Ajax
Schauspiel Frankfurt im Bockenheimer Depot
Besuchte Vorstellung: 1. Dezember 13 (Premiere)
„Es kommt ein Schiff…“ wird traditionell am 1. Advent in den christlichen Kirchen gesungen. Zwar kein kommender Heiland, aber ein Held ist Ajax. Hauptfigur in Sophokles (u.a. „Antigone“, König Oedipus“, Elektra“) gleichnamigen Stück, das am 1. Advent seine Premiere im wiedereröffneten Bockenheimer Depot hatte (in der Neuübersetzung von Simon Werle). Auch wenn in der Vorankündigung des Schauspiel Frankfurt ausdrücklich Bezug auf den Kriegseinsatz in Hindukusch (Afghanistan) und die Situation der Kriegsheimkehrer genannt wird, ist die Inszenierung des niederländischen Regisseurs Thibaud Delpeut bei seinem Debüt am Schauspiel Frankfurt kein auf Aktualität getrimmter neumodischer Theaterexkurs, sondern eine intensive Auseinandersetzung um die Frage vom Umgang des Einzelnen wie der Gesellschaft, um die Themen Schuld und Verantwortung. Die antike Geschichte dient als Folie über die Komplexität des menschlichen Gemeinwesens und ist somit zeitlos aktuell.
Die Inszenierung hat fast schon einen kirchlichen Charakter. Denn es geht, von wenigen Augenblicken abgesehen, sehr andächtig zu. Dazu passt die überwiegend sehr dezente musikalische Untermalung (Musik: auch Thibaud Delpeut, sowie live u.a. an der Klarinette: Jens Böckamp) und das gedämpfte Licht (Marcel Heyde). Das Bühnenbild von Roel van Berckelaer sorgt für eine gewisse raue und archaische Atmosphäre. Zunächst gibt es nur eine hohe Wand zu sehen, die eine loggiaähnliche Öffnung und eine Art Vordach hat. Wir befinden uns vor dem Zelt des Ajax, am Strand von Troja, während des Trojanischen Krieges. Die Wand fährt nach hinten und gibt langsam den Blick frei auf Wasser, zwar kein Meer, aber eine treppenförmige Anlage mit drei großen Bassins (wovon die ersten beiden nur gering, das hintere knapp kniehoch befüllt ist). Die Lichtspiegelungen im Wasser werfen anregende Figuren auf die Wände.
Sophokles´erste vollständig überlieferte Tragödie besteht aus zwei Teilen. Zunächst geht es um Ajax´ Verzauberung durch die Göttin Athene (wodurch er über eine Viehherde herfiel, statt über den griechischen Feldherrn Odysseus) und seinen Suizid als einzige Möglichkeit, seine Ehre zu retten. Im zweiten Teil geht es um den Disput, ob Ajax Leichnam nun begraben oder den Vögeln zum Fraß vorgeworfen werden soll, wie seine Widersacher es fordern.
Zunächst hat Martin Rentzsch als Chor der Seeleute das Wort, er führt quasi in die Thematik ein. In der Titelrolle ist das neue Ensemblemitglied Manuel Harder zu erleben, der schon bei „Draußen vor der Tür“ einen kriegstraumatisierten Heimkehrer verkörperte. Hier ist er, auf seinem Rücken mit 116Kreuzen für seine Erfolge als Kämpfer markiert, trotz einiger emotionaler Ausbrüche beherrschter. Er gibt sich bedingungslos der Rolle hin und verleiht dem Ajax ein große Authentizität. Seine Geliebte Tekmessa gibt Linda Pöppel nicht so sehr emotional, eher rational klagend. Den gemeinsamen Sohn Eurysakes verkörpert Ben Gerloff (alternierend: Paul Herholz). Mit Adidas-Shirt macht er einen sehr gegenwartsnahen Eindruck (Kostüme: Wojciech Dziedzic). Besonnen zeigen sich Teukros (Andreas Uhse) und Agamemnon (Michael Benthin), aufbrausend Menelaos (Sascha Nathan). Diese drei tragen Armee-Uniformen, während Chor und Ajax mit ihren creme-farbenen Hosen und Shirts eher zeitlos wirken. Souverän im eleganten Anzug wirkt der Odysseus des Christian Erdt, der stärkste Feind von Ajax, der wahre Größe zeigt und sich für seinen einstigen Gegner stark macht. Mehr wie freundlicher Applaus.
Schon im Januar 14 gibt es das nächste antike Drama. Raoul Schrott inszeniert Euripides „Die Bakchen“ in den Kammerspielen.
Markus Gründig, Dezember 13
Der Lärmkrieg
Staatstheater Mainz (Kleines Haus)
Besuchte Vorstellung: 23. November 13 (Premiere)
„Unser schönes Mainz darf nicht sterben“
Theater zeigen Antikes wie „Antigone“, Klassisches wie „Romeo und Julia“ und immer ist Theater auch eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen, seien sie nun im persönlichen oder politischen Bereich. Das Staatstheater Mainz geht mit „Der Lärmkrieg“ nun ein in der Region sehr aktuelles Thema an: Den Streit um den Fluglärm. Denn dieser wurde für viele Anwohner, seit die neue Nordwest-Landebahn des Frankfurter Flughafens im Oktober 2011 in Betrieb genommen wurde, zu einer unerträglichen Last.
Dabei hatte das Stück der ehemaligen Mainzer Stadtschreiberin Kathrin Röggla im Oktober dieses Jahres seine Uraufführung am Schauspiel Leipzig, einer Stadt, die zwar auch einen Flughafen hat, der aber längst nicht die Bedeutung vom Frankfurter Flughafen besitzt, erst recht nicht im Hinblick auf die Lärmbelästigung. Nach Angabe der Pressesprecherin des Staatstheater Mainz, Frau Dr. Christine Villinger, hatte das Schauspiel Leipzig bei Röggla ein Stück in Auftrag gegeben, diese lieferte dann „Der Lärmkrieg“ ab. Obwohl es ein Stück gerade über die Lärmbelästigung der Bürger in Rhein-Main ist, wohnen sie nun in Flörsheim, Frankfurt Sachsenhausen oder in Offenbach. Jedenfalls ist es nur richtig, dass es jetzt auch hier in einer vom Fluglärm ebenso betroffenen Stadt gezeigt wird. Regie führt dabei der Hausherr höchst persönlich. Intendant Mattthias Fontheim.
Zusammen mit nur fünf Darstellern wird das Thema von mehreren Seiten innerhalb von 105 Minuten bedrückend wie lautstark behandelt. Nach einer kurzen Exposition der Figuren beginnt der dreigliedrige Abend. Zunächst mit einer Podiumsdiskussion mit einer modernen Aktivistin (Karoline Reinke), einem aalglatten Manager des Flughafenbetreibers Fraport AG (Zlatko Maltar) und einem hessisch babbelnden Gast (Lorenz Klee). Natürlich sind auch kampfbereite Betroffene dabei (Lisa-Marie Gerl, Gregor Trakis), sie sitzen im erhellten Zuschauerraum und bekunden ungehemmt ihren Unmut (wie auch Vertreter einer Bürgerinitiative, die schon vor Vorstellungsbeginn im Foyer auf ihre Arbeit aufmerksam gemacht hat). Auf den rückseitigen Vorhang werden währenddessen provozierende Plakate projiziert (wie „Fraport, Taliban der Lüfte“ und „Unser schönes Mainz darf nicht sterben“). Fragen kommen auf, warum die Ärzte und die Krankenkassen zu dem Leiden ihrer Patienten und Mitglieder schweigen, aber auch über eine mögliche „Flughafen Depression“, wie im Falle des niedergegangenen Flughafens im amerikanischen Cincinnati oder dass der Flughafen ja ein antirassistisches Projekt sei, verbinde er doch die unterschiedlichsten Kulturen.
Im zweiten Teil wird es dann konkret. Gezeigt wird ein durch die niedrig fliegenden Flugzeuge beschädigtes Einfamilienhaus, das schon fast zu einer Touristenattraktion verkommen ist (Bühne und Kostüme: Stefan Heyne). Hier lebt die Familie der Betroffenen inmitten von Baumaterialien, soweit man das bei dieser Käfighaltung noch Leben nennen kann. Denn der Fluglärm hat längst zu einer Veränderung der Beziehungen untereinander geführt hat. Es gibt keinen Alltag mehr, psychische Krankheiten haben sich manifestiert. Immer wieder dröhnen Flugzeuge über das Haus wie über die Zuschauer, dabei schwebt dann ein Flugzeugrad über dem aufgerissenen Dach des Hauses. Der eingespielte Fluglärm ist realistisch laut, unvorstellbar, so auf Dauer leben zu können. Dann kommen auch die degenerierten Kinder auf die Bühne, mit riesigen Schwellköpfen (Jana Kusch, Julia Sylvester; Sebastian Schlicht).
Im dritten Teil wird dann von jedem eine Art nüchternes Resümee gezogen, das Ehepaar kämpft weiter, nur radikaler, als Guerillakämpfer, mit Maschinengewehr und Handgranaten.
Dabei ist das Stück auch eine Auseinandersetzung, wie wir mit unserer Umwelt, unseren Mitmenschen umgehen, auch diejenigen, die nicht unmittelbar vom Fluglärm betroffen sind, denn T-Shirts (aus Bangladesch und anderswo) machen Fluglärm, Erdbeeren zur falschen Jahreszeit machen Fluglärm, Billigurlaub macht Fluglärm… So ist jeder nach seiner persönlichen Verantwortung für Umwelt und Mitmenschen gefragt. Ein starker Abend, sehr viel Applaus.
Markus Gründig, November 13
Anatol
Schauspiel Frankfurt (Kammerspiele)
Besuchte Vorstellung: 22. November 13 (Premiere)
Der Text von Dramaturgin Anita Augustin im Programmheft lässt einen ungewohnt obszönen Abend erwarten, ist da doch von Sex, Sex und abermals Sex die Rede. Die mit Yoga-Asanas bebilderten Zwischenüberschriften lauten „Dirty talk“, „Der große Ficktator“, „Geil aus Gewohnheit“ und „Steilvorlage“. Jedem Programmheft liegt zudem ein Cocktailrührer aus Kunststoff bei, dessen Kopf aus einer sexy Frau besteht.
Schnitzlers „Anatol“ wird als veritabler Porno der soften Sorte bezeichnet und damit ist dann auch das Grundthema von Florian Fiedlers Inszenierung genannt, denn damals war Pornos schauen populärer als heute.
Dabei ist Arthur Schnitzlers Jugendwerk zweifelsohne ein Sittenstück. Es entstand vor seinem größten Bühnenerfolg „Liebelei“ (das im Januar 2011 von Stephan Kimmig im Schauspielhaus inszeniert wurde). Die Figur des Anatol ist gewissermaßen der Casanova des Wiener Fin de siècle, ein draufgängerischer junger Liebhaber, der durch allerhand Frauengeschichten strauchelt, die von Schnitzler in sieben kurzen Einaktern erzählt werden und als Zyklus „Anatol“ zusammengefasst wurden. Dabei geht es für die damalige Zeit (entstanden im späten 19. Jahrhundert) schon gut zur Sache, „wenn auch nur im blümeranten Konversationsstil“ (Anita Augustin), der Rest entsteht im Kopf des Lesers/Zuschauers.
Florian Fiedler, der in den Kammerspielen im Mai 2011 erfolgreich Arthur Millers „Ein Blick von der Brücke“ inszenierte (und im Dezember 2012 Judith Schalansky´s „Der Hals der Giraffe“ im Senckenberg Naturmuseum), spannt in seiner Inszenierung den Bogen vom Wiener Fin de siècle zur Freizügigkeit des Cybersex-Zeitalters von heute, wo ja laut Programmheft täglich 30.000 Websites mit Hardcore-Inhalten pro Sekunde (!) angeklickt werden.
So wird auch auf der Bühne gerammelt, was das Zeug hält (mit Mensch und Tier), geblasen, masturbiert und viel nackte Haut gezeigt. Gleichwohl fühlt man sich zu keinem Zeitpunkt wie in einer Liveshow im nahen Rotlichtviertel. Schließlich heißt es schon in Loris´ (Hugo von Hofmannsthals Pseudonym) Einleitung zu dem Stück: „Also spielen wir Theater, spielen uns´re eig´nen Stücke, frühgereift und zart und traurig, die Komödien uns´rer Seele…“. So verliert der Zuschauer trotz dem turbulenten Geschehen nie aus den Augen, dass alles nur Theater ist. Auch zeigt sich kein Darsteller vollständig entblößt. Die Damen tragen stets Leggins und Pullover, die Herren lassen zwar fortwährend die Hosen fallen, behalten ihre fleischfarbenen Unterhosen aber stets an (dafür wird sich gerne in den Schritt gefasst und an ihn geschmiegt).
