»Woyzeck« als Popevent am Staatstheater Wiesbaden

Woyzeck ~ Staatstheater Wiesbaden ~ Woyzeck (Abdul Aziz Al Khayat) ~ Foto: Maximilian Borchardt

Zwei Wochen nach dem großen Eröffnungswochenende zur neuen Spielzeit gibt es am Staatstheater Wiesbaden bereits erneut etwas Außergewöhnliches. Büchners Dramenfragment Woyzeck wird im „Popgewand“ (Ankündigungstext) im Großen Haus gespielt. Die vollmundige Ankündigung ist nicht übertrieben. Schließlich soll vermutlich vor allem ein junges Publikum erreicht werden. Die Rechnung dürfte aufgehen. Mit einer Bühne wie in einem Pop-/Rock-Konzert und zahlreichen Gesangseinlagen wird der Klassiker ansprechend und zeitgemäß präsentiert.

Dauerbrenner Woyzeck

Am 27. August dieses Jahres jährte sich die Hinrichtung von Christian Woyzeck in Leipzig zum 200. Mal. Dessen traurige Geschichte diente Georg Büchner (1813 – 1837) zur Vorlage für sein Drama. In der Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins nimmt Georg Büchner stets vordere Plätze ein, sei es die Summe an Inszenierungen, die Summe an Aufführungen oder die Summe der Zuschauer:innen. Dabei ist sein Œuvre wesentlich kleiner als das seiner Kollegen William Shakespeare, Friedrich Schiller oder Bertolt Brecht. Dennoch führt Büchner mit Abstand die Liste der Stücke mit den meisten Inszenierungen und Aufführungen an (mit Woyzeck). Die Grundfrage des Stückes nach sozialer Gerechtigkeit ist zeitlos und somit aktuell wie nie.

Woyzeck
Staatstheater Wiesbaden
Marie (Tabea Buser)
Foto: Maximilian Borchardt

Fantasylandschaft im Hintergrund

Schon mit der Wahl des Regisseurs hat das Staatstheater Wiesbaden die Weichen gestellt und nicht geknausert. Stefan Pucher inszeniert im deutschsprachigen Raum an allen großen Häusern. Am Schauspiel Frankfurt beispielsweise 2012 Goethes Faust 1. Schon damals zielte er mit vielen Bühneneffekten und Live-Musik auf ein breites Publikum.

Für die Wiesbadener Produktion von Woyzeck hat er gemeinsam mit der Dramaturgin Hannah Stollmayer eine eigene Fassung erstellt. Sie verwendeten die vier Fragmente als Basis und reicherten sie u. a. mit Ausschnitten aus Büchners Pamphlet Der Hessische Landbote an. Die Lyrics für den zum Ende dargebotenen Rap haben Abdul Aziz Al Khayat (Woyzeck) und Tabea Buser (Marie) selbst geschrieben.

In dieser Inszenierung nimmt die Bühnengestaltung eine bedeutende Setzung ein. Noch bei herabgelassenen Vorhang ragt bereits ein Steg bis über die dritte Zuschauerreihe in den Saal hinein, stehen große LED-Tafeln an den Seiten. Die Bühne selbst zeigt sich dann eigentlich schlicht. Sie besteht nur aus einem schwarzen zweistufigen Podest. Dieses ist im Bühnenhimmel gewissermaßen gedoppelt. Wenn es für Franz Woyzeck immer enger, bedrohlicher wird, senkt es sich schräg herab und scheint ihn fast zu erdrücken. Es kommen auch zahlreiche Flutlichtscheinwerfer zum Einsatz. Ein sehr viel größerer Aufwand wurde in den Hintergrundprospekt gesteckt. Hier hat der Malersaal des Staatstheater Wiesbaden Großes geleistet. Er zeigt im Halbrund eine düstere Fantasylandschaft. So wird gekonnt ein Bogen von der Vergangenheit bis in die Zukunft gespannt (Bühne. Nina Peller). Neben großflächigen Projektionen von Live-Bildern und Tieren (Video / Live-Video: Ute Schall und Hannes Francke) spricht niemand geringeres als Georg Büchner selbst zum Publikum. Dabei wirkt der KI-generierte schick gekleidete Büchner ein wenig wie der Märchenkönig Ludwig II.

Woyzeck
Staatstheater Wiesbaden
Tambourmajor (Lennart Preining)
Foto: Maximilian Borchardt

Kontrastreiche Punkte setzen Anabelle Puchers farbintensive Kostüme. Hier fällt natürlich als erstes Franz Woyzeck mit seiner Jacke und einem Hosenkleid im bunten Camouflage-Stil auf (er ist ja Soldat). Markant ist auch der Tambourmajor als schillernde und glitzernde Figur gezeichnet, exaltiert wie ein Bill Kaulitz.

Abdul Aziz Al Khayat in der Titelrolle

In der Neuinszenierung am Staatstheater Wiesbaden ist der 1999 im syrischen Damaskus geborene Abdul Aziz Al Khayat in der Titelrolle zu erleben. Er ist neu im Ensemble, in Rhein-Main aber kein Unbekannter. Am Schauspiel Frankfurt gab der junge Darsteller u. a. in 2022 Wajdi Mouawads Solo Im Herzen tickt eine Bombe. Den gewissenhaft um Frau und Kind sorgenden, aber ob seiner vielen Verpflichtungen total überforderten Woyzeck verkörpert er mit großer Spielfreude und Eindringlichkeit.

Die Marie der Tabea Buser ist eine coole und klar denkende junge Frau mit großer Persönlichkeit. Lennart Preining kann sich als androgyn wirkender Tambourmajor ausleben. Eine Fußverletzung hindert Christian Klischat nicht, den scharfzüngigen und strengen Hauptmann zu geben (geschützt von einer Unterschenkel-Fußorthese und einem Dreirad unterstützt). Pointierte Auftritte geben Adi Hrustemović ( Doctor), Klara Wördemann (Andres) und Laura Talenti (Margreth / Ausrufer). Sie gaben mit Gesichtsmasken versehen auch alte und skurril wirkende Burschen in der Wirtshausszene. Zwei Kinder der Statisterie des Hessischen Staatstheaters erzählen selbstsicher die traurige Geschichte einer Waise. Die dargebotenen Gesangseinlagen unterstützt an der Gitarre Benjamin Kolloch.

Das Ende mit dem gemeinsamen Rap von Woyzeck und Marie ist zugleich ein starkes Statement für Offenheit im Denken. Einmal auf die nach Freiheit strebende Marie bezogen, aber auch in Bezug zur aktuellen Diskussion um die Abschiebepraxis. Denn nicht nur Abdul Aziz Al Khayat leistet als ein in Syrien geborener viel in Deutschland, auch viele andere sind bestens integriert und arbeiten hier unverzichtbar als Lehrer, Ärzte, Pfleger…

Am Ende der 80-minütigen hippen Aufführung intensiver und lang anhaltender Applaus für den neuen Theater-Hit am Staatstheater Wiesbaden.

Markus Gründig, Oktober 24


Woyzeck

Dramenfragment

Von: Georg Büchner (1813 – 1837)
Uraufführung: 8. November 1913 (München, Residenztheater)

Premiere am Staatstheater Wiesbaden: 12. Oktober 24 (Großes Haus)
In einer Fassung von: Stefan Pucher und Hannah Stollmayer
Mit Original-Raplyrics von: Abdul Aziz Al Khayat und Tabea Buser

Inszenierung: Stefan Pucher
Bühne: Nina Peller
Kostüme: Annabelle Witt
Musik: Christopher Uhe
Video / Live-Video: Ute Schall und Hannes Francke
Licht: Oliver Porst
Dramaturgie: Hannah Stollmayer

Besetzung:

Woyzeck: Abdul Aziz Al Khayat
Marie: Tabea Buser
Tambourmajor: Lennart Preining
Hauptmann: Christian Klischat
Doctor: Adi Hrustemović
Andres: Klara Wördemann
Margreth / Ausrufer: Laura Talenti
Kinder: Statisterie des Hessischen Staatstheaters
Live-Musik: Benjamin Kolloch

staatstheater-wiesbaden.de