch eine Freudsche Brille auf die Oper. Vermutlich war es ein frühkindliches Trauma, dass Daphnes Trauma gegen die Liebe und den Eros hervorrief, die Umwandlung am Ende ist nur ein Bild für einen psychologischen Vorgang. Die Sängerin Maria Bengtsson verriet beim Foyergespräch, dass Sergio G. Sánchezs Film „Das Waisenhaus“ („El Orfanato“, 2007) teilweise Inspiration für diese Inszenierung war. In dem Film, ein Mix aus Vergangenheitsbewältigung und Geisterparanoia, erweist sich ein Waisenhaus als Geisterhaus.

Verwaistes Haus statt Felder

Christian Schmidt hat an der Oper Frankfurt bereits bei „Il Trittico“ das Bühnenbild entworfen. Wie dort gibt es auch bei „Daphne“ drei Räume. Diese sind größer (was vielleicht am göttlichen Ursprung der Figuren liegt) und liegen nebeneinander. Mit Hallencharakter durch hohe Decken vermitteln sie eine herrschaftliche Atmosphäre, auch wenn sie voller Patina, abblätternder Tapete und leeren Fensterrahmen sind. Zwei kleinere Räume seitlich (mit Wandschränken; einer dient Daphne als Zufluchtsort) und ein großzügiger Dionysos-Festsaal in der Mitte, wechseln sich dank Drehbühne ständig als Handlungsorte ab. Olaf Winters Licht setzt zusätzliche stimmungsvolle Akzente.
Daphne ist nicht nur als alte und junge Frau zu sehen, sondern auch als Kind und Puppe. Leicht zu erkennen am stets ähnlichen Kleid. Plakativ in der Ausgestaltung sind die Kostüme von Apollo und Leukippos. „Der Böse“ Apollo im schwarzen Anzug und „Der Gute“ in erdfarbigen kurzen Shorts, weißen Hemd und beiger Weste. Die Hirten, die ja auch nicht gut wegkommen, dann dementsprechend auch in dunklen Anzügen (Bühnenbildner Christian Schmidt zeichnet auch für die Kostüme verantwortlich).

Famose Sänger- und Orchesterleistung

Trotz Chor/Volksszene (beim Fest des Dionysos) stehen vier, streng gesehen sogar nur drei, Personen im Mittelpunkt, weshalb die Oper oft auch die Intensität einer Kammeroper aufweist (durch deren viele Sologesänge dieser Eindruck noch verstärkt wird). Erst als Ensemblemitglied an der Volksoper Wien, dann bei der Komischen Oper Berlin, jetzt als freie Sängerin tätig, hat sich die junge schwedische lyrische Sopranistin Maria Bengtsson einen hervorragenden Ruf als Mozartinterpretin erworben. Da ist es schon kaum zu glauben, dass Daphne erst ihre erste Oper von Richard Strauß ist. Vorbildlich setzt sie nicht nur stimmliche Highlights bei bester Wortverständlichkeit und hoher Intonationsreinheit, glänzt bei den Koloraturen, sondern überzeugt gleichzeitig auch als Schauspielerin, innig Daphnes Seelenzustände offen legend.
Richard Strauss war ja nicht gerade als Liebhaber von Tenören bekannt. Insoweit wundert es schon, dass die Rollen von Apollo und Leukippos Tenören zugeschrieben sind (dies umsomehr, als Joseph Gregor ursprünglich die Rolle des Apollo für einen Bariton vorsah). Der gebürtige Kanadier Lance Ryan, bei der Premiere durch eine Lebensmittelvergiftung noch ein wenig indisponiert, überzeugte, ja triumphierte bei der besuchten 2. Vorstellung ob seiner ungemeinen Strahlkraft bei stimmlich warmem tenoralem Klang. Schon heute kann man sich deshalb auf ihn als Siegfried freuen (den er an der Oper Frankfurt als nächstes verkörpern wird).
Ensemblemitglied Daniel Behle tritt hier quasi aus der zweiten in die erste Reihe. Sein Leukippos zeigt sich erst vorsichtig mit einem Arm hinter einer Mauer vortastend, beeindruckend dann schnell stimmlich mit seiner unverbrauchten und flexiblen Tenorstimme. Fast in die Tiefen eines Baß muss Daphnes Mutter Gaes vordringen, ungewohnt dunkel gefärbte Töne sind von ihr zu erreichen. Tanja Ariane Baumgarnter, seit dieser Saison Ensemblemitglied der Oper Frankfurt, verleiht der Gaes ein markantes Profil.
Für Bengtsson und Baumgarnter sind Sebastian Waigel und Claus Guth ein ideales Team: Weigle dirigiert mit starken Gesten sehr sängerfreundlich und Guth setzt seine Interpretation sehr an der Musik orientiert um. An dem Ergebnis können sich Darsteller wie Publikum gleichermaßen erfreuen.

Nicht unbedingt ein schwieriges Stück

Richard Strauss faszinierte an der Figur der Daphne der „Augenblick der Verwurzelung, der Übergang in eine andere Welt…“.  Dieser Übergang ist bei der Frankfurter Insznenierung einer der Höhepunkte der Aufführung, gerade weil es keine äußerliche Verwandlung zu einem Lorbeerbaum gibt. Die Anteilnahme am Schicksal der Daphne wird deshalb umso intensiver miterlebt. Das Ende gleicht dem Anfang: Wieder ist die alte Daphne allein auf der Bühne. Jetzt verläßt sie den Ort der Erinnerung. Verharrt auf einer mit Moos überwachsenen Treppe, steigt langsam die Treppen empor, das Vergangene, das Dunkle hinter sich lassend, ohne aber im hellen Licht anzukommen. Zusammen mit dem feinfühligen Spiel des Franfurter Museumsorchesters ergibt dies ein überaus eindringliches Schlussbild mit filmascopischer Reife.
Claus Guths sensible Neudeutung verdeutlicht, dass es sich lohnt, sich mit auch auf den ersten Blick nicht leicht umzusetzende Opern zu beschäftigen. Zumal zusätzlich die blühende Melodik und raffinierte Instrumentalisierungskunst des reifen Richard Strauss vom Frankfurter Museumsorchester unter Sebastian Weigle meisterhaft zur Geltung gebracht wird.

Markus Gründig, April 10


Orlando Furioso

Oper Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
18. Februar 10
Mit anschließenden Foyer-Gespräch „Oper lieben“ (mit Sonia Prina, Brenda Rae, Andrea Marcon, Zsolt Horpácsy und Moderator Steffen Seibert vom ZDF)

Melange aus Gefühl und Liebe (Zsolt Horpácsy)

Antonio Lucio Vivaldi war nicht nur ein großartiger Komponist und begabter Violinist, sondern auch ein Priester. So wundert es nicht, dass er neben seinen vielen Konzerten, die er übrigens für fast alle Instrumente seiner Zeit komponierte, auch im kirchenmusikalischen Bereich sehr aktiv war. Doch darüber hinaus war er auch als Opernkomponist überaus fleißig, wenn er auch erst relativ spät damit begonnen hat. Nach eigenen Bekundungen komponierte er 94 Opern (wohl inklusive Adaptierungen, Neueinrichtungen und Bearbeitungen fremder Werke). Damals war auch sein Opernschaffen sehr unterschiedlich eingeschätzt worden, heute ist es weitgehend unbekannt. Selbst in den Opernführern wird er, wenn, nur am Rand erwähnt. Dies spiegelt sich erst recht in der Aufführungspraxis wider. Wobei sein „Orlando Furioso“ (nach dem gleichnamigen, parodierenden Epos von Ludovico Ariosto), zuletzt sogar mehrfach inszeniert wurde (z.B. im Oktober 2008 von Aurelia Eggers an der Oper Bonn, im Mai 2009 von Barrie Kosky am Theater Basel und im November 2009 von Christof Nel an der Bayerischen Theaterakademie in München).
In seiner Musik verwendet Vivaldi ein sehr abwechslungsreiches und weit gefächertes Instrumentarium, das bei seinen Opern zu eingehenden Charakterzeichnungen führt. Die vertrackte Geschichte des „Orlando Furioso“ bietet dafür gute Gelegenheit, stehen doch überzeichnete Personen im Mittelpunkt der etwas unübersichtlichen Liebeswirren.
Gleichwohl ist die Klangfülle der 1727 uraufgeführten Oper nicht vergleichbar mit der von Opern des 20. oder 21. Jahrhunderts. Aber gerade das macht es spannend, den vielen Feinheiten der Musik zu folgen. Zumal die Oper Frankfurt mit einem ausgezeichneten Spezialisten für historische Aufführungspraxis aufwartet: mit dem italienischen Dirigenten Andrea Marcon.
Und auch das Frankfurter Museumsorchester (= Opernorchester) kann stolz auf sich sein, ist es doch nach Marcons Aussage, mittlerweile das beste deutsche Barockorchester (innerhalb der Opernorchester; die ja die gesamte Bandbreite von Barock bis zur Moderne spielen). Bis auf einem Fagott und zwei Oboen wird ausschließlich auf Barockinstrumenten, mit exaltierter Virtuosität, gespielt (Andrea Marcon dirigiert nicht nur, sondern spielt bei den Rezitativen noch eines der beiden Cembalos). Das Stück wurde geringfügig gekürzt. Laut Marcon bekommt das Frankfurter Publikum „7/8“ der Partitur zu hören. Lebendigkeit erfährt die Oper vor allem in den Rezitativen, da diese dem Klangbild des Sprechens folgen, das eben nicht gleich klingend wie eine Computerstimme ist, sondern mit unterschiedlichen Tempi jedes Mal die jeweilige Situation unterschiedlich färbt. So ist jede Aufführung ein Original und ein Mehrfachbesuch dringend empfohlen!

Schon Aristos Intention nach soll sein Epos „Der rasende Roland“  „Unterhaltungsliteratur“ sein: „zum Vergnügen und der Entspannung der höfischen Damen und Herren“. Diesem Ansatz folgt der junge Regisseur Davíd Bösch bei der Frankfurter Erstaufführung dieser Oper des Spätbarocks. Barocke Optiken gibt es bei dieser Inszenierung allerdings weder im Bühnenbild von Dirk Becker, noch bei den Kostümen von Meentje Nielsen zu sehen. Die imaginäre Zauberinsel der Alcina erinnert mit ihren archaisch anmutenden großen Felsbrocken eher an ein Zuhause von Wilma und Fred Feuerstein, die darin eingebaute elegante Bar und ein paar Wohnungsrequisiten transportieren es kontrastierend, wie auch die Kostüme, in die Neuzeit (die hier irgendwo zwischen den 60er des 20. Jahrhunderts [Musiktruhe] und der Gegenwart [Laserschwert] liegt).

David Bösch hat sich bereits durch seine Theaterinszenierungen einen Namen gemacht, seit der Saison 2005/2006 ist er Hausregisseur am Schauspiel Essen, zwei seiner Inszenierungen wurden zu den Salzburger Festspielen eingeladen. Orlando Furioso ist erst seine zweite Operninszenierung. Bei Barockopern sind die Da-capo-Arien eine besondere Herausforderung an die Regie (nach Marcon gar ein Albtraum), da bei den Wiederholungen die Sänger ja nicht ihr Handeln wiederholen können. Bösch begegnet dem mit vielen humoristischen Einfällen, die für eine große Abwechslung sorgen, allerdings auch dafür, dass die Sänger zusätzlich szenisch außerordentlich viel zu leisten haben. Da folgt eine Pointe der nächsten. Bösch vermeidet aber einen Absturz zur Klamotte und findet insbesondere für die Largoteile berührende Bilder und Momente (zum Beispiel wenn sich Alcina und Ruggiero, nur durch einen Vorhang getrennt, näher kommen). Langeweile ist bei dieser dreieinhalbstündigen Aufführung also nicht angesagt, ganz im Gegenteil. Zumal das Bühnengeschehen von bravourösen sängerischen Leistungen getragen wird.
Allen voran glänzt die auf Hosenrollen spezialisierte italienische Altistin Sonia Prina in der Rolle des Orlando. Neben ihrer Niedermetzelungsarie im ersten Teil und ihrer Wahnsinnsarie im zweiten Teil, besticht sie auch bei den weiteren Arien und Rezitativen mit ihrer intensiven Rollenausstattung und ihrem schattierungsreichen Gesang (dabei ist sie auch Mutter und muss, wie sie im Foyergespräch verriet, im Anschluss an die Vorstellung ihren erst vier Monate alten Sohn stillen).
Der Alcina verleiht die Mezzosopranistin Daniela Pini Anmut und Würde. Die Angelica der Brenda Rae versprüht jugendliche Unbekümmertheit und Katharina Magiera gibt der Bradamante Klasse und Stil. Eine weitere Hosenrolle ist die des Medoro (einfühlsam: Paula Murrihy). Die wahren Männer sind hier in Form von Astolfo (Florian Plock) und Ruggiero (Countertenor William Towers) Hausmeister und Babysitter. Wobei Ruggieros, nur von einer Traversflöte unterstützte, „Sol da te, mio dolce amore“ den romantischen Höhepunkt des Abends bildet.
“Der rasende Roland“, wie die deutsche Übersetzung lautet, ist ein schwieriges Werk, dass die Musiker an ihre Grenze treibt, szenisch nicht leicht umgesetzt werden kann und auch sängerisch bewältigt werden will (Vivaldi komponierte die Singstimmen wie für ein Instrument, d.h. Zeit zum Atmen ist kaum vorhanden). Dem Frankfurter Produktionsteam ist dank guter Zusammenarbeit eine spielerische und leicht anmutende Umsetzung mit Tiefgang gelungen.

Markus Gründig, Februar 10


Madame Butterfly

Staatstheater Mainz
Besuchte Vorstellung:
15. Januar 2010 (Premiere)

Im Irrgarten der Liebe

Die Zeiten in denen nahezu nur Männer Opern inszenierten, sind schon länger vorbei, auch wenn es auf diesem Gebiet mit der Frauenquote noch nicht besonders gut aussieht. In den letzten Jahren haben bekannte Frauen wie Doris Dörrie, Kirsten Harms, Christine Mielitz und Katharina Thalbach immer wieder für Aufmerksamkeit gesorgt. Und auch längst gibt es eine jüngere Generation von Opernregisseurinnen, wie beispielsweise Tatjana Gürbaca, Sandra Leupold und Vera Nemirova. Zu Ihnen ist auch die 31-jährige Katharina Wagner zu zählen, die jetzt mit Puccinis Madame Butterfly bereits ihre achte Inszenierung präsentierte! Die Mehrzahl Ihrer Inszenierungen waren Stücke ihres Urgroßvaters: „Der Fliegende Holländer“ (Würzburg, 2002), „Lohengrin“ (Budapest, 2004), „Die Meistersinger von Nürnberg“ (Bayreuth, 2007), „Rienzi“ (Bremen, 2008) und „Tannhäuser“ (Las Palmas, 2009). Zwischen diesen Inszenierungen folgten Ausflüge zu Lortzing (Der Waffenschmied, München, 2005) und Puccini (Il trittico, Berlin- Deutsche Oper, 2006).
Puccinis „Madame Butterfly“ ist musikalisch ein spätromantischer Höhepunkt. Die leidenschaftliche Liebesgeschichte einer starken, aber unglückseligen Frau wurde von ihm mit zuckersüßen Melodien ausgeschmückt, die zudem noch eine Vielzahl exotischer Klänge à la giapponese beinhalten.

Madame Butterfly
Staatstheater Mainz
Abbie Furmansky, Alexander Kröner, Statisterie
Foto: Martina Pipprich ~ martina-pipprich.de

Eine sich ihrer Situation vollständig bewussten Frau steht von Anfang an im Mittelpunkt

Calixto Bieito Bieito setzte diese Oper 2005 an der Komischen Oper Berlin in das Spannungsfeld zwischen Ost & West und modernem Sextourismus. Im vergangenen September wies Jetzke Mijnssen an der Oper Basel auf die Notlage heutiger Migrantinnen hin. Mit Spannung wurde nun erwartet, welche Sicht wohl Katharina Wagner dieser Oper abgewinnen wird.
Vom amerikanischen Imperialismus ist bei Katharina Wagners Inszenierung (szenische Mitarbeit: Alexander Busche) genauso wenig zu sehen, wie japanischer Kolorit, eine Buddha-Statue oder der Hafen von Nagasaki. Dies wird nicht vollständig ausgelassen, erscheint aber nur nebenbei (so werden im 2. Akt im Hintergrund dreimal zwei Soldaten niedergestreckt, ist ein Enjo kosai-Mädchen eine von Goros angebotenen Geishas). Im Mittelpunkt dieser facettenreichen Inszenierung steht eine Frau, die von Anfang an schon ihr Schicksal ahnt, die keine kokette, jugendliche Unbekümmertheit und Verliebtheit versprüht, sondern die sich ihrer Situation vollständig bewusst ist. Ihre Utopien, ihre Erinnerungen, ihr Leben, trägt sie in kleinen Schachteln mit sich. Bezeichnend ist das große Liebesduett zum Ende des 1. Akts. Butterfly und Pinkerton schauen sich dabei nicht an. Sie blickt entrückt vor sich hin, er steht hinter ihr und hantiert umständlich an den Bändern ihres Mantels (hält sie wie Zügel, so als bestimme er ihren Weg).

Keine Gefühlsduselei

Ein vermeintlich romantisches Liebesgefühl stellt sich bei dieser Inszenierung nicht ein, dafür macht Butterflys einsame und bekümmerliche Situation viel zu betroffen. Dennoch ist es auch eine ungemein frohe, bunte und sehr lebhafte Umsetzung (auch wenn sich mögliche Erwartungen manch konservativ eingestellter Besucher nicht in der Szenerie erfüllt), bei der sogar das Ende nicht so brutal ist, wie gemeinhin üblich.
Pinkerton ist als durchschnittlicher Mann im schwarzen Anzug heutiger Zeit gezeichnet, der sich Trieb gesteuert ganz dem Gaukler und Makler Goro ausliefert, dessen Rolle hier deutlich aufgewertet wurde. Goro (trotz Maske darstellerisch großartig: Alexander Kröner) beherrscht jede Situation, manipuliert die Menschen zu seinen Gunsten und wartet mit kleinen Zaubertricks auf.

Häuser der Lust und des Fetisch

Der ursprünglich vorgesehene Berghang bei Nagasaki mit einem japanischen Haus mit Terrasse und Garten existiert hier nicht. Zu sehen gibt es zu Beginn eine nüchterne Bühnenfläche mit verschiedenen großen und in unterschiedlichen Farben angestrahlten Quadern, die einzelne Räume darstellen (Bühnenbild und Licht: Monika Gora). Der Vorgabe entsprechend werden diese gedreht, verschoben und neu angeordnet. In diesen Räumen, die wie kleine Schaufenster wirken, befindet sich eine illustre Schar heiratswilliger Kandidaten: eine großbusige Frau im Ganzkörperlackanzug, eine Königin und eine Krankenschwester in Strapse, eine Putzfrau, ein Transvestit in bajuwarisch anmutenden kurzen roten Röcken (ausgestattet mit einer großen Mistgabel), ein Seefahrer und ein gefesselter Jüngling (wer für die laufende Fastnachtskampagne noch Kostümideen braucht, findet hier eine Vielzahl von Anregungen; Kostüme: Thomas Kaiser).
Warum sich Pinkerton (solide: Sergio Blazquez) nun ausgerechnet die so vollständig anders gekleidete Butterfly auswählt, bleibt wohl sein Geheimnis. Oder ist es schlicht seine Neugier, was sich hinter diesem Äußeren für ein Mensch verbirgt?
Butterfly ist, wie ihre Zofe Suzuki, in ihrem „Zuhause“ mit Bändern ihres Mantels an eben dieses Haus gefesselt. Mit der Heirat wird diese Verbindung gelöst, doch ihre Bänder, ihre Ketten, wird sie nie loswerden. Im Gegenteil, sie mutieren später gar ins endlose. Genauso wenig wird sie ihren Mantel los, dieser gleicht mehr einer Zwangsjacke als einem Kimono. Dazu trägt sie fast die ganze Aufführung über einen blauen Schleier, um ihr Innerstes zu bewahren und zu schützen. Abbie Furmansky gibt der Butterfly eine berührende Intensität, besticht sowohl bei ihrem „Un bel di vedremo“, wie auch in ihren Duetten mit Pinkerton und Suzuki (ihr ebenbürtig: Patricia Roach).
Mit einer eindrucksvollen Optik wartet der zweite und der dritte Akt auf. Im Vordergrund wird ein schlichtes Zimmer von Butterfly angedeutet, im Hintergrund türmen sich, wild aufeinander gestellt, weitere Zimmer übereinander. Grünes Neonlicht sorgt für eine bizarre Atmosphäre, denn die Zimmer warten mit allerhand Absonderlichkeiten wie liebesdienstbereiten Frauenbeinen, dicken Busen und Galgenstricken auf. Das Alter Ego Pinkertons irrt durch diese Räume, Blut an die Wände schmierend, suchend, verweilend und doch rastlos. Währenddessen leidet Butterfly, schreibt sich ihre Sehnsucht mit großen Lettern an die Wände: LOVE, PEACE, FAITH, TRUST und mehr, Pinkerton kommt dabei jedoch nicht vor. Auch nicht ihr Sohn. Konsequenterweise existiert er nur als rote Erinnerungsschachtel.
So steht Butterfly als in ihrem eigenen Kosmos gefangene Person da, zeit- und ortlos, als Symbol auch für so manch unter uns Not leidende(n).
Am Ende des zweiten Akts verschwimmen durch einen weiteren Trick Goros diese Worte. Butterflys Ende ist besiegelt. Wobei der Ausgang offen bleibt: Goro triumphiert über Pinkerton, sie bleibt allein zurück (da es kein Kind gibt, muss sie sich auch nicht töten, um ihm eine Zukunft zu ermöglichen).
Butterflys Freundinnen und Verwandte agieren als Botschafter einer dunklen Macht, in langen Mänteln und schwarzen Masken (Choreinstudierung: Sebastian Hernandez-Laverny).

Musikalische Glanzleistung

Wo die Regie einen zeitgemäßen Interpretierungsansatz zeigt, wird auf musikalischer Ebene ganz dem Meister Puccini Tribut gezollt. Catherine Rückwardt und das Philharmonische Staatsorchester Mainz leuchten die schwärmerischen Melodien einfühlsam und intensiv aus, differenzieren dabei sehr genau und sorgen für all die schönen Emotionen, die zum Thema Liebe denkbar sind. Ein Höhepunkt romantischer Glückseligkeit ist das Vorspiel zum 3. Akt.

Am Ende großer Zuspruch und, wie sollte es auch anders sein, einige Buh-Rufe für das Regieteam. Wobei Katharina Wagner wegen einer Lungenentzündung ihres Vaters am Premierenabend in Bayreuth weilte.
Wer eine musikalische Erinnerung dieser Oper behalten will: auf der CD „Italienische Operngala im Staatstheater Mainz“ des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz ist neben dem Summchor auch die Arie „Un bel di vedremo“ und das Duett „Scuoti quella fronda di cigliegio“ aus Madame Butterfly enthalten (mit Abbie Furmansky und Patricia Roach).

Markus Gründig, Januar 10


Das Paradies und die Peri

Staatstheater Wiesbaden
Besuchte Vorstellung:
29. November 09

Als Opernkomponist ist Robert Schumann den Wenigsten bekannt, auch wenn seine „Genoveva“ durchaus ab und an gespielt wird. Berühmt ist er als Lyriker der Romantik, weniger als Dramatiker. Schumann selbst war von der Kunstform Oper begeistert und näherte sich ihr zaghaft an. Sein weltliches Oratorium „Das Paradies und die Peri“ hatte im Jahr 1843 seine Uraufführung und war zu Lebzeiten Schumanns schnell sehr populär. Damals wie heute wird es, wenn, dann meist konzertant gegeben. Eine szenische Aufführung besitzt somit absoluten Seltenheitswert.
“Das Paradies und die Peri“ ist ein Märchen für Erwachsene, „eine morgenländische Romanze“ (Thomas Moore). Ist es auch kein Kirchenwerk, enthält es doch eine fast biblische Botschaft. Ein gefallener Engel (die Peri) strebt nach Erlösung, die Wiederaufnahme in den Himmel. Das märchenhafte daran ist, dass der Engel es schafft und so vermittelt das Stück auch Hoffnung für die Menschheit, für die der Engel steht. Der Mensch ist zwar gefallen und erlösungsbedürftig, doch er ist auch fähig, es zu schaffen…

Das Paradies und die Peri
Staatstheater Wiesbaden
Die Peri (Sharon Kempton) und Robert (Jonas Gudmundsson)
Foto: Martin Kaufhold ~ martinkaufhold.de

Denkt man bei Robert Schumann an Verträumtes und Romantisches, so ernüchtert das erste Bild am Staatstheater Wiesbaden (das dieses Werk als seinen Beitrag zum Robert-Schumann-Jahr 2010 betrachtet) dann doch ein wenig. Keine zauberhafte Landschaft erwartet hier den Zuschauer, sondern ein nüchterner, kahler Raum, der nach hinten abfällt und mit einer abgehängten Decke mit Neonlampen beinahe klaustrophobische Enge vermittelt. Allein ein Krankenbett steht rechts, auf ihm sitzt ein Mann, der Erzähler (der hier, anders als bei einem klassischen Oratorium, die Solostücke mit sprachnahem Gesang statt mit Rezitativen verbindet). Dieser Mann steht gleichzeitig auch für Robert Schumann (der nach seinem Selbstmordversuch (Sprung in den kalten Rhein bei Düsseldorf) bis zu seinem Tod zwei Jahre in Endenich (heute ein Stadtteil von Bonn) in einer Nervenheilanstalt verbrachte). Aus seinem Kopf entspinnt sich die Geschichte um den gefallenen Engel als seine persönliche Heilungssehnsucht. Jonas Gudmundsson gibt ihn mit vornehmer Zurückhaltung.
Die Krankenstube wird immer wieder in blaues Licht getaucht, blau als Farbe der Romantik, als Hinweis auf die Blaue Blume, deren Fund innere Einheit, Heilung und Unendlichkeit verspricht. Durch Hochfahren der Wände öffnet sich dieses Krankenzimmer für die einzelnen Begegnungen der Peri, wobei der nüchterne Charakter stets erhalten bleibt, auch wenn beispielsweise eindrucksvoll ein weißer Panzer einfährt (Bühne: Heinz Hauser). Regisseur David Mouchtar-Samorai bricht die Tristesse jedoch durch je ein Quartett Clowns und Tänzer (Choreografie: Andrea Heil) immer wieder auf.
Als Peri singt und spielt sich äußerst elanvoll Sharon Kempton in das Herz der Zuschauer: Intensiv bei dem Schlaflied „Schlaf’ nun und ruhe in Träumen voll Duft“ (ein Höhepunkt der Partitur) und von der Dramatik weit ins Opernhafte reichend bei „Verstoßen! Verschlossen aufs neu“. Im Mittelpunkt steht jedoch die Musik von Robert Schumann, die ihre Feinheiten vor allem in den liederähnlichen Arien zeigt, die kunstvoll mit seinem sinfonischen Stil verbunden sind. Schumanns schwärmerische Innigkeit vermittelt das Orchester des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden unter der Leitung von Sébastien Rouland überaus feinsinnig. Beeindruckend und sich in den Vordergrund spielend, präsentiert sich der von Christof Hilmer bestens einstudierte Chor. Beim groß angelegten finalen Lied „Freud’, ew’ge Freude, mein Werk ist getan“ steigert er sich gemeinsam mit der Peri von frohen zu hymnischen Gesängen und sorgt damit für einen glanzvollen Abschluss eines facettenreichen Musiktheaterabends im Stile der Romantik.

Markus Gründig, Dezember 09


Die tote Stadt

Oper Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
22. November 09 (Premiere)

Als Youngster groß gefeiert, später wurde es um ihn ruhiger: Erich Korngold (G. Puccini: „Stärkste Hoffnung der neuen deutschen Musik). Seine 1920 fertig gestellte Oper „Die tote Stadt“ ist sein bekanntestes Werk, das heute im gängigen Opernrepertoire zwar nicht vergessen, aber dennoch eine Randstellung einnimmt. Haftet Korngolds Musik zu wenig Originalität an? Ist er als rückwärtsgewandter Eklektiker zu sehen? Oder ist seine effektvolle Unterhaltung keine seriöse E-Musik? Manchen sind Korngolds Klangeruptionen, gepaart mit seinem sicheren Gespür für die Ohren umschmeichelnden Melodien einfach zu viel. Dabei bietet das dichte Gewebe von Bezügen und Stimmungen beeindruckende Höreindrücke, die nun in einer farbenfrohen und intensiven Inszenierung zu sehen ist. In Frankfurt wurde die Oper bereits 1921 aufgeführt (unter dem Dirigat von Eugen Szenkar). Bei der aktuellen Neuinszenierung leitet Frankfurts Generalmusikdirektor Sebastian Weigle das Museumsorchester. Dabei hält er brillant die Balance zwischen klangvoller Verdeutlichung des rauschhaften Charakters der Musik (bei dem die Wucht des Orchesterapparates zwangsläufig gebändigt werden muss) und der notwendigen Klangtransparenz.
Die Oper geht auf Rodenbachs Roman „Bruges-la-morte“ zurück, einem Kultstück des Fin de siècle. Die Theaterbearbeitung („Das Trugbild“) wurde 1903 von Siegfried Trebitsch bearbeitet. Das Libretto zur Oper stammt von Hans Müller, zumindest der Anfang. Später bearbeitete es Korngolds Vater unter dem Pseudonym Paul Schott. Wobei Paul für die Hauptfigur der Oper steht, Schott ist der herausgebende Verlag, dessen Teilhaber Dr. Ludwig Strecker die Oper gewidmet ist.

Die tote Stadt
Oper Frankfurt
Paul (stehend: Klaus Florian Vogt), Frank (sitzend: Michael Nagy) und Marietta / Marie (auf den Monitoren abgebildet: Tatiana Pavlovskaya;)
Foto: Barbara Aumüller ~ szenenfoto.de

Für die Frankfurter Neuinszenierung konnte der erfahrene Theatermann Anselm Weber (Intendant am Theater Essen, demnächst in gleicher Position am Theater Bochum) gewonnen werden, der hier bereits im Januar 2004 „Katja Kabanová“ und im Dezember 2006 „Tiefland“ inszenierte. Zusammen mit dem Damentrio Katja Haß (Bühne), Bettina Walter (Kostüme) und Bibi Abel (Video) zeigt Weber die Oper als buntes und überaus opulentes Bühnenwerk, die zentralen Begriffe der Oper (Tod, Vergänglichkeit und Traumverlorenheit) sind allgegenwärtig und plakativ herausgestellt. So stehen Korngolds musikalischen Einfällen die szenischen in Nichts nach. Die dem Stück anhaftenden morbiden Züge werden nicht geleugnet, vielmehr effektvoll, farbenfroh und grell überzeichnet.
Ein nostalgisch gestalteter Bühnenvorhang stimmt im Vorfeld auf die düstere Atmosphäre in Brügge, dem Venedig des Nordens, ein, dem Ort in dem die Oper spielt. Brügge tritt als Ort aber zu keiner Zeit hervor. Zunächst wirkt der spitz über den Orchestergraben ragende Einheitsbühnenraum aus großen braun gefärbten Tafeln wie die zarte Andeutung einer Stadt. Doch schon bald entpuppen sich die Wände im fahlen graubläulichen Licht als eine große Leichenkammer, bei der sich einzelne Türen öffnen und gespenstische Schattenwesen und Tote erscheinen. Linkerseits steht ein mit großen Falttüren ausgestatteter Kubus, der sich als „Die Kirche des Gewesenen“ erweist, also des manisch trauernden Pauls intime Erinnerungsstätte an seine verstorbene Frau Marie. Viel Wert wurde auf ausgefallene Kostüme gelegt: halloweenmäßige wie bei der Prozession, kunterbuntes wie bei der Schauspielertruppe und weiße Reifröcke (bei Brigittas Nonnen) und rote Abendkleider für das Dutzend Mariettas, die dem Ende zu Paul in seinem Wahn erscheinen. Webers starker Aktionismus läuft parallel mit der Musik, es passiert sehr viel auf der Bühne, tun sich im Boden Öffnungen auf, wird auf Brügges Grachten gerudert, sorgt Alan Banes mit bezaubernden und berührenden Tanzeinlagen für intime Momente, schneit es friedvoll und per Videoeinblendung zeigt sich Marie dem Paul kaleidoskopartig.

Die tote Stadt
Oper Frankfurt
Fritz (mit Schirm in der Bildmitte: Michael Nagy), Marietta / Marie (im Hintergrund links in weißem Kleid: Tatiana Pavlovskaya) und Lucienne (rechts mit rotem Haar: Jenny Carlstedt) sowie Ensemble

Foto: Barbara Aumüller ~ szenenfoto.de

Klaus Florian Vogt ist bei dieser Produktion erstmalig an der Oper Frankfurt zu Gast, die Rolle sang er bereits im vergangenen Jahr an der Wiener Staatsoper. Er zeigt einen gefestigten, starken Mensch, die tief in ihm liegende Trauer und Verzweiflung kommt partiell an die Oberfläche. Mit seiner tragfähigen Stimme meistert er die anstrengende Partitur, die eine nahezu vollständige Bühnenpräsenz erfordert, überaus glanzvoll. Ebenbürtig stark gibt Tatiana Pavlovskaya die laszive Tänzerin Marietta. Ihr „Glück das mir verblieb“ singt sie voller Wärme und intensiver Fülle. Michael Nagy, der sich zuletzt am gleichen Ort dem Publikum als Liedsänger präsentierte, begeistert als leidenschaftlicher Frank, Pauls Freund und Nebenbuhler. Als Pierrot Fritz führt er den Hit „Mein Sehnen, mein Wähnen“ mit intensiver, anrührender Gestaltung und schönem Schmelz vor.
Nicht nur für diejenigen die den Verlust eines Geliebten zu betrauen haben oder hatten, bietet diese Inszenierung die Möglichkeit zur eigenen Trauerarbeit. Und vielleicht ist dann Paul nicht der Einzige, der eine Katharsis durchlebt.

Markus Gründig, November 09


Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg

Oper Nürnberg
Besuchte Vorstellung:
17. Oktober 09 (Premiere)

Die erste Opernneuinszenierung der Saison 2009/20010 am Staatstheater Nürnberg übernahm eine Frau. Die gebürtige Britin Rosamund Gilmore präsentierte ihren Blick auf Wagners „Tannhäuser“ (den sie schon einmal am Staatstheater Kassel inszeniert hat). Die gelernte Tänzerin und Choreographin inszeniert erfolgreich seit 18 Jahren auch Opern (für ihre Inszenierung von Franz Hummels Oper „Der Richter und sein Henker“ am Theater Erfurt ist sie für den diesjährigen deutschen Theaterpreis „DER FAUST“ in der Kategorie Regie Musiktheater nominiert). Gilmore richtet am Staatstheater Nürnberg den Schwerpunkt weniger auf Tannhäusers Konflikt zwischen Venus und Elisabeth, als auf die innere Person des Tannhäuser, auf einen stets unruhig suchenden Künstler. Alles Geschehen spielt sich letztlich in seinem Kopf ab.

Der erste Akt spielt in einem Musikzimmer Tannhäusers, in dem sich Flügel, Pult, Ruheliege, Bücher und eine Büste befinden. Die Begrenztheit des Raumes wird durch Blicke auf die offenen seitlichen Bühnenbereiche verstärkt. Im Zentrum des Raumes, wie auch der gesamten Inszenierung, steht als verbindendes Element ein Flügel, Sinnbild für den liebeskranken und strauchelnden Künstler. Anfangs steht er forsch aufgerichtet fast auf dem Kopf, doch schon bald verlässt ihn die Kraft und er sinkt nieder, im dritten Akt sind gar nur noch Bruchstücke übrig. Dazu öffnet sich Tannhäusers Musikraum. Erst nach hinten, später auch seitlich, um Raum für die Talszene zu geben, bei der die Sänger auf einer Art Präsentierteller stehen. Im zweiten Akt kommen für die Sängerhalle der Wartburg noch zwei große Tribünen hinzu. Eine imaginäre Landschaft zeichnet sich am Horizont ab (Bühne: Carl Friedrich Oberle), wobei Tannhäusers Behausung stets omnipräsent, wenn auch nur noch als Überbleibsel, über die Szenerie schwebt.

Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg
Staatstheater Nürnberg
Mardi Byers; Guido Jentchens; Richard Decker; Vladislav Solodyagin; Rainer Zaun; Christopher Lincoln; Martin Nyvall; Jochen Kupfer, Chor, Extrachor
© Karen Stuke – theaterfoto.com

Zwar wirken bei dieser Inszenierung auch Damen des Bewegungsensembles mit, doch große Tanzszenen gibt es nicht, obwohl sogar die Pariser Fassung gegeben wird. Für Regisseurin Rosamund Gilmore ist die Bacchanal-Szene absolut keine Tanzmusik (wie sie im aktuellen Theatermagazin „impuls“ sagt).
Venus und ihre acht Sirenen (von Nicola Reichert in sittsame, pastellfarbene Negligees gesteckt), umschwärmen Tannhäuser wie leichte Damen in einem Pariser Bordell (die Inszenierung siedelt das Stück im 19. Jahrhundert an). Venus ist quasi Chefin eines Freudenhauses. Alexandra Petersamer gibt sie passend als Grand Madame der halbseidenen Welt, fröhlich und lustvoll wie eine Bette Midler, bei bester vokaler Präsenz. Konträrer dazu rollengemäß die Elisabeth, die hier im blauen Kleid, bis oben zugeknöpft aber dafür mit durchsichtigen Ärmeln, von Mardi Byers eindringlich gegeben wird und bei ihrem Fürbittgebet zugunsten Tannhäusers für Gänsehaut sorgt. Wahrlich auftrumpfen tut das Staatstheater Nürnberg jedoch bei den männlichen Stimmen. Mit dem Wagner-Spezialisten Richard Decker wurde ein großartiger Tannhäuser verpflichtet, ein ausgezeichneter Heldentenor, der mit einer exzellenten Diktion und galanten Stimmführung faszinierte (dabei sang er den Tannhäuser hier zum ersten Mal). Außerordentliches bietet das Staatstheater Nürnberg jedoch mit seinen hervorragenden Ensemble, angeführt mit einem kräftigen und dennoch balsamischen Landgrafen von Thüringen (Guido Jentjens) und einem stimmschönen Wolfram (Jochen Kupfer), der sein Lied an den Abendstern kniend singt.
Gilmores Inszenierungsansatz eines Seelenporträts Tannhäusers, greift auch Christof Prick mit den Nürnberger Philharmonikern auf, intensiv die zarten und poetischen Zeilen der Partitur hervor hebend.
Tannhäuser als Künstlerdrama, als eine Möglichkeit darin Parallelen zum jungen Richard Wagner zu erkennen: die Neuinszenierung am Staatstheater Nürnberg bietet keine neuen Interpretationsansätze. Dafür aber eine bildschöne, runde und publikumsfreundliche Inszenierung, die zudem mit einer vortrefflichen Sänger- und Orchesterleistung dem Haus zur Ehre gereicht.

Markus Gründig, Oktober 09


L´Oracolo / Le Villi

Oper Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
8. Oktober 09

Zweifelsohne ist Giacomo Puccini einer der ganz großen Opernkomponisten, seine Hauptwerke bestimmen weltweit die Liste der meistaufgeführten Opern mit, sei es „La Bohéme“, „Madame Butterfly“ oder „Tosca“. Sein frühes Werk „Le Villi“ („Die Willis) ist dagegen weitgehend unbekannt. Eine noch viel größere Opernrarität stellt heute Franco Leonis „L´Oracolo“ (Das Orakel“) dar, dieser Komponist ist selbst noch nicht einmal mal in guten Lexika aufgeführt (geschweige denn, diese Oper). Dabei war er ein Zeitgenosse Puccinis und „L´Oracolo“ wurde einst an der New Yorker MET immerhin über 50mal aufgeführt.
Zu diesen heute unbekannten Opern kommen ihre ungewöhnlichen Handlungsorte: Chinatown in San Francisco („L´Oracolo“) und ein Dorf im Schwarzwald („Le Villi“). Grund genug, den Opernhorizont zu erweitern und sich auf diese beiden Einakter des Verismus einzulassen. Zumal sie in Frankfurt vom Inszenierungsteam Sandra Leupold (Regie) und Heike Scheele (Bühnenbild und Kostüme) durchaus naturalistisch gezeigt werden: mit typischen Kostümen und Kulissenteilen, dass man denken könnte, man sei eher in der MET als in einem deutschen Opernhaus. Bei L´Oracolo gibt es ein chinarotes, turmähnliches Wohngebäude und typisch chinesisch anmutende Kleidung (nebst Hüten) zu sehen, bei „Le Villi“ sind es Schwarzwalddirndls und ein kleines Haus im Stil einer Kuckucksuhr. Allerdings muss niemand einen Rückschritt in eine bei uns längst zurückgelegte Aufführungspraxis befürchten. Diese naturalistische Darstellung ist Teil einer übergeordneten Inszenierung, wodurch der Verismus gebrochen und offen hinterfragt wird. Die beiden Opernhandlungen sind in eine große TV-Show eingerahmt und miteinander verbunden. Publikum (= der von Matthias Köhler einstudierte Chor) sitzt auf großen, beweglichen Tribünen um die Opernmanege herum. Oper wird im medialen Zeitalter nur noch als ein Event unter vielen akzeptiert, entsprechend populär muss sie präsentiert werden. Das Publikum gibt sein Voting über das Gezeigte per Handsender ab (am Ende von „Le Villi“ steinigt es gar mit diesen Geräten den an einem „Glücksrad“ gefesselten, treulosen Roberto). Ein Kamerateam fängt Livebilder ein, die auf einer Studioleinwand übertragen werden, drei attraktive, langbeinige Hostessen und ein gut aufgelegtes Moderatorengespann in Glitzeroutfit (Ingrid El Sigai und Marcus Hosch) begleiten dieses Opernshowevent.
Dazu geschieht auf der Bühne ununterbrochen etwas. Das Showpublikum kommt und geht, genauso wie die Moderatoren und die reizenden Hostessen, zeitgleich läuft die eigentliche Handlung in der Mitte auf der Drehbühne ab. Gerade bei „L´oracolo“ passiert während der gut einstündigen Aufführung allein schon von der eigentlichen Opernhandlung so viel, Richard Wagner hätte dies wahrscheinlich zu einem Opernzyklus wie dem mehrstündigen „Ring“ gereicht. 
Die Musik Leonis ist sanft und aufbrausend, vor allem aber vielschichtig. Ein chinesischer Kolorit ist hörbar und die Musik umschmeichelt mit gefälligen Melodiebögen die Ohren. Stefan Solyom (Generalmusikdirektor des Deutschen Nationaltheaters Weimar) am Pult des Museumsorchesters vermittelt die Feinheiten sehr plastisch. Leider ist man als Zuschauer durch den starken Bühnenaktionismus schon visuell stark gefordert, so dass es schwer fällt, sich auf diese vielgestaltigen Klänge einzulassen und sie zu würdigen.
Puccinis „Le Villi“, als zweites gespielt, wirkt im Vergleich schon ausgereifter und stärker, auch wenn diese Oper ein Frühwerk Puccinis ist (allerdings nach Madame Butterfly komponiert wurde). Im sängerischen Mittelpunkt steht hier natürlich der Tenor, hier ist es Carlo Ventre (der schon oft in Frankfurt zu Gast war), mit scheinbarer Leichtigkeit glänzt er insbesondere bei „Le Villi“ und erfüllt mit seinem kräftig strahlenden tenoralen Glanz alle Erwartungen. Für berührende Momente sorgt mit vokalem Glanz aber auch Annalisa Raspagliosi (Ah-Joe in „L´Oracolo“ und Anna in „Le Villi“). Mit intensivem Spiel und sängerischer Leistung auf hohem Niveau gefallen die weiteren Sänger: Ashley Holand (Uin-Sci in „L´Oracolo“), Peter Sidholm (Cim-Fen in „L´Oracolo“ und Guglielmo Wulf in “Le Villi)”, Franz Mayer (Hu-Tsin in „L´Oracolo“), sowie Katharina Magiera („Hua-Qui in „L´Oracolo“).

Markus Gründig, Okt. 09


Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg

Oper Bonn
Besuchte Vorstellung:
18. September 09 (Premiere)

Die unstillbare Gier des Tannhäuser

In Bonn findet das diesjährige Beethovenfest vom 4. September bis zum 3. Oktober 09 statt. Das Motto lautet „Im Licht“ und richtet den Blick auf faszinierende künstlerische Positionen, es bietet dabei neue Perspektiven an, aber auch Bekanntes und vertraute Künstler sind zu hören und zu sehen. Ein Beitrag des Beethovenfestes ist die Neuinszenierung von Richard Wagners romantischer Oper „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg“ an der Oper Bonn. Dessen Generalintendant Klaus Weise übernahm die Inszenierung, die er dem kürzlich verstorbenen Theatermacher und früheren Chefdramaturg des Bonner Theaters, Helmut Postel, widmete (die Beerdigung fand am Premierentag statt).
Wie Weise in einem Interview gegenüber der Zeitschrift „Das Opernglas“ im Vorfeld bekannt gab, interessierte ihn hierbei insbesondere die Zerrissenheit des Tannhäuser zwischen den beiden Frauen (Venus und Elisabeth, als Projektionen der männlichen Gesellschaft) und somit zwischen Leidenschaft und Seelenheil, wie heute mit Sexualität umgegangen wird.
Ergänzend vergleicht Weise im Programmheft Tannhäusers Sucht nach grenzenloser Lüsternheit mit dem heutigen Sextourismus, als Ausbruchsalternative des kleinen Mannes. Dementsprechend frei interpretiert er Wagners Regieanweisungen, geizt seine szenische Umsetzung nicht mit körperlichen weiblichen Reizen (Frauen sehnen sich wohl nicht nach attraktiven Männern). So räkelt sich beispielsweise Venus nackt am Bühnenrand, gibt es plakativ Brüste im XXL-Format zu sehen, Frauen in Strapsen (Sirenen) und sich in den Himmel streckende Beine (Choreographie: Nick Hobbs). Also ein erneuter Fall für Daniel Kehlmann und seine Anhänger? Kehlmann hatte bei den diesjährigen Salzburger Festspielen das moderne Regietheater in Frage gestellt, bei dem Inszenierungen zu hochsubventionierten Absurditäten verkommen, das Stücke verfremdet und somit lediglich fernen Lärm darstellt.
Mitnichten. Abgesehen davon, das Nacktheit hier stets im Kostüm gezeigt wird und so die Phantasie des Zuschauers angeregt wird, sind die Zeiten längst vorbei, wo Nacktheit auf der Bühne noch für einen Skandal sorgte (Kostüme: Fred Fenner). Neben all den aufreizenden Optiken, einem ständigen Wechselspiel zwischen Heiligen und Huren, laufen immer wieder große totenkopfähnliche Fratzen durch die Szenerie. Sex ist nicht nur Geilheit, er kann auch Angst machen und bedrohlich wirken. Dass er als Ausweg, als Fluchtpunkt nicht funktioniert, zeigt Weise besonders eindrucksvoll im groß angelegten Schlussbild (dem ein ausgiebiger Schneefall für eine erfrorene, erstarrte Gesellschaft voranging). Während dem Außenseiter Tannhäuser die späte Begnadigung zuteil wird, die fröhliche Gesellschaft in großer Versammlung auf der Bühne ihr herumswingen nach Hereintragen des Eissarges mit der toten Elisabeth eingestellt hat, fährt von oben ein Netz herunter, indem sich nackte Frauen befinden: gefangen und quasi zum Abschuss frei gegeben. „Vergnügen und Genuss müssen begrenzt bleiben, um als solche erfahren werden zu können.“ (Herfried Münkler)

Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg
Oper Bonn
Tannhäuser (Scott MacAllister), Tänzerinnen, Statisterie
© Thilo Beu

Noch bevor Generalmusikdirektor Stefan Blunier die ersten Takte dirigiert, fährt der Vorhang hoch und der Zuschauer ist Zeuge, wie ein Ritter eine Frau zweiteilt: in die lasterhafte Venus und die reine Elisabeth. Dass Venus und Elisabeth nur zwei Seiten einer Medaille sind, wird hiermit sehr deutlich gemacht.
Während der 15minütigen Ouvertüre gibt Venus einen erotisierenden Tanz am Bühnenrand, unterstützt von einer großen Schar verführerischer Damen (den Sirenen). Dabei ist die Bühne von Martin Kukulies ein ort- wie zeitloser, nackter Raum. Dunkel gehalten, mit einer Gitterdecke und ebensolchem Boden. Diese Decke hat zwar eine runde Öffnung (wie auch der Boden), bleibt aber stets ein geschlossener Raum, eine Grotte eben. Die Freiheit ist unerreichbar, draußen, weit weg. Warme Farbtöne gibt es lediglich beim Sängerfest im zweiten Akt, bei dem aus einer Galerie Venus mit Gespielinnen entfernt zuschaut. Die Trompeteneinsätze werden von der Galerie im Zuschauerraum aus gespielt. Erheiternd wirken die Pilger mit nachempfundenen Jack Wolfskin- T-Shirts und kurzen Hosen, den Gedanken einer reinen Spaßgesellschaft würdig repräsentierend.
Musikalisch agiert Blunier mit Ehrfurcht vor der Partitur. Sängerfreundlich vermeidet ein zu lautes Schmettern des Beethoven-Orchester Bonn und sorgt so für eine transparente Interpretation (gespielt wird eine Mischung aus Dresdener und Pariser Fassung).

Mit dem Amerikaner Scott MacAllister hat die Oper Bonn einen routinierten Wagner-Interpreten gefunden, der die schwierige Rolle mit Leichtigkeit und dennoch großer Strahlkraft bravourös meisterte (bei sehr guter Textverständlichkeit). Ihr Rollendebüt als Venus gab Daniela Denschlag. Vom Produktionsteam wurde sie nicht nur mit einem „Haut-Kleid“ ausgestattet, sondern dem klassischen Bild entsprechend auch mit rot-bräunlichen Haaren. Kann man auch geteilter Meinung über ihren lasziven Bewegungen während der Ouvertüre sein, stimmlich gibt sie der Venus ein passendes Format mit vollen, gerundeten Tönen.

Den meisten Applaus erhielt am Ende Ingeborg Greiner für ihre Interpretation der Elisabeth. Was insoweit verwundert, als dass diese Elisabeth hier als alles andere als eine Heilige gezeichnet ist. Mit offenem Haar, schulterfreiem roten Kleid und großen Gesten könnte sie auch eine Venus sein, da fällt es schon nicht leicht, ihr die Opferrolle abzunehmen. Entsprechend kraftvoll singt sie auch, zeigt aber auch äußerste Innigkeit beim introvertierten Gebet „Allmächt’ge Jungfrau! Hör mein Flechen!“ im dritten Akt.

Lee Poulis gefiel als Wolfram von Eschenbach mit seinem besänftigt vorgetragenen „Lied an den Abendstern“ und Ramaz Chikviladze als Landgraf Hermann. Hervorragend agiert der von Sibylle Wagner einstudierte Chor des Theater Bonn (unterstützt vom Extra und vom Jugendchor des Theater Bonn).

Ob „die Splitter der Heiligkeit, die es im Alltag kaum gibt“ (Weise), hier aufleben, muss jeder Zuschauer für sich in Erfahrung bringen, in der Musik und hinter den oberflächlichen grellen Bildern auf kahler Bühne sind sie jedenfalls angelegt.

Markus Gründig, September 09