Herausragendes Merkmal von Florian Fiedlers Inszenierung ist, dass er die Figurenkonstellation auflöst und scheinbar chaotisch neu gestaltet. Alle sind der Poseur Anton und sein Freund Max, sowie die Geliebten Cora, Gabriele, Bianca, Emilie und Ilona. Die Episoden mit Annie („Abschiedsouper“) und Else („Agonie“) werden ausgelassen. Einzelne Textpassagen werden mehrfach wiederholt und dann jeweils in einer anderen Anordnung gesprochen. Zu Beginn und am Ende zeigen sich die Protagonisten im Kleidungsstil der Entstehungszeit (Kostüme: Selina Peye) und mit steifen Attitüden. Lohnenswert ist allein schon die kunstvolle Darbietung der Einleitung von Torben Kessler und Christoph Pütthoff, die den poetischen Worten eine der Welt entrückten Aura verschaffen. Wie diese beiden Säulen des Ensembles generell das Spiel in der Hand haben, wenn auch Paula Hans (neu im Ensemble) und Wiebke Mollenhauer (Mitglied im Schauspiel Studio) engagiert miteifern. Bei der hier gezeigten Nähe müssen die Darsteller schon gut miteinander können, denn selbst wenn nicht alle Hüllen fallen, sind sie durch Fiedlers Regie gut gefordert.
Der tiefe Schmerz der unter der gezeigten liebestollen Oberfläche lauert, lässt sich nur erahnen, das ist aber schon bei Schnitzler so und Loris/Hoffmansthal bringt es in seiner Einleitung auf den Punkt: „Böser Dinge hübsche Formel“.
Von zwei großen Hunden aus Gips und zwei Stühlen abgesehen, ist die Bühne von Maria-Alice Bahra leer. Sie wird breitflächig bespielt und reicht doch nicht aus. Selbst der Zuschauerbereich ist nicht sicher vor dem überschäumenden Spiel: Christoph Pütthoff kämpft sich durch die Stuhlreihen (und bezieht einzelne Zuschauer mit ein).
Ungewohnt der Bühnenboden, ein Wirrwarr aus lang gezogenen Dreiecken und vielen Linien, das frei als Mäusereich oder Spermiensuppe interpretiert werden kann.
Dezent und punktgenau werden Videoprojektionen einbezogen, die Übergänge zwischen Spiel und Schein sind dabei fließend. Hier kommt vage Freudsche Tiefenforschung durch. Zum Ende erscheinen die vier wieder wie zu Beginn gekleidet und stimmen Zarah Leanders „Nur nicht aus Liebe weinen“ an. Dieses steht als Unisex-Motto, die nächste Liebe wartet bereits darauf, entdeckt zu werden.
Die Auflösung der ursprünglichen Figurenkonstellation macht es zwar nicht leicht, die sieben Einakter wiederzuerkennen, darum ging es Fiedler aber wohl auch gar nicht. Er schuf ein faszinierendes zeitgemäßes Sittenbild, schrill, überzogen und einnehmend. Am Ende sind sie alle gleich, egal ob Mann oder Frau. Wenn die Urtriebe durchkommen, unterliegen männliche Dominanz und weibliche Unterdrückung, Hauptsache Spaß, selbst im größten Liebesleid. Und den hat vor allem das Publikum 90 Minuten lang. Große Zustimmung.
Markus Gründig, November 13
Wille zur Wahrheit
Schauspiel Frankfurt (Schauspielhaus)
Besuchte Vorstellung: 17. November 13 (Premiere)
Ich bin krank.
Ich leide vom Kopf bis zu den Füßen.
(Voltaire)
Er war alles andere als angepasst und bequem, der österreichische Schriftsteller und radikale Gesellschaftskritiker Thomas Bernhard (1931 – 1989). Er prangerte gesellschaftliche Institutionen wie Einzelpersonen an und das führte natürlich zu mancher Kontroverse und mitunter auch zu Gerichtsprozessen. Eine pessimistische Weltsicht mischt sich in seinem Œuvre mit groteskem Humor. In der Intendanz von Peter Eschberg wurden am Schauspiel Frankfurt seine Theaterstücke „Der Weltverbesserer“ (Februar 1994), „Ritter, Dene, Voss“ (November 1994), „Heldenplatz“ (Oktober 1995), „Der Theatermacher“ (September 1996), „Über allen Gipfeln ist Ruh“ (Dezember 1999) und „Vor dem Ruhestand“ (November 2000) gezeigt, die meisten von Peter Eschberg auch inszeniert.
Jetzt gibt es „Wille zur Wahrheit“ zu sehen. Und wieder ist es der Intendant des Schauspiel Frankfurt (seit der Saison 2009/2012: Oliver Reese), der sich für Thomas Bernhard ins Zeug legt. Dabei hat er es weder sich noch den Darstellern leicht gemacht. Denn er griff nicht auf eines der zahlreichen Stücke zurück, sondern auf Bernhards zwischen Dichtung und Wahrheit liegender Autobiografie. Mit seinen fünf Erzählungen zwischen Dichtung und Wahrheit „Die Ursache“, „Der Keller“, „Der Atem“ „Die Kälte“ und „Ein Kind“ (zusammengefasst in „Die Autobiographie“) legte er Zeugnis seiner Kindheits- und Jugendjahre ab. Oliver Reese hat erstmals dieses autobiografische Meisterwerk für die Bühne dramatisiert und das Ergebnis selbst inszeniert.
Wie meistens bei großen Künstlern, seien es Komponisten, Musiker oder Schriftsteller, verbirgt sich hinter manch groß klingenden Namen ein erschreckend trauriges Leben, angefüllt mit schweren Schicksalsschlägen, finanziellen wie persönlichen Notlagen. Thomas Bernhard ist da keine Ausnahme. Seine Autobiografie, die nur seine Lebensjahre bis zum Alter von 20 Jahren umfasst, ist eine Reise von einer Hölle zur nächsten.
Als uneheliches Kind heimlich in Holland zur Welt gekommen, zunächst bei Pflegeeltern, dann bei Mutter und den Großeltern aufgewachsen, folgte bald ein Erziehungsheim und später jahrelange Krankenhausaufenthalte, wobei er sich oftmals gefährlich nah am Tod wähnte. Wie sich auch Selbstmordgedanken schon in früher Kindheit bei ihm manifestierten.
Reese hat aus den knapp 600 Seiten ein fesselndes Destillat gewonnen (Spielzeit: knapp drei Stunden inklusive einer Pause), das wichtige Stationen aus Thomas Benhards jungen Leben nacherzählt und dabei auch seinen virtuosen Sprachstil glanzvoll herausstellt. Auch wenn ob des Umfangs nicht alles berücksichtigt werden konnte oder nur kurz angerissen wird, erzählt „Wille zur Wahrheit“ die Leidensgeschichte des jungen Thomas Bernhard nicht nur werktreu, sondern auch so, dass sie unter die Haut geht.
Hilfreich ist dabei, dass die Spielfläche von Hansjörg Hartung als versetztes Quadrat vor der eigentlichen großen Bühne platziert wurde. Hierfür wurden die vorderen Sitzreihen herausgenommen, das Publikum sitzt näher am Geschehen. Die Spielfläche besteht aus einem weiß gefliesten Boden und zwei hohen, ebenfalls weiß gefliesten Wänden, als Bild für den Ort, der Bernhard so sehr prägte: das Krankenhaus.
Clou der Inszenierung ist, dass nur Bernhard spricht, das Stück gewissermaßen ein Soloprogramm ist. Für jedes der fünf Bücher spielt den Bernhard jedoch ein anderer Darsteller (von den Nebenfiguren, wie den Schuldirektoren, dem Kaufmann, der Mutter und dem Großvater wird nur erzählt). Jeder Abschnitt dauert rund 30 Minuten.
Dabei wird von den fünf Darstellern nicht nur fesselnd gespielt, das Ganze ist auch stimmig arrangiert. Zunächst betritt Bettina Hoppe fröhlich zwitschernd die Bühne. Ihre gepfiffene Melodie des melodischen Juwel „Leise flehen meine Lieder, durch die Nacht zu dir…“ aus Franz Schuberts letztem Liedzyklus „Schwanengesang“, setzt sich schnell als Ohrwurm fest (zumal sie im Laufe des Abends mehrfach wiederholt wird, kurze musikalische Einlagen sorgen zusätzlich für eine Auflockerung und eine harmonische Grundstimmung). Anfangs wird kurz ein verschwommenes Bild von Salzburg auf die Wandfliesen projiziert (Video: Konny Keller), der Stadt, die Bernhard hasste wie keine andere. Und so gibt Bettina Hoppe als Thomas Bernhard zunächst einen ordentlichen Abgesang auf die Stadt mit der höchsten Selbstmordrate Österreichs (in seinem Buch stellt Bernhard eine diesbezügliche Meldung der Salzburger Nachrichten vom 6. Mai 1975 vorne an), auf die Stadt, wo nur Mittelmaß herrscht und es unter der Oberfläche fault und stinkt.
Viktor Tremmel berichtet anschließend in Shorts von der Befreiung Bernhards, hin zur harten Arbeit im Lebensmittelladen von Herrn Podhala (einem ehemaligen Student der Wiener Musikakademie) in der ärmlichen Scherzhauserfeldsiedlung. Als groteske Bernhard-Figur erscheint Josefin Platt. Ganz in weiß, schließlich geht es jetzt um die lebensbedrohliche Zeit im Salzburger Krankenhaus, dort speziell im Zimmer der Todgeweihten. Sie trägt ein clownähnliches Kostüm nebst Halskrause (Kostüme: Elina Schnizler), ist weiß geschminkt. Im Trauerschwarz erscheint dann nach der Pause Vincent Glander. Obwohl er mit das traurigste Kapitel schildert, die Zeit in der Lungenheilanstalt, gibt es ob seines lebhaften Vortrags viele Lacher im Publikum. Versöhnend wird dann Peter Schröder, der Bernhards, erst 1982 geschriebenen, Kindheitsrückblick vorträgt. Zum Ende treten alle fünf vor und resümieren die Vergeblichkeit allen Tuns. Schon vorher fiel Bernhards Satz „Der Wille zur Wahrheit ist, wie jeder andere, der rascheste Weg zur Fälschung und zur Verfälschung eines Sachverhalts“. Insoweit stellt Bernhard auch seine „Autobiografie“ zur Disposition, die ihm selber nach auch nur Fälschung und Verfälschung sein kann.
Nicht enden wollender Applaus für fünf unterschiedliche Bernhard-Figuren, allesamt sehr couragiert und leidenschaftlich gespielt, für eine großartige Hommage an Thomas Bernhard.
Markus Gründig, November 13
2. Sinfonie – Rausch
Schauspiel Frankfurt (Box)
Besuchte Vorstellung: 10. November 13 (Premiere)
„Rausch ist die größte Freiheit, die man haben kann.“
Aller guter Dinge sind drei, dieses Sprichwort gilt auch für das Team des neuen Regiestudio des Schauspiel Frankfurt. Nach Alexander Eisenach („Wälsungenblut“) und Johanna Wehner („Die Geierwally“) stellte sich nun Ersan Mondtag dem Frankfurter Publikum vor. Er hatte die schwierigste Aufgabe, denn er inszenierte kein bestehendes Stück oder eine Romanvorlage, sondern wählte lediglich ein Thema: Rausch. Das ist sowohl aktuell (wie die zunehmende Zahl von jungen Komasäufern zeigt) wie zeitlos. Schließlich war es schon in der griechischen Antike ein populäres Thema, Dank Dionysos, dem Gott des Blutrauschs und der Sinnenfreude.
Ersan Mondtag erarbeitete dafür eine Textfassung („Ein Stück in fünf Sätzen“), die aus Gesprächsprotokollen von ihm und dem Ensemble als „work in progress“ entstanden ist. In Collagenform werden bei diesem gut einstündigen Stück Stichworte zum Thema „Rausch“ behandelt. Drei junge Darsteller (Jonas Grundner-Culemann, Thomas Hauser, Felix Hammoser) und der erfahrene, wie schonungslos unkonventionelle Schauspieler Thomas Huber resümieren mit jugendlicher Anzüglichkeit und Ungezwungenheit schlagwortartig Sinnesfreuden der unterschiedlichsten Art. Dabei werden Themen wie völkischer Rausch (NS-Zeit), die sexuelle Ausrichtung von George Clooney und Tom Cruise, aber auch Nietzsches Äußerungen zum Thema Rausch zur Disposition gestellt. Ein Statement lautet: „Rausch ist die größte Freiheit, die man haben kann“.
Das geschieht alles mit immenser Spielfreude in einem kunstvollen wie leicht frivolen Rahmen. Gespielt wird innerhalb der Box nur marginal, überwiegend davor. Das Publikum sitzt dazu auf den Foyerstufen, allerdings nur auf den höheren, zum oberen Foyer hin. Die unteren Stufen werden, wie die Fläche vor der Box, bespielt. Die Box selber wurde mit Rigipswänden wie ein antiker Tempel verkleidet, mit einem anzüglichen Text über den beiden Fronteingängen (Bühne: Julian Eicke). Dieser ist in lateinisch angebracht, sonst würde er doch die meisten Besucher die ein anderes Stück sehen und nur an der Box vorbeilaufen, irritieren: Malim me amici fellent ~ quam inimici irrument” (“Besser von Freunden einen geblasen zu bekommen, als von Feinden in den Mund gefickt zu werden!”). Dieser Satz, der über der Schenke des Sotericus im antiken Pompeji stand, wird freilich auch im Stück gesprochen, schließlich ging es ja gerade in der Antike heiß her. Live Videobilder aus dem Inneren der Box oder vom Geschehen in der Toilette werden auf einer ausgerollten Leinwand, wie auch auf die Frontseite der Box projiziert.
Das Ganze ist trotz oder gerade wegen seines experimentellen Charakters eine große Gaudi, vor allem für das jüngere weibliche Publikum. Wird hier doch mit den Geschlechterrollen gespielt, zeigen sich die Herren in aufreizenden Bodys mit Frackjacken, auf krass hohen High Heels (zum Teil wie auf Kothurnen) und mit Langhaarperücken (die am Tag nach der Premiere beginnende 5. Jahreszeit lässt also grüßen). Musik spielt bei diesem kunstvoll arrangierten Projekt eine wesentliche Rolle, zur Untermauerung von Gefühlen. Neben den melancholisch klassischen Tönen zu Beginn sind vor allem Klanggeräusche und Getrommel zu hören. Sinnlich werden Füße massiert, mit nackten Füßen Tischwäsche in Bottichen gewaschen, wechseln die Kostüme, die stets antiken Anklang haben und freizügig viel Haut zeigen (Kostüme: auch Julian Eicke). Der animalische Gott Dionysos, eine Verbindung von Mensch und Tier, erscheint mit großem Geweih, aber auch mit goldenem Weinblätterkranz, er gilt ja auch als Gott des Weines.
Dabei arbeitet Mondtag bei diesem Amüsement sehr akkurat, jeder Auftritt sitzt. Die Figuren erscheinen mit großen Gesten und marschieren wie eine Comedytruppe.
Unterstütz wird die Gruppe von einem szenisch voll eingebundenen „Chor“ (Lonni Garzena, Jonas Hackmann, Philip Haslbauer, Manfred Thomas, Jan Westphal). Beide Seiten Dionysos´, die orgiastisch-lebenslustige und die schicksalhaft-gewalttätige, kommen beim Wechselspiel zwischen Komödie und Tragödie zum Vorschein.
Viel Beifall.
Markus Gründig, November 13
Der Idiot
Schauspiel Frankfurt (Schauspielhaus)
Besuchte Vorstellung: 8. November 13 (Premiere)
Fjodor Dostojewskis Roman „Der Idiot“ zählt zu den Klassikern der Weltliteratur. Die Geschichte des naiven und an Epilepsie leidenden jungen Fürsten Lew Nikolajewitsch Myschkin, der von seiner Umwelt ausgenutzt und verlacht wird, wurde schon oft verfilmt und auch auf die Bühne gebracht. Das Schauspiel Frankfurt eröffnet in dieser Saison damit seine Dostojewski-Trilogie, die in den nächsten Spielzeiten fortgesetzt wird. Regisseur Stephan Kimmig und die Dramaturgin Claudia Lowin haben hierfür eine Bühnenfassung erstellt, die auf der Übersetzung von Swetlana Geier (im Buchhandel als Fischer-Taschenbuch für 15 Euro erhältlich) basiert.
Von der umfangreichen, fast 900 Seiten umfassenden Vorlage waren hierfür natürlich etliche Kürzungen zu machen, vom Text wie auch von den Rollen her (entfallen sind beispielsweise der General Jepantschin und die Töchter Alexandra und Adelaida, sowie die Eltern und Geschwister von Gawrila Ardalionowitsch).
Stephan Kimmig, der sich am Schauspiel Frankfurt schon mit „Lulu“ (März 2010) und „Liebelei“ (Januar 2011) vorgestellt hat, macht es dem Zuschauer nicht leicht, einen Zugang zu dem ohnehin etwas sperrigen Werk zu finden. Zwar ist Dostojewskis Schreibstil gut zu lesen und auch für breite Massen geeignet (schließlich war er auf die Einnahmen als Schriftsteller angewiesen), ob der Langatmigkeit, der eingeschobenen Erzählungen und der vielen Figuren ist es aber auch eine komplexe Sache.
Kimmig zeigt die Geschichte losgelöst von jeglichen Ortsbezügen, als überzogenes Spiel, bei der die überbordenden Ausbrüche der Figuren fast schon zum Stilmittel geraten, wo jeder einsam in sich gefangen ist und trotz großer Sehnsucht nach gesellschaftlicher Anerkennung, Liebe und nicht zuletzt Geld, alle scheitern. Es ist ein schonungsloser Blick, den er hier aufzeigt (und dabei den Darstellern einiges an körperlichem Einsatz abverlangt).
Die Welt der gehobenen, prosperierenden russischen Mittelschicht in der ehemaligen Hauptstadt des russischen Königreichs, St. Petersburg und der angrenzenden Sommerresidenz Pavlovsk, ist hier auf einen großen Verschlag beschränkt. Von eleganten Salons, Kabinetts und Parkanlagen keine Spur. Die Bühne von Katja Haß zeigt einen düsteren, schwarzen Raum, der nur die halbe Höhe der Bühne einnimmt. Darüber flimmern fünf Bildschirme, im ersten Teil mit Landschaftsimpressionen aus einem Wald inklusive vorüber ziehenden Nebels (Dostojewski spricht zu Beginn des Romans von einer feuchten und nebligen Witterung bei Anzug des Zuges in Petersburg, Ende November) .Im zweiten Teil flimmern Portraits der Hauptprotagonisten, die sich zum Teil ins Unscharfe und bis ins Verzerrte wandeln (Video: Julian Krubasik).
Die wohlhabende „bessere“ Gesellschaft haust wie in einem Loch, wie Ratten unter einer Brücke. Dabei gibt es kein Entkommen, in diesem Raum sind alle gefangen, gehören sie nun zur Aristokratie und zum Kapital oder stehen sie für den Verfall des Adels (wer nicht spielt, kauert im Hintergrund).
Nur im ersten Teil nimmt ein im Hintergrund stehender Samowar Bezug zu Russland, ein Ofen sorgt für etwas Wärme, eine Kiste mit Flaschen deutet auf vergangene Feierlichkeiten hin, ansonsten ist die Fläche, bis auf kaum wahrnehmbaren Unrat im Hintergrund, leer. Der Himmel ist wie mit schwarzen Wolken verhangen. Braune Erde liegt auf dem Boden. Auch die Beleuchtung ist karg. Im ersten Teil erfolgt sie nur durch am vorderen Bühnenboden liegenden Leuchten, was für grotesk anmutende Stimmungen sorgt. Im zweiten Teil kommt mit Seitenstrahlern etwas mehr Licht ins Spiel (Licht Johann Delaere).
Insgesamt ist es ein derbes, wenn auch durchaus passendes Bild für die im Roman beschriebene apokalyptische Grundstimmung. Die Kleidung der Figuren ist teils einfach, teils elegant gehalten. Die Damen und Rogoschin tragen Pelzmäntel, Aglaja ein hübsches stylisches Kleid, Nastassja Filippowna ein mondänes Hosenkleid (Kostüme: Johanna Pfau).
Musik hat hier auch eine wichtige Funktion. Sei es als Hintergrundsound, wenn Jepantschina/Verena Bukal auf Nastassjas Geburtstagsfeier zart eine Geige spielt, oder lautstark eingespielte Musik beim gemeinsamen „Tanz“ von Aglaja und Nastassja (Musik: Michael Verhovec).
Die Titelrolle des jungen, aufrichtigen und hübschen Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin, des Idioten, spielt Nico Holonics mit schier unermüdlichem Einsatz (bei dem er nicht nur den meisten Text zu sprechen hat, der sehr umfangreich ist und wofür ihm allein dafür Respekt gebührt). Von der Regie wird er, anders als im Roman beschrieben, auch äußerlich als Sonderling dargestellt, denn er fasst sich nicht nur, gerade im ersten Teil, ständig mit der linken Hand unter sein Trägershirt an die rechte Brust, auch seine Armbewegungen haben mitunter einen spastischen Einschlag. Naivität, Glauben an das Gute im Menschen, Anteilnahme, Mitleid, aber auch sein Unverständnis und seine Verzweiflung drückt er facettenreich aus.
Seinen großer Gegenspieler, Parfjon Semjonowitsch Rogoschin, gibt Lukas Rüppel. Er ist seit dieser Saison neu im Ensemble des Schauspiel Frankfurt. Nach seinem Siegfried in „Die Nibelungen“ steht er nun zum zweiten Mal auf der Bühne im Schauspielhaus. Und zeigt im Vergleich zum Siegfried eine deutliche schauspielerische Steigerung. Auch wenn sein Rogoschin wie ein Hund über den Boden kriechen muss, gibt er ihm ein passend großes Format.
Wie selbstverständlich wirkend, verleiht Verena Bukal der Frau Generalin, der Lisaweta Prokofjewna Jepantschina, Erhabenheit und Größe, besticht durch ihre starke Präsenz und deutliche Aussprache. Gleiches gilt auch für die Aglaja Iwanowna Jepantschina, die Lisa Stiegler schonungslos verkörpert und dabei wie ein frühes überzeichnetes It-Girl wirkt.
Isaak Dentler gibt den geldgierigen Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin, wobei diese Eigenschaft hier nicht so stark betont wird. Christoph Pütthoffs Lukjan Timofejewitsch Lebedjew kommt fast wie ein Freund rüber. Paula Hans rührt als kranker Ippolit Terentjew und Carina Zichner gibt engagiert den Antip Burdowskij.
Die wichtigste Frau im Roman, im Stück ist die Nastassja Filippowna Baraschkowa, die nicht unumstrittende Grande Dame der feinen Gesellschaft, die regelmäßig in der Loge im Ballett sitzt, die aber auch ein Missbrauchsopfer ist und als anständige Partie und Ehefrau als nicht akzeptabel gilt. Und doch reißen sich alle Männer ob ihrer Schönheit um sie. Katharina Bach schafft ihr bravourös eine zwielichtige Aura.
Am Ende des auf das Publikum etwas polarisierend wirkenden Abends dann zwar kein stürmischer, aber lang anhaltender Applaus, auch für das Regieteam.
Markus Gründig, November 13
Die Geierwally
Schauspiel Frankfurt (Box)
Besuchte Vorstellung: 22. Oktober 13 (Premiere)
Sie ist unbestritten eine eigenwillige Person, eine Gestalt wie aus einer anderen Welt. Mit edlem, großen Herz, unerschütterlicher Ehrlichkeit, dem Vater mehr Wert wie zehn Buben, der Freiheit verpflichtet, groß, mutig, stolz, stark, wunderschön und nach der die Buabn alle so närrisch sind. Eine Heroin sondergleichen. Und doch ist das Leben für die verstoßene Außenseiterin kein Zuckerschlecken, auch dann nicht, als sie Hof und Ländereien erbt und die reichste Bäuerin im hinteren Ötztal geworden ist. Walburga Stromminger, genannt die Geier-Wally, durchlebt ein Martyrium, auch wenn sie freiwillig und ohne Wehklagen ihre schwere Last trägt. Vom Vater ausgestoßen und enterbt, der bäuerlichen Gemeinschaft ein Ziel des Hohns und des Spotts, irrt sie durch die Berge, ihrem „Vater“ Murzoll nah und den Tod passiv suchend. Und das alles nur aus Liebe zu einem Kerl, den sie gar nicht richtig kennt und er sie noch viel weniger.
Hermine von Hillerns Heimatroman „Die Geier Wally ~ Eine Geschichte aus den Tiroler Alpen“ erschien 1873 (nach dem Leben der Anna Steiner-Knittel). Er wurde nicht nur in viele Sprachen übersetzt, sondern auch vielfach verfilmt und für die Bühne bearbeitet. Am bekanntesten dürfte dabei die Oper „La Wally“ von Alfredo Catalani sein, die auf Hillers Roman fußt.
Die Jung-Regisseurin Johanna Wehner und die Dramaturgin Rebecca Lang haben jetzt aus dem Roman eine eigene Bühnenfassung erarbeitet. Johanna Wehner stellt sich mit diesem Werk zugleich als eine der drei neuen REGIE-Studio-Mitglieder des Schauspiel Frankfurt vor. Wie bei ihren Kollegen Alexander Eisenach (der bereits „Wälsungenblut“ präsentierte) und Ersan Mondtag (der sich im November mit „2. Sinfonie — Rausch“ vorstellen wird), wird auch Wehners „Geierwally“ in der Spielstätte Box gezeigt. Dabei gibt es natürlich einige Kompromisse. Nicht nur von den bühnentechnischen Möglichkeiten, sondern auch von Budget und Spieldauer. Bei den 1 Stunden 20 Spieldauer sind massive Kürzungen unvermeidlich, vieles wird nur kurz angeschnitten, vieles aber auch getreu wiedergegeben.
Mit Daniel Rotaug ist auch wieder ein Mitglied des Schauspiel STUDIO beteiligt, bei den anderen drei Darstellern handelt es sich um die Ensemblemitglieder Constanze Becker, Heidi Ecks und Torben Kessler. Sie übernehmen die vielen verschiedenen Figuren des Romans, sei es der alte Stromminger, die alte Luckard, der Pfarrer, der Bärenjäger Joseph oder die Magd Afra. Nur Constanze Becker gibt die Titelfigur. Ihren treuesten Freund und ihren Namensgeber sieht man nicht, zu ihm blickt sie nur hoch: zu Hansl, dem Lämmergeier, den sie einst aus einem Nest an einer Steilwand geholt hat. Constanze Becker, die dieses Jahr für ihre Interpretation der Medea dem 27. Gertrud-Eysoldt-Ring der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste verliehen bekommen hat (und zudem für den Theaterpreis FAUST als beste Darstellerin nominiert ist), ist für die Figur der Geierwally nahezu prädestiniert. Und die Erwartungen erfüllt sie mit leichter Hand, dabei ist sie selber erneut in besonderen Umständen, wie für jedermann unschwer zu erkennen ist. Dennoch lässt sie es sich nicht nehmen, in Maßen mit dem Bärenjoseph um den ersten Kuss (und dem damit verbundenen Hochzeitsversprechen) zu keifen. Als dieser „König unter den Bauern“ mit „Knochen wie ein Mammut“ zeigt sich mit starker szenischer Präsenz erneut Torben Kessler (der auch den Gegenspieler, den Gellner Vinzenz gibt). Ein der Geierwally ebenwürdiger Prachtbursche. Heidi Ecks als u.a. alte Luckard, Vater Stromminger und Lammwirtin, spielt mimisch kunstvoll. In diese drei Profis fügt sich Nachwuchsschauspieler Daniel Rotaug (u.a. als Magd Afra) souverän ein.
Die Bühne von Hannes Hartmann besteht aus zwei Reihen Europaletten (nebst einem angedeuteten Hügel auf der rechten Seite und einer Deckenlampe und einem Tisch für die heimatliche Welt des Höchsthofs) und einem großen, auf einem Seil aufgespannten Vorhang mit Alpenrosenmuster. Die bäuerliche Bergwelt um Sölden (Tirol) wird lose angedeutet, musikalisch sorgen zu Beginn und Ende Musikwerk-Spieluhren für ländliche Atmosphäre, zwischendurch ertönen auch moderne Beats (Musik: Felix Johannes Lange). Dem folgen lose auch die Kostüme, für die auch Hannes Hartmann zuständig ist. Westen für die Herren verleihen ihnen burschenhafte Züge, Rock und Kleid für die Damen.
Warum die Geierwally die ist, die sie ist, kommt nicht so deutlich rüber. Auch gibt es keine ohnmächtige Wut, keine starke Verwandlung zur ungerechten, launenhaften und reizbaren Person, zu einer, die ihr Schicksal duldsam erträgt, keine verstrickte Liebesgeschichte (nebst Rofener Höfe) und somit kein großes „Gefühlskino“, dass sich allein beim Lesen des Romans einstellt (und auch keinen bayerischen Dialekt).
Schnell folgt das Ende, das nicht dem Happy-End des Romans entspricht. Das finale Spiel der Spieluhren kann die noch immer finstere und herbe Geierwally nicht mitmachen, ihre Spieluhr hat keine Zacken, sie fällt. Ende. Freundlicher Beifall.
Markus Gründig, Oktober 13
Die Familie Schroffenstein
Schauspiel Frankfurt ~ Junges Schauspiel (Kammerspiele)
Besuchte Vorstellung: 20. Oktober 13
Der Krieg, er ist nicht tot, der Krieg
Der Krieg, er ist nicht tot, er schläft nur
Er liegt da unterm Apfelbaum und wartet, wartet
Auf dich, auf mich – er ist nicht tot der Krieg
(Rio Reiser)
Seit zwei Jahren gibt es am Schauspiel Frankfurt das Programmformat „Die Kammerspieler ~ Jugendliche arbeiten mit Theaterprofis“. Das Junge Schauspiel entwickelt dabei in Kooperation mit der Jürgen-Ponto-Stiftung Inszenierungen mit jeweils zehn Jugendlichen für den Spielplan der Kammerspiele. Nach „Der Herr der Fliegen“ (Oktober 2011, Regie: Martina Droste) und der Uraufführung „Swing Again. Eine Zusammenrottung zur Verübung gemeinschaftlichen Unfugs“ (Januar 2013, Projekt von Tina Müller und Martina Droste) steht mit Heinrich von Kleists erstem Drama nun ein besonders schwerer Brocken auf dem Spielplan. Doch unter der Regie von Sébastien Jacobi (bis 2012 festes Ensemblemitglied am Schauspiel Frankfurt; für die BOX im Schauspiel Frankfurt entwickelte er die Projekte „Reise!Reiser!“ und „Lorenzaccio le fou“) wird es dem Zuschauer leicht gemacht, einen Zugang zu dieser Geschichte um endloses Misstrauen, Gewalt und Rache zu finden, zudem schwebt inhaltlich Shakespeares „Romeo und Julia“ über Kleists Tragödie, der Stoff ist also in Grundzügen weitestgehend bekannt.
Die für Kleist typischen Täuschungen, Irritationen und rätselhaften Situationen finden sich in Jacobis Umsetzung vielfältig wieder. Dabei nimmt er Bertolt Brechts episches Theater als Stilmittel hinzu. Also kein klassisches Identifikationstheater, keine Theaterillusionen, aber dennoch zauberhafte und gar magische Momente!
Zu Beginn musizieren die zwischen 16 und 22 Jahren jungen Nachwuchsschauspieler vor dem Vorhang. Das passt schon insoweit, als auch Kleist sein Stück musikalisch beginnen lässt (Rossitz, im Inneren einer Kapelle: „Ein Chor von Jünglingen und Mädchen“). Allerdings ist ihr Musizieren hier nicht nur ein reiner Schönklang. Eine Geige, ein Mini-Saxophon, Hand- Xylophon, aber auch Wasserflasche und durch ein Megaphon gesprochener, nur bruchstückhaft verständlicher Text machen schnell akustisch deutlich, dass die Welt aus den Fugen geraten ist (Musik: Christoph Iacono). Eine Frau (Vera Schmidtke) erzählt seitlich am Klavier Auszüge aus Kleists Essay „Über das Marionettentheater“, während eine andere Frau (Babette Marschner) pantomimisch das Gesprochene umsetzt. Dann fällt nach knapp dreißig Minuten demonstrativ und lautstark die Fassade der Familie Schroffenstein. Der Blick wird frei auf zwei Wohnräume, die in zu kleinen Holzcontainern untergebracht sind. Die größeren Darsteller können darin gar nicht aufrecht stehen. Schon bald kippt diese heile Welt im wahrsten Sinne des Wortes auseinander. Rechts befindet sich das „Haus“ Rossitz (wohlhabend, mit Kronenleuchter), links das nicht so wohlhabende „Haus“ Warwand nur mit einer Glühbirne). Das leere Bühnenumfeld bleibt stets sichtbar und wird in das Spiel miteinbezogen (Bühne: auch Sébastien Jacobi). Als eine Art Erzählerin fungiert Barnabe, die Tochter der Totengräberwitwe Ursula. Vera Schmidtke verleiht ihr bei ihrer Rezitation gruselige, schlichte und sphärische Züge.
Die jungen Darsteller geben sich mit vollem Körpereinsatz schonungslos hin. Sie schmettern gegen die hölzernen Wände und besudeln sich mit einem schwarzen Hexengebräu Hände und Gesichter bis zur Unkenntlichkeit (anstelle von Kohle, wie von Kleist beschrieben). Dabei nehmen sie den Text sehr ernst, sprechen ihn akkurat und lebendig, wie auch ihre Kleidung dem Heute entspringt (Kostüme: Raphaela Rose). Es entstehen auch komische Bilder, etwa wenn sich Hausherr Rupert Schroffenstein (Renan Gasim) angstvoll hoch in eine Ecke quetscht und seine Frau Eustache (Marietta Saggau) fassungslos daneben steht. Die Söhne Ottokar (Timo Cromm) und Johann (Tim Eriksson) buhlen um die schöne Agnes (Nélida Martinez), deren Mutter Gertrude (Svenja Kärcher) und Bruder Sylvester (Johannes Scholten) sie stets im Auge behalten. Der Jeronimus des Noel Schmidt fungiert zugleich quasi als musikalischer Leiter am Klavier.
Eine Abweichung gibt es dann auch zum Schluss, bei dem Tim Eriksson einen Clown im Tüllrock gibt und das ganze Geschehen als Betrug entlarvt. Somit wiederholt sich gewissermaßen die zuvor ausgesprochene These „Der Krieg, er ist nicht tot, er schläft nur.. und wartet, wartet auf dich, auf mich..“ (aus Rio Reisers gleichnamigen Lied).
Viel Applaus für das engagierte Spiel und die collagenhafte und slapstickartige Umsetzung.
Markus Gründig, Oktober 13
Der Menschenfeind
Schauspiel Frankfurt (Schauspielhaus)
Besuchte Vorstellung: 11. Oktober 13 (Premiere)
Pure Vernunft darf niemals siegen!
(Spielzeitmotto 2013/2014 des Staatstheater Mainz)
In gewisser Weise ist der Titel “Der Menschenfeind” absurd. Denn wie kann ein Mensch Menschen hassen, wo er doch selbst auch ein Mensch ist und somit nicht anders. Und erfüllt er in einer Gemeinschaft seine hehren Ansprüche, die er an andere stellt auch selbst? Molières „Der Menschenfeind“ geht diesen Fragen nach. Das im Jahr 1666 uraufgeführte Stück ist als Komödie ausgewiesen, doch ist es eher eine Tragödie. Im Mittelpunkt steht die Figur des in einem Elfenbeinturm lebenden Misanthropen, genannt Alceste. Er hasst Schmeichelei, Heuchelei und Lüge, sei sie auch als „Notlüge“ von der Situation dringend geboten und verteidigt mit anarchistischer Energie die Ehrlichkeit und die Wahrhaftigkeit. Damit ist er freilich ein absoluter Außenseiter und zugleich eine komische wie eine tragische Figur. Denn zusätzlich liebt er ausgerechnet Célimène, die es wiederum mit der Wahrheit nicht so genau nimmt und in erster Linie praktischen Maximen folgt.
Für den Misanthrop hat nun Günther Krämer, der sich am Schauspiel Frankfurt schon mit „Salome“ und „Faust II“ empfahl, eine große Bühne im Schauspielhaus bereitet. Die Figuren der Komödie wurden zwar von elf auf fünf Sprechrollen reduziert, die fünf Akte auf zwei Teile zurechtgestutzt (Spieldauer: gute 2 Stunden inkl. Pause!), doch zusätzlich tritt fast omnipräsent ein neunköpfiger Jungmännerchor auf. Es sind adrette, moderne Edelmänner (Hagen Bähr, Alexander Bettendorff, Cain van Cauwenbergh, Tom Gerngroß, Jan-Erik Hohl, Tobias Karn, Andres Mendez, Kenny Schumacher, Oliver Wiedem), die den Frauen gehörig den Kopf verdrehen und mit rhythmischen Sprachgesang um sie werben (Choreinstudierung: Uwe Hergenröder und Robert Teufel).
Für den Pariser Palais der Célimène, in der das Stück spielt, hat Jürgen Bäckmann eine schlichte und dennoch einnehmende Bühne geschaffen. Vorne befindet sich eine edel gehaltene lange Bar, mit Blumen und reichlich Alkohol. Dahinter werden auf einen Gazevorhang Parkplatzleuchten projiziert, was dem Raum zusätzlich Weite und eine weitere Ebene gibt (ein alter PKW steht in dieser Außenwelt).
Bühneneinnehmend ist allerdings der hoch oben schwebende riesige Beleuchtungskörper, eine Art postmoderner Kronleuchter. Er besteht aus drei Leuchtkreisen, an denen jeweils weiße Laschen herunterhängen. Der Kreis als etwas Verbindendes, Einschließendes, Gemeinschaftliches. Und doch unerreichbar für Alceste.
Entsprechend der zeitgemäßen Umsetzung gilt natürlich auch hier das Nichtraucherschutzgesetz und so befindet sich statt Aschenbecher auf der Bar eine geschlossene Raucherkabine an der Bühnenseite.
Einen losen Bezug zu Paris gibt es durch die eleganten Roben der Damen. Ein chicer schwarzer Rock für die tugendsame Arsinoé und ein eng anliegendes fischartiges Glitzerkleid nebst kühner Kopfbedeckung für die verführerische Célimène. Die Herren tragen Freizeitkleidung und schwarze Anzüge (Kostüme: Falk Bauer).
“Was alles hätte ausgesprochen werden können“ (“And think of all the stories that we could have told”), heißt es gleich zu Beginn, wenn auch nur musikalisch. Asaf Avidans Hit „One Day“ aus 2012 wird zage angestimmt. Die Zweifel sind wohl zu stark für mehr. Im zweiten Teil kommen die Eurythmics mit ihrem zum Klassiker avancierten “Sweet Dreams“ zu Gehör, diesmal lautstark über Lautsprecher. Hier heißt es im Schlusssatz des Refrains „Jeder ist auf der Suche nach etwas“ und das trifft natürlich auch auf Molières Figuren zu.
Die Figur des Alceste ist eine der interessantesten Rollen, die Molière geschrieben hat. Ein seltsamer Vogel, der aber nie der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Auch nicht im Spiel von Wolfgang Michael. Anfangs im Trenchcoat und mit Baseballkappe wirkt er leger, später im Anzug dann formaler. Stets ist der Spielverderber ein scharfsinniger und unerbittlicher Gesellschaftskritiker, der am Ende einfach nicht über seinen Schatten springen kann und will. So gibt er sich seinem Eremitendasein hin und man möchte ihm gerne das aktuelle Spielzeitmotto des Staatstheater Mainz zurufen: „Pure Vernunft darf niemals siegen!“).
Franziska Junge gibt die attraktive, junge und mit allen Männern eifrig kokettierende Lebefrau und Witwe Célimène, die so gerne mehr möchte, aber doch die bleibt, die sie nun einmal ist. Dies gelingt Junge mit feinfühligem Spiel und einer atemberaubenden Mimik (wenn sie auch bei ihrem anfänglichen Ausbruch vielleicht ein wenig zu stark forcierte).
Claude De Demo gibt mit Freude und Verve ihre erhabene und von sich überzeugte Gegenspielerin Arsinoé, die ihr gerne die Augen für die Männerwelt öffnen will, aber selbst auch nicht besser ist. Wilfried Elste ist hier als resignierter Philinte ein Barkeeper, er kennt seine Leute und das Leben nur zu gut. Den talentfreien Poeten Oronte, der sich zu Beginn erst einmal eine Pulsader aufschlitzt, woran die Spaßgesellschaft aber keinen Anteil nimmt, verkörpert aufrichtig Martin Rentzsch.
In diese Inszenierung bringt der Chor sehr viel Elan ein, da die Herren auch szenisch stark eingebunden sind, wobei eine immense Spielfreude erkennbar ist.
Gesprochen wird in Versform, in der Übersetzung von Arthur Luther. Eine besondere Herausforderung für die Darsteller, müssen sie doch trotz aller Reime die gesprochenen Inhalte authentisch vermitteln.
Zur Pause und am Ende ist im Publikum eine leichte Verunsicherung zu empfinden (auch der freundliche Schlussapplaus ist eher etwas unbestimmt). Ist das jetzt gut gemacht oder nicht? Auf jeden Fall ersteres, denn stets wird die Waage zwischen Komödie und Tragödie gehalten, es gibt viele komische Momente. Auch ob des einen oder anderen Kalauers ist Molières zeitloses Thema des Misanthropen hier zeitgemäß umgesetzt.
Markus Gründig, Oktober 13
Romeo und Julia
Staatstheater Mainz (Großes Haus)
Besuchte Vorstellung: 6. Oktober 13
Sie ist verträumt, surreal, grotesk, plakativ, aber auch humorvoll, besinnlich, emotional und vor allem zeitgemäß. Die „Romeo und Julia“ Inszenierung von Thorleifur Örn Arnarsson, die jetzt im Großen Haus des Staatstheater Wiesbaden zu erleben ist. Sie macht es vor allem einem jungen Publikum leicht, Shakespeare im Theater live zu erleben. Bei der besuchten Sonntagnachmittagsvorstellung gefiel aber selbst den zahlreich anwesenden reiferen Besuchern der moderne Zugriff auf den alten Stoff, auch wenn nicht unbedingt jeder Regieeinfall auf Anerkennung stieß. Wie etwa die recht lange Eröffnungsszene, die einem eher lustigen Vorspiel vor dem herabgelassenen Eisernen Vorhang, folgt. Bei dieser steht, wie während der gesamten Aufführung, in der Bühnenmitte auf einer Drehscheibe ein großes Gerüstgebilde, als Bild für die Burg oder Festung der verfeindeten Familien Montague und Capulet. Das mehrstöckige Bauwerk besteht aus Gerüststangen und Brettern, die zum Teil wie eine Rutsche von oben nach unten führen, Bild für die Haltlosigkeit der Familien. Die Seiten der Bühne sind offen, leichter Nebel zieht umher und taucht die Szenerie in eine morbide und gespenstisch anmutende Atmosphäre (Bühne: Jósef Halldórsson). Dazu wird gesungen und musiziert, aber kein gewollter Schönklang. Die Figuren sitzen verteilt herum, schaukeln, träumen, glotzen und die Drehbühne dreht sich langsam immer weiter. Als nach geschätzten gut 10 Minuten dieses apokalyptisch anmutende Intro in die bizarre Welt Veronas beendet war, gab es bei der besuchten Vorstellung eindeutige Rufe in den Zuschauerreihen: „Na endlich!“. Arnarssons Zugriff ist also durchaus strittig und polarisierend. Allerdings war dies die einzige Szene, die Unmut in Teilen des Publikums auslöste. Über manches wurde nur geschmunzelt, wie über Benvolios scheinbar erigiertes Glied unter seiner weißen Unterhose (Kostüme: Filippia Elísdóttir), über das viele offensichtliche Gespritze mit Blut aus einer kleinen Plastikflasche oder Romeos „Hallo Julia“ Gesang anstelle von „Halleluja“. Wobei für Arnarsson Musik ein beliebtes Mittel zum Transport von Gefühlen ist und reichlich eingesetzt wird (am Flügel: Gabriel Cazes), wie mit „I will always love you“. Für ein jüngeres Publikum sicher nicht ohne Charme.
Einen besonderen Charme hat auch das Ensemble mit seinen so unterschiedlichen Figuren. Sei es Monika Dortschy als energischer Bruder Lorenzo, Gregor Trakis als lamouröser Mercutio, Tilman Rose als flippiger Benvolio, Christoph Türkay als fieser Tybalt, Stefan Walz als hipper Vater Capulet, Nicole Kersten als mondäne Mutter Lady Capulet, Marus Mislin als Montague, Zlatko Maltar als Prinz, Lorenz Klee als liebessehnsüchtiger Graf Paris, Andrea Quirbach als treue Amme oder Tibor Locher als Diener der Capulets.
Eine Inszenierung von „Romeo und Julia“ steht und fällt natürlich mit den beiden Hauptdarstellern. Wenn diese Mainzer Inszenierung sich zu einem Hit entwickelt, wozu sie das Rüstzeug hat, liegt das vor allem an Mathias Spaan als Romeo und Pascale Pfeuti als Julia.
Beide spielen außerordentlich. Spaan absolut facettenreich, mit vollem Körpereinsatz und vor jugendlicher Hitzköpfigkeit und Leichtmut nur so strotzend, selbst wenn er leidend über den Boden kriecht. Dabei spricht er seinen Text stets mit ausgezeichneter Artikulation (gespielt wird übrigens die moderne deutsche Übersetzung von Thomas Brasch). Pfeuti besticht mit innigen, zärtlichen Ausdruck, schöner Singstimme und nebenbei auch im Bikini. Die Geschichte des wohl bekanntesten Liebespaares zeigen beide aufrichtig und authentisch. Und wenn am Ende hier Julia sich auch nicht für die Pistole entscheidet, sondern ihr Leben in die Hand nimmt und ab geht, zeigt das einmal mehr ihr modernes Selbstbewußtsein. Auch nach über 400 Jahren hat diese Geschichte Dank dieser Inszenierung an Spannung nichts verloren.
Markus Gründig, Oktober 13
Das Versprechen
Schauspiel Frankfurt (Kammerspiele)
Besuchte Vorstellung: 1. Oktober 13 (Premiere)
Ehrgeiz, genaues Recherchieren, Logik und messerscharfe Vernunft sind unabdingbare Voraussetzungen, um einen Kriminalfall lösen zu können. Miss Marple, Sherlock Holmes, und James Bond sind Romanfiguren, denen diese Eigenschaften bei ihren Fällen halfen. Ihnen gleich tut es auch Dr. Hans Matthäi im Filmklassiker „Es geschah am helllichten Tag“ von 1958, nach dem Drehbuch von Friedrich Dürrenmatt (mit Ladislao Vajda und Hans Jacoby). Letzterer erarbeitete daraus seinen aus 30 kurzen Kapiteln bestehenden Roman „Das Versprechen“. Anders als im Film schafft es Matthäi trotz seiner großen Bemühungen nicht, den Mörder der kleinen Gritli zu finden, sein der Mutter gegebenes Versprechen zu halten. Matthäi vergrämt, verkommt und verkümmert darüber. Der Fall wird im Roman zwar dann doch noch aufgeklärt, doch nur durch einen Zufall. Und das ist zugleich Dürrenmatts Kritik am klassischen Kriminalroman, dass der Zufall darin so gut wie nie eine Rolle spielt. So heißt es auch im Untertitel „Requiem auf den Kriminalroman“. Denn nichts im Leben ist 100%ig planbar. Ein dummes Ereignis kann die perfekteste Vorplanung zunichte machen. Der klassische Kriminalroman ist für Dürrenmatt überholt.
Markus Bothe hat den Roman jetzt für die Bühne dramatisiert (u.a. tat dies 2006 Armin Petras 2006 in Berlin, Daniela Löffner 2012 in Zürich). Bei der Koproduktionsinszenierung von Schauspiel Frankfurt und dem Theater Winterthur führt Bothe auch die Regie. Am Schauspiel Frankfurt ist er noch von seinen Inszenierungen „Roter Ritter Parzival“, „Ein Sommernachtstraum“, „Die Physiker“ und zuletzt „Der Meister und Margarita“ in guter Erinnerung. „Das Versprechen“ eröffnete auf großer Bühne am 11. September 13 die Saison des schweizerischen Theaters Winterthur. Die Koproduktion mit dem Schauspiel Frankfurt wird dort im November wieder zu sehen sein. Mit den gleichen (Erwachsenen-) Darstellern wie in Frankfurt, wo es auf kleinerer Bühne in den Kammerspielen zu sehen ist.
Die Bühne von Alexandre Corazzola besteht aus einer nach hinten ansteigenden, leicht welligen Fläche, die vollkommen mit Kunstschnee bedeckt ist („Draußen hatte es zu schneien aufgehört“, heißt es im Roman). Es ist eine abstrakte, schöne bildliche Umsetzung: Weiß für kindliche Unschuld und für Reinheit. Zudem schneit es während der Vorstellung mehrfach, dann wirkt die Szenerie in und um den fiktiven Ort Mägendorf („in der Nähe von Zürich“) erst recht sehnsuchtsvoll und verträumt. Doch Schnee verniedlicht auch, darunter liegender Schmutz verschwindet wie weggezaubert, eine friedliche Illusion wird vorgetäuscht.
Dass unter dem Schnee das Grauen lauert, erfährt der Zuschauer nach und nach. Denn auf dem Boden findet sich das vom getöteten Gritli gemalte Bild ihres Mörders stark vergrößert wider: der Riesenigel (Riese mit „Igeln“), grüne Bänder für die den Riesen umrahmenden Tannen, ein schwarzes Auto oben und ein „merkwürdiges Tier mit seltsamen Hörnern“ (wie sich herausstellt: ein Steinbock (dem Signet auf dem KfZ-Zeichen des Kantons Graubünden, das Gritli auf dem Nummernschild erkannte). Dazu wurde eine blaue Fläche gemalt, die bei der Angelszene Bedeutung hat.
Bothe folgt dem Roman in weiten Teilen und zum Teil wortgetreu. Auffallendster Unterschied zum Roman ist, dass er die Figur der Frau Schrott, der alten sterbenskranken Frau, schon früh in das Stück einbindet, nicht erst ganz zum Schluss. Häppchenweise werden diese Szenen eingeflochten. Als Frau Schrott humpelt mit steifem Bein Gaby Pochert herum, bemüht sich redlich, ihren 32-Jahre jüngeren Ehemann, den früheren Chauffeur und Gärtner Albert (Viktor Tremmel), in den Griff zu bekommen, was ihr bekanntlich letztlich nicht gelingt, auch wenn sie ihn gerne mal an den Ohren durch den Raum zieht und sein Lieblings- und Kinderfängerspielzeug mit den Füßen zerquetscht, dass das (Kunst-) Blut nur so spritzt. Pochert gibt auch die Psychologin (im Roman ist es ein Psychologe). Beide Figuren verkörpert sie mit aristokratischer Eleganz und Würde. Tremmel gibt nicht nur den tumben Albert, der der Stimme von Oben gehorchen muss, sondern auch den unglückseligen Hausierer von Gunten. Letzteren mit besonders intensiver Gestaltung vor seinem, hier plakativen, Suizid. Till Weinheimer gibt den souveränen Erzähler und Kommandant „H“. Christoph Pütthoff verleiht dem strebsamen Polizeiwachtmeister Henzi bei seinem ersten „selbstständigen“ Fall ein passend eloquentes Profil. Lisa Stiegler gefällt als eine Horde Kinder bändigende und einsingende Lehrerin, als vermeintliche Krankenschwester und als Frau Heller. Ein Clou der Inszenierung ist die Einbindung von sechs Kindern, da sie für eine Auflockerung sorgen. Die Mädchen sind alle dem Muster des Mörders entsprechend gekleidet, mit rotem Röckchen und blonden Zöpfen (Kostüme: Justina Klimczyk).
Zentrale Figur des Stücks ist der tüchtige Kommissar Dr. Matthäi, den Torben Kessler bravourös verkörpert. Er ist ein eigenwilliger, zurückgezogen lebender Mann. Hier wird seine gesellschaftliche Außenseiterposition durch Ausübung von yogischen Sonnengrüßen angedeutet (schließlich ist es für Männer auch heute noch angesagter, Bizepts-, Trizeps und die Muskel Pectoralis mit Freihanteln zu trainieren, als Mayuraasana, Tittibhaasana oder Urdhva Dhanuraasana zu praktizieren). Kessler zeichnet Matthäis Irrweg und Verwandlung mit bedrückender Intensität nach. Und steht damit als gegenwartsnahe Figur zur Disposition. Das Leben besteht nicht nur aus Ausübung von vernünftigen und oftmals notwendigen Aufgaben. So wie der Zufall bei der Lösung des Verbrechens eine Rolle spielte, gilt es auch im Leben mitunter gewohnte Bahnen zu verlassen und offen für Neues zu sein („Der Wirklichkeit ist mit Logik nur zum Teil beizukommen.“). Insoweit machen Dürrenmatt und diese Inszenierung deutlich, sich im Alltag inspirieren zu lassen. Und sei es nur mit einem Theaterbesuch, die Frankfurter Theaterlandschaft bietet hierzu reichlich Möglichkeiten.
Markus Gründig, Oktober 13
Kaspar
Staatstheater Mainz (Kleines Haus)
Besuchte Vorstellung: 20. September 13
Es ist eines der eigenwilligsten Theaterstücke: Peter Handkes 1968 zeitgleich in Frankfurt/Main und Oberhausen uraufgeführtes Stück „Kaspar“. Ein halbes Jahrhundert ist das jetzt fast her. Damals, zur Zeit der Studentenbewegung, der Außerparlamentarischen Opposition, der Notstandsgesetzgebung, des Vietnamkriegs und einem allgemeinen Widerstand gegen autoritäre Strukturen, hatten diese Faktoren auch auf den Literaturbetrieb Auswirkungen. Dem Kärntner Peter Handke, Jahrgang 1942, gelang 1966 mit „Publikumsbeschimpfung“ der Durchbruch, darauf schrieb er seine beiden programmatischen literaturtheoretischen Essays „Die Literatur ist romantisch“ und „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“. Im Mai 1968 folgte dann die zeitgleiche Uraufführung seines Sprechstücks „Kaspar“ in Frankfurt/Main und Oberhausen.
Die Zeitschrift „Theater heute“ erklärte dieses Stück 1968 zum „Stück des Jahres“, weil „die Arbeit der grundlegenden Mechanismen, unter denen wir zu Gesellschaftswesen werden, erkenntlich macht, in der Form widerspiegelt,…“. Die Euphorie über dieses Stück ist nach fast 50 Jahren freilich nicht mehr existent. Umso mehr ist es jetzt gar eine Besonderheit, wenn es auf einem Spielplan auftaucht (im Februar 2010 inszenierte es Veit Kassel in der Spielstätte Wartburg des Staatstheaters Wiesbaden, im Dezember 2010 Carina Riedl am Theater Graz).
Einfach ist das Stück, das nach Handke auch „Sprechforschung“ (in älteren Ausgaben) bzw. „Sprechfolter“ (in neueren Ausgaben) heißen könnte, nicht – weder für den Regisseur noch für die Darsteller. Heutige Stücke werden oftmals als Textangebot den Bühnen zur Verfügung gestellt (wie etwa bei Jelinek), die jeweilige szenische Umsetzung ist der Regie überlassen. Handke ist bezüglich seiner Anweisungen zur Umsetzung seines „Kaspar“ restriktiver. Diese sind von ihm außergewöhnlich detailliert angegeben worden. Oftmals sind sie ausführlicher und detaillierter als der eigentlich zu sprechende Text. Sie enthalten nicht nur Angaben zur Bühne, Requisiten, Kostüme, Licht, sondern auch zu Gestik, Mimik, Geräuschen und Musik. Manches gibt er auch nur als Vorschlag an. Doch schon die Rezeption der beiden Uraufführungen verdeutlicht, dass sein Werk szenisch durchaus sehr unterschiedlich umgesetzt werden kann.
Am Staatstheater Mainz hat sich nun Regisseur Jan Philipp Gloger dieses Werkes angenommen. Gloger hat zuletzt mit seinen Operninszenierungen (wie „Der fliegende Holländer“ 2012 in Bayreuth oder „Idomeno“ 2013 in Frankfurt/M) für überregionales Aufsehen gesorgt. Als Leitender Regisseur im Schauspiel ist er von 2011 bis 2013 dem Staatstheater Mainz verbunden. Hier bewies er auch auf kleiner Bühne sein Geschick für Umsetzung komplexer Themen (wie seine gelungene Umsetzung von Elfriede Jelineks „Winterreise“ 2011 im TiC Werkraum). Handkes „Kaspar“ zeigt er im Kleinen Haus des Staatstheaters, auf großer Bühne. Und mit viel Aufwand im Hinblick auf Bühnenausstattung und Kostüme. Und dies bei einem solch sperrigen Stück, oder gerade deshalb? Er macht es dem Zuschauer jedenfalls leicht, in Handkes Welt einzusteigen, ihm im Hier und Heute zu begegnen. Dabei verwendet er zeitgemäße Formen, wie die Einbindung einer partymäßigen Musiknummer, mit durch die Zuschauerreihen laufenden Sängern, Discofunkeln im Zuschauerraum und überdimensionalen glitzernden Buchstabensäulen auf der Bühne, so als befände man sich im turbulenten Finale vom Eurovision Song Contest. Dabei wird in „Kaspar“ keine Geschichte erzählt. Die Figur des Kaspar Hauser dient Handke lediglich als Folie für theatralische Vorgänge, die „nicht zeigen, wie ES WIRKLICH IST oder WIRKLICH WAR mit Kaspar Hauser“. Sie zeigen „was MÖGLICH IST mit jemandem. Wie jemand durch Sprechen zum Sprechen gebracht werden kann“ (Handke).
Gloger lässt das Stück im Saal beginnen. Die beiden Einsager (in chic glänzenden Anzügen: Stefan Graf und Janning Kahnert) zerren den nur mit einem Langarmshirt und einer Unterhose bekleideten Kaspar (Felix Mühlen) herein, der sich heftig wehrt (er ist weder als Clown, noch ein Frankenstein-Monster gezeichnet). Schließlich vorne an der Bühne angekommen, ist diese zunächst noch von einem Vorhang verschlossen. Hier erfolgt die erste Wort-Konfrontation. Später zeigt die Bühne eine Wohnstube der Biedermeierzeit, mit einem runden Tisch, drei Stühlen, einem Sofa, Familienbildern und einer Standuhr. Wobei diese Wohnstube ganz im Sinne Handkes als Bühne auf der Bühne erkennbar ist, denn sie befindet sich in einer großen containerähnlichen Box, während die Seitenbegrenzungen der Bühne unverstellt sind. Der Zuschauer sieht also einen Vorgang, der explizit auf der Bühne spielt und nicht in irgendeiner angedeuteten Wirklichkeit. Kaspars „Schulzeit“ beschränkt sich szenisch auf eine Schülerbank und einem Podium vor dem zugezogenen Vorhang, gleiches gilt auch für die „Vortrags“-Szene (mit Kaspar als gehemmter 68er). Nach der bereits schon erwähnten musikalischen Showeinlage (Musik: Kostia Rapoport), gibt es für die „Doppelgänger“-Szene einen hell ausgeleuchteten weißen Raum zu sehen. Die drei Kaspars nehmen auf je einem Stuhl platz, alle tragen jetzt schick glänzende Anzüge, schwarze Stiefeletten und eine schwarze Krawatte (Bühne: Judith Oswald, Kostüme: Marie Roth). Kaspar hat es geschafft, er hat seine Identität, sein „Ich“ gefunden, doch die Realität ist auch sein Untergang. „Operation gelungen, Patient tot“ könnte man sagen. Das Sprechen mündet in einen Sprechzwang, in Unterordnung und Eingliederung. Über die rechte Seite im Saal gehen die drei ab.
Gloger hat die insgesamt 65 Szenen zu einem gut eineinhalbstündigen, abwechslungsreichen und in weiten Teilen sehr humorvollen Abend komprimiert und publikumsfreundlich wie evident umgesetzt. Das große Verdienst, Handkes „Sprechfolter“ so flott rüber kommen zu lassen, liegt bei den drei Darstellern Stefan Graf, Janning Kahnert und Felix Mühlen, die die Last des umfangreichen und spröden Textes bravourös tragen. Von Last ist bei ihnen nichts zu spüren, nur von Lust. Denn alle drei geben sich mit großer Spielfreude hin, schon fast so, als würden sie eine Komödie von Molière oder Goldoni geben. Aber schließlich ist das Leben selbst ja die größte Komödie. Begeisterter, lang anhaltender Applaus.
Markus Gründig, September 13
Ich bin Nijinski. Ich bin der Tod.
Schauspiel Frankfurt
in Kooperation mit der Alten Oper Frankfurt (Mozartsaal)
Besuchte Vorstellung: 16. September 13 (Premiere)
Erstmals präsentiert die Alte Oper Frankfurt zum Beginn der neuen Saison das neue „Musikfest“, das das bisherige „Auftakt“-Festival ablöst. Mit den verschiedensten künstlerischen Formen wird bei dem neuen Musikfest innerhalb von drei Wochen ein außergewöhnliches Musikstück gewürdigt, „das voller Sprengkraft ist und das die Musikgeschichte entscheidend beeinflusst hat“. 2013 ist dies Igor Strawinskys Ballettmusik „Le Sacre du Printemps“, das vor 100 Jahren uraufgeführt wurde. Dabei geht es nicht nur um dieses Werk allein, seine unterschiedlichen Bearbeitungen und Fassungen, sondern auch um Werke von Strawinskys Zeitgenossen. Aber was sind die schönsten Ballette, Konzerte und Theaterstücke ohne die Menschen, die sie aufführen? Nur aneinander gereihte Worte und Töne ohne Leben.
Von daher ist es nur folgerichtig auch einmal einen Darsteller szenisch zu würdigen. In diesem Fall ist es der 1889 in Kiew geborene Jahrhunderttänzer und Choreograf Vaslav Nijinsky. Und sein Leben ist so tragisch, dass es schon danach ruft, szenisch dargeboten zu werden. Was freilich keine leichte Aufgabe ist, litt Nijinsky doch unter Neurosen, Psychosen bis hin zur Schizophrenie.
Oliver Reese, Intendant am Schauspiel Frankfurt, hat die von Nijinsky geschriebenen Tagebücher nun in einen Monolog für einen Darsteller dramatisiert, der im Rahmen des Musikfests »Le Sacre du Printemps« in der Alten Oper Frankfurt uraufgeführt wurde. Erfahrungen mit der Dramatisierung von biografischen Texten hat Reese bereits gesammelt („Bartsch, Kindermörder“, „Emmy Göring an der Seite ihres Mannes“, „Bacon Talks“). Wobei nicht unerwähnt bleiben soll, dass es neben einem Musical über Nijinsky auch das von Detlev Glanert für das Theater Aachen komponierte Musikdrama „Nijinskys Tagebuch“ (für zwei Sänger, zwei Schauspieler, zwei Tänzer und Instrumente) gibt, das 2008 uraufgeführt wurde. Auch Reese verwendete Nijinskys Tagebücher als Textgrundlage, die dieser während eines Zeitraums von ca. 6 Wochen vor seiner Einlieferung in eine geschlossene Anstalt geschrieben hat.
Die Bühne im Mozartsaal der Alten Oper ist leer, sie gleicht einem großen Podium. Fast die ganze Aufführung über ist das Saallicht an (Raum/Licht: Johan Delaere). Nijinski, gespielt vom neuen Ensemblemitglied Max Mayer, steht wie ein Zuschauer gekleidet im Anzug am Bühnenrand. Langsam beginnt er mit seinem langen Monolog. Dabei erklimmt er schon bald die Bühne, zieht sich Ballettschuhe an und löffelt hin und wieder an einem Dessert.
Dabei zeigt Max Mayer ein facettenreiches Spektrum: ruhig und besonnen, dann wild gestikulierend, Angstzustände und Übermut…Und schon bald wird klar, was oftmals vergessen wird: hinter jedem Darsteller, sei es nun ein Sänger, Schauspieler oder Tänzer, steht stets auch ein Mensch mit eigenem Gefühlsleben und Persönlichkeit.
Oliver Reese hat einen Querschnitt zusammengestellt, der einen Blick auf Teilaspekte Nijijnkys wirft, der ernüchtert und betroffen macht (seine künstlerischen Arbeiten bleiben dabei außen vor). Trotz seines großen Erfolgs und seinem „göttlichen“ Tanz, hatte sein Leben auch viele Schattenseiten. Ständig unter Druck Erwartungshaltungen des Publikums zu erfüllen, ja zu überbieten. Und diese mit seiner Person in Einklang zu bringen. Der Zuschauer erfährt Details zu wichtige Personen in seinem Leben, wie über seine Beziehung zu seinem Impresario und Liebhaber Serge de Diaghilev, der ihn zum Startänzer seiner „Ballets Russes“ machte und zu seiner Frau. Dazu aber auch über seine enorme sexuelle Potenz und die damit verbundenen Konkubinenbesuche in Paris. Zwischen einzelnen Passagen ertönen kurze Sequenzen aus Strawinskys Musik, die Nijinskys Gefühlsleben untermauern.
Zum Ende hin wir der Saal dann doch noch abgedunkelt. Nijinsky zieht sich ein Schürzenkleid (mit Ferkeln darauf) über. Jetzt ist er bereit die Reisetasche in die Hand zu nehmen und den Klinikaufenthalt anzutreten…
Viel Zustimmung vom Publikum für diese ergreifende Umsetzung in nüchterner Ambiente.
Markus Gründig, September 13
Wälsungenblut
Schauspiel Frankfurt (Box)
Besuchte Vorstellung: 15. September 13 (Premiere)
Mit Beginn dieser Saison gibt es am Schauspiel Frankfurt nicht nur weiterhin das Schauspiel STUDIO, sondern einmalig in der bundesrepublikanischen Theaterlandschaft, erstmals ein REGIEstudio. Drei junge, talentierte Regisseure können ohne existenziellen Druck ein Jahr lang am Schauspiel Frankfurt inszenieren, eigene Projekte und Formate entwickeln und an ihrer künstlerischen Handschrift arbeiten (Intendant Oliver Reese hierzu: „Wir machen Ernst mit dem Auftrag Next Generation.“).
Zum Spielzeitauftakt präsentierte als Erstes der gebürtige Berliner Alexander Eisenach eine Inszenierung. Er war zuletzt als Regieassistent am Centraltheater Leipzig tätig. Unter den drei Regie-Studio Regisseuren gilt er als der Intellektuelle. Die künstlerische Referentin vom Schauspiel Frankfurt, Clara Topic-Matutin, beschreibt den studierten Theaterwissenschaftler „als klugen Theoretiker mit einem feinen Gespür für die bildliche Umsetzung der eigenen Gedankenkonstrukte“.
Für seine Dramatisierung von Thomas Manns Erzählung „Wälsungenblut“ in der umgebauten Spielstätte „Box“ (die Zuschauertribüne steht jetzt zur breiten Wand ausgerichtet, wodurch die Spielfläche wesentlich größer ist und es gibt zwei Türen mehr) kann man ihm ohne Zweifel attestieren, dass er Manns Gedanken mit feinem Gespür klug umgesetzt hat.
Der Roman „Buddenbrooks“ und die Erzählung „Tonio Kröger“ hatten Thomas Mann (1929 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet) schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts berühmt gemacht. Ein Jahr nach der Geburt seiner ersten Tochter schrieb er 1906 „Wälsungenblut“. Die Erzählung behandelt die inzestuöse Beziehung zwischen dem Zwillingspaar Siegmund und Sieglind und ist gewissermaßen eine Satire zu Teilaspekten von Richard Wagners Oper „Die Walküre“ (dem ersten Tag aus dessen „Der Ring des Nibelungen). Wobei sich Thomas Mann in seiner Erzählung auf Persiflierung der Geschwisterliebe beschränkt und zugleich Wagners Snobismus (Stichwort „Ästhetizismus“) anprangert.
Bevor das Publikum in der „Box“ Platz nimmt, sitzt es für circa eine Stunde (von insgesamt anderthalb Stunden) auf den Stufen des Foyers, so wie einst zu Zeiten der Nachtschwärmer-Reihe (nur dass die Sitzkissen jetzt wesentlich stärker gepolstert sind) und blickt auf die jetzt weiß getünchte Box. Davor mittig ein Kamin und die volle Längsseite einnehmend ein weißer Teppich, auf dem verstreut dicke Holzstämme stehen (Bühne: Lena Schmid).
Siegmund (großartig melancholisch, androgyn und stylisch: Mario Fuchs) und Sieglind (sehr sinnlich: Katharina Bach) treten kurz vor und schon dieser kurze Moment ihrer stummen Konsterniertheit zeigt ihr schauspielerisches Talent: Mit einer gar komischen Mimik und verzaubernd verstörenden Blicke. Sieglind präsentiert sich zu dem in einem festlichen barocken Reifkleid (später im weiten Hosenanzug; Kostüme: Julia Wassner). Kaum sind sie wieder verschwunden taucht der Herr des Hauses auf, der erfolgreiche Geschäftsmann Herr Aarenhold (voller Energie, mit Lebenslust und mit Wolferin-Bart: Daniel Rothaug), der voller Stolz seine herrschaftliche Villa präsentiert. Später kommt noch der stets verspätete Ministerialbeamte von Beckerath (einnehmend: Sarah Sandeh) hinzu. Das Quartett zeigt eine gelungene Mischung zwischen Ernst und Komik, bei dem die Darsteller oft auch körperlich gefordert sind und Rollen wechselnd gespielt werden.
Zum Besuch in der Oper zieht auch das Publikum mit um, nun geht es in die Box, deren Bühne golden eingekleidet ist und viele kleine Ponys von der Decke hängen. Hier folgt die Spiegelszene, mit der Ermordung Hundings (ebenfalls Daniel Rothaug). Sie ist mit viel Musik unterlegt (am Klavier und Keyboard: Friederike Bernhardt). Dieser Teil ist, wie der letzte kurze Teil auch, nicht so stark wie der erste. Die Liedtexte haben sicher eine Bedeutung, diese erschließt sich dem Zuschauer aber nicht unbedingt. Dennoch ein vergnüglicher Ausflug in die Welt der sagenhaften Wälsungen.
Markus Gründig, September 13
Draußen vor der Tür
Schauspiel Frankfurt (Kammerspiele)
Besuchte Vorstellung: 14. September 13 (Premiere)
„Ein Mann kommt nach Deutschland. Er war lange weg, der Mann. Sehr lange. Vielleicht zu lange. Und er kommt ganz anders wieder, als er wegging.“ So beginnt Wolfgang Borcherts Stück, „das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will“ (so der Untertitel). Die Geschichte des Kriegsheimkehrers Beckmann ist ein legendäres Antikriegsdrama über einen Menschen, der nach über 1000 Nächten in russischer Kriegsgefangenschaft zurück in seine Heimat kommt und für den es dort keinen Platz mehr gibt. Ein Stück über einen Menschen, der aus der Gegenwart herausbrechen will, weil er sie nicht erträgt.
Mattias Fontheim, Intendant am Staatstheater Mainz, inszenierte das Stück vor zwei Jahren bei sich im Kleinen Haus in klaustrophobischer Atmosphäre eines einfachen Holzverschlags. Jürgen Kruse hat es jetzt für das Schauspiel Frankfurt groß aufgezogen. Gezeigt wird es zwar in den Kammerspielen, allerdings statt in rund 75 Minuten wie in Mainz, in rund 135 Minuten, also beinahe doppelt so lang. Einzelne Szenen wurden ausgeweitet (wie das Vorsprechen im Varieté) und viel Musik (unterschiedlichster Stile, vom Seemannslied, über Schlager und Pop-Song bis zur Klassik) eingebracht.
Von Hochglanz und chicem coolen Ambiente wie bei Jorinde Dröses „Nibelungen“ am Tag zuvor im Schausielhaus, ist in Jürgen Kruses Inszenierung von Borcherts „Draußen vor der Tür“ nichts zu sehen. Hier trifft das pralle Leben auf den Zuschauer, führt ihn zum Zirkus des Lebens, der mitten im Hamburger Kiez liegt. Und da geht es nicht zimperlich zu, sondern voll zur Sache. Dunkel gehalten und mit Farbtupfer versehen ist die unorthodox ausgestattete Bühne von Volker Hintermeier. Die zunächst von einem halb durchsichtigen Brechtvorhang verdeckt ist und auf dem wie bei einem Schattenspiel Abläufe dahinter zu sehen sind. Zu Beginn lugt der Andere (mysteriös: Isaak Dentler) immer wieder grinsend hervor. Davor stehen zwei aufgehübschte junge Frauen (Alexandra Finder und Linda Pöppel), die eine lange schwarze Stoffbahn wedeln und so die Elbe andeuten.
Von der Decke hängt ein dünner Galgenstrick herab, der Beckmanns Ende unmissverständlich vorwegnimmt. Die Bühne selber birgt u.a. Baugerüste und Stützpfeiler, große Kabeltrommeln, einen Lüftungsschacht an der Decke, einen Ventilator und eine riesige Biene, die scheinbar über allem wacht. Ein wildes surreal wirkendes Umfeld, das durchaus zum expressionistischen Stil Borcherts passt.
Die Rolle des 25-jährigen Kriegheimkehrers Beckmanns spielt Manuel Harder, der zur neuen Saison vom Centraltheater Leipzig ins Ensemble des Schauspiel Frankfurt gekommen ist. Er gibt einen Beckmann, der zwar humpelt und innerlich zerbrochen, aber dennoch recht vital ist. Er spielt sehr ausdrucksstark einen Menschen, der nicht einfach aufgeben will, der nicht von Anfang an schwach ist (auch wenn die Umstände ihn dann endgültig straucheln lassen).
Wie Figuren aus einem Schauerkabinett wirken die Menschen um ihn herum, so wie Beckmann sie erlebt. Heidi Ecks ist erst die überzeugend kommentierende Elbe, später die glänzend spielende Frau des Oberst. Als dieser gibt sich Oliver Kraushaar mit erhabenem Äußeren und imponierendem Gehabe. Die eingefügte Castingszene im Varieté machen Vincent Glander und Thomas Huber zum humoristischen Höhepunkt des Abends, der ob der Bezüge zu Regieanweisungen im Theater, viele herzhafte Lacher hervorruft.
Das Premierenpublikum war beim Schlussapplaus kaum zu stoppen.
Markus Gründig, September 13
Die Nibelungen
Schauspiel Frankfurt (Schauspielhaus)
Besuchte Vorstellung: 13. September 13 (Premiere)
Nach der langen Sommerpause hat nun auch im Schauspiel Frankfurt die neue Saison begonnen. Zum Auftakt (mit insgesamt vier Premieren an aufeinanderfolgenden Tagen) gab es als Erstes im Schauspielhaus einen Klassiker: Friedrich Hebbels „Die Nibelungen“. Seine 1861 in Weimar uraufgeführte Dramatisierung der anonym überlieferten mittelhochdeutschen Nibelungensage aus dem 12. Jahrhundert besteht aus einem Vorspiel in einem Akt („Der gehörnte Siegfried“) und zwei Trauerspielen mit jeweils fünf Akten („Siegfrieds Tod“ und „Kriemhilds Rache). Nicht unbedingt leichte Kost. Aber Theater dient ja nicht nur der Unterhaltung, sondern auch der Auseinandersetzung mit Themen. Hier geht es um „Das maßlose Ich und das Wir“, „die Phänomenologie einer gewaltanfälligen Gesellschaft“ und um die „Gier und die Dynamik der Gewalt“ (Schlagzeilen aus dem Programmheft).
Bestimmten bei der letzten Neuinszenierung vor der Sommerpause helle Farbtöne die Szenerie (bei Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Tschechows „Die Möwe“), so ist es jetzt hier genau umgekehrt. Es gibt viel Schwarz zu sehen, fast nur. Dennoch ist die Produktion preisverdächtig. Denn Jorinde Dröse, die hier zuletzt „Der blaue Engel“ für die Bühne dramatisierte, gibt den Darstellern viel Raum, um ihr schauspielerisches Talent unter Beweis stellen zu können. Die Einbindung innovativer Videobilder (Stefan Bischoff) auf verschiedenen Flächen dient dabei als einzige Untermauerung. Diese Bilder sind teilweise konkret (wie ein intimer Blick auf die Beziehung zwischen Gunther und Brunhilde), zum Teil abstrakt (wie angedeutete Hochhausfassadenfronten als Andeutung für städtisches Treiben). Stets wirken sie ästhetisch ansprechend und kunstvoll.
Die Inszenierung von Jorinde Dröse ist sehr abstrakt gehalten, Ortsbezüge (wie der Hof König Gunthers in Worms, Brunhilds Burg in Isenland, im Odenwald und Etzels Burg) oder Zeitbezüge (6. Jahrhundert n. Chr.) gibt es nicht. Szenen beherrschend ist eine große Drehbühne, auf der sich versetzt stehend vier in sich drehbare Wände befinden. Alles ist Schwarz gehalten, es gibt nur wenig Licht. Eingerahmt ist die Drehbühne von überdimensionalen Leinwänden, die wie die Wände auf der Drehbühne, für die Videoprojektionen genutzt werden (Bühne: Susanne Schuboth).
Erwartungshaltungen werden von Dröse in vielerlei Hinsicht nicht erfüllt. Was per se ja nichts Schlechtes sein muss. Sie hält sich weitestgehend an den Originaltext, einige Rollen sind entfallen. Sie nimmt Hebbel sehr ernst, bei aller äußeren Losgelöstheit. Bei dieser sind die Darsteller besonders gefordert, müssen sie ja mehr oder weniger im Nichts Großes darstellen. Zu Beginn steht König Gunther mit seinen Leuten wie eine Geschäftsdelegation vor einer Wand. Sie beschwören ihre Vormachtstellung und ihr Männlichkeitsideal, was zwangsläufig in einer Farce endet. Sie tragen edle Businessanzüge (Kostüme: Susanne Schuboth). Szenenwechel erfolgen durch Drehen der variablen Wände und durch Einsatz der Drehbühne. Alles geht sehr fließend und es wird sehr deutlich gesprochen. Wobei eine grundsätzliche Vorkenntnis der Nibelungengeschichte nicht schadet.
Zum Ende der vergangenen Saison haben ja außergewöhnlich viele Darsteller das Ensemble verlassen (Sandra Gerling, Michael Goldberg, Henrike Johanna Jörissen, Nils Kahnwald, Felix von Manteuffel und Valery Tscheplanowa). Und so gibt es jetzt die Chance, viele neue kennenzulernen. Allen voran Verena Bukal in der Rolle der Kriemhild. Manch einem ist sie, die 2002 von „Theater heute“ als beste Nachwuchsschauspielerin genannt wurde, ja vielleicht auch vom Staatstheater Mainz bekannt, wo sie von 2006/2007 bis 2012/2013 Ensemblemitglied war. Hier gibt sie jetzt einen fulminanten Einstand. Ihre Kriemhild ist eine zart liebende Frau, die durch die Umstände jegliche Moral verdrängt und zur gnadenlosen Rächerin wird. Selbst die brutalen Geschehnisse am Ende sind nichts gegen das Leid und den Schmerz, den sie durch Siegfrieds Ermordung auch noch nach Jahren fühlt.
Erstmals dabei ist auch Lukas Rüppel. Er hat 2010 seine Ausbildung der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin abgeschlossen und war zuletzt am Schauspiel Stuttgart engagiert. Dass Siegfried ein Ausländer ist, wird schon durch seinen lockeren Kleidungsstil deutlich. Und auch sonst ist er anders als beispielsweise ein Siegfried in Wagners „Ring“. Jugendlich leicht und kraftvoll, gutgläubig und kameradschaftlich, doch dies wird ihm zum Verhängnis, da hilft dann auch kein Drachenblutpanzer mehr.
Als Gäste erstmals in Frankfurt zu erleben sind Chantal Le Moign als Königinnenmutter Ute im strengen Kostüm und Wiebke Frost als zeitgemäß mondäne Amme Frigga.
Constanze Becker wurde einen Tag vor der Premiere für ihre Medea in „Medea“ am Schauspiel Frankfurt als beste Darstellerin/Darsteller Schauspiel für den diesjährigen Theaterpreis Der Faust nominiert (nachdem sie für diese Rolle bereits im Frühjahr den Gertrud-Eysoldt-Ring 2012 verliehen bekommen hat). Ihre Rolle als Brunhild, Königin von Isenland, füllt sie mit wenigen Gesten groß aus.
Sascha Nathan, oftmals in komischen Rollen zu erleben, gibt hier den großen König Gunther. Ein machtgeiler Herrscher, der auch einmal an einer Wand hängt und nur durch Fremdhilfe auf den Boden der Tatsachen zurückkommt. Andreas Uhse gibt souverän den Spielmann Volker und für Christian Erdt vom SchauspielStudio kann man sich freuen, dass er die Rolle des Giselher, den jungen Bruder des Königs, bekommen hat. Er gibt sich wie seine Kollegen erfahren und weiß das Publikum für sich einzunehmen. Michael Benthin gibt den König Etzel zeitnah als liebenden Vater, der sich über das Geschenk eines Sohnes freut und der dann doch Umstände halber seine Prinzipien über Bord werfen muss und die Vernichtung der Feinde befiehlt. Der Markgraf Rüdeger des Peter Schröder ist einer der wenigen, der so etwas wie ein Gewissen hat und seine Not zu seinem Eid zu stehen in einen unlösbaren Konflikt führt.
Eine überraschende Figur ist der Hagen Tronje des Nico Holonics. Ein Wolf im Schafspelz, ein Intrigant vor dem Herrn. Mit großem Charme anstatt mit wildem Getue nimmt der schauderhafte Verbrecher alle für sich ein und alles für sich heraus.
Zum finalen Countdown auf der Burg Etzels fährt der Bühnenboden in die Tiefe, die Höllenbande erlebt hier ihr Fegefeuer in Form von genial grellen Videoeinspielungen. Dann erfolgen die Schüsse und ein schnelles Ende.
Nach über drei Stunden (bei einer Pause) nur Zustimmung, auch für das Regieteam und viel Applaus für die Darsteller.
Markus Gründig, September 13
Wer hat Angst vor Virginia Woolf?
Staatstheater Mainz (Kleines Haus)
Besuchte Vorstellung: 7. September 13 (Premiere)
Sie geben sich nichts, viel zu groß sind die Enttäuschungen nach über 20 Ehejahren. Die Abrechnung unter einem Großmaß an Alkoholkonsum zwischen dem Ehepaar Martha und George ist Legende, Edward Albees Stück, dessen Broadwayaufführung ihm 1962 den Durchbruch bescherte, ist ein gern gespielter Klassiker. Regisseur Christoph Mehler bezeichnete in der Allgemeinen Zeitung Mainz das Stück als „Die Urmutter dieser ganzen psychologischen Kammerspiele“. Ob der treffsicher platzierten Dialoge ist es ein gewisser Selbstläufer, aber auch eine große Herausforderung an die vier Darsteller, die sich hier nicht verstecken können. Schon gar nicht im kahlen Bühnenbild von Jochen Schmitt, das nur einen fenster- und türlosen Raum mit grauen Wänden zeigt. Im hinteren Bereich gibt es eine Treppe mit geschwungenen Stufen, die nach oben führt. Manchmal ist von dort der Schatten eines Gitterzauns zu sehen. Das Zimmer, in dem die private After-Party stattfindet, liegt somit quasi im Souterrain oder in einem Keller. Ein Abgrund ohne wirkliche Fluchtmöglichkeit ist er allemal, denn auch oben scheint die Welt dunkel und düster zu sein.
Doch Christoph Mehlers Inszenierung ist kein Endzeitspiel, auch wenn es schonungslos zur Sache geht und schon zu Beginn am Bühnenrand zehn hübsch aufgereihte Flaschen Alkohol nichts Gutes ahnen lassen. Getrunken wird in dem Stück viel, sehr viel. Wobei hier sehr schön von Anfang an deutlich gezeigt wird, dass das nur ein Bild ist. Wenn etwa Nick eine Flasche auf ex kippt oder George eine Flasche über die Süße leert (putzig auch, wie George sie mit einem musikalischen Glasspiel von zwei Flaschen aus dem Badezimmer anlockte).
Da die Figuren doch vielen bekannt sind, ist es natürlich für die Darsteller besonders schwierig, sie zu gestalten. Hier sind sie, trotz aller verbaler Ausfälle stets immer noch Charaktere, keine bloßen Stereotypen. Auch wenn es wirklich kalte Abgründigkeit nicht gibt und jeder auch seine schwache, und damit menschliche, Seite zeigen kann. Gespielt wird eine Übersetzung von Pinkas Braun, leicht gekürzt und sprachlich aktualisiert.
Nicole Kersten ist die Furie Martha, die nach Leben giert, aber so von falschen Gefühlen verblendet ist, dass sie gezwungen werden muss, der Realität ins Auge zu sehen. Für sie liegen die Fehler immer bei den Männern, die Versager und Schlappschwänze sind. Was könnte das Leben schön sein, würden die sich nur mehr anstrengen… Kersten gibt diese Figur ausdrucksvoll und couragiert.
Ambivalent ist der George des Gregor Trakis. Er hat ja in der „Kloake von Ehe“ so einiges einzustecken, sein Lachen und seine scheinbar unbekümmerte Art verliert er hier nur selten. Das wirkt mitunter befremdlich, warum ist er stets so gut gelaunt?
Lisa-Marie Gerl schleppt sich als die Süße (Putzi/Honey) schonungslos die Treppe herab in die Hölle der Eheleute Martha und George, überzeugt mit einer intensiven Darstellung und schrillem Gekichere.
Stefan Graf hat als Nick beim Liebesspiel seine Last, die Liebestöter Marthas zu durchdringen (Kostüme: Janina Brinkmann). Nur mit einem Hemd bekleidet ist die Lustszene zwischen den beiden ein komischer Höhepunkt der Inszenierung (von diesen gibt es einige, sodass die pausenlose, gut 100-minütige Aufführung wie im Fluge vergeht.). Daneben gefällt er als aufstrebender Jungprofessor.
Am Ende liegt Martha allein auf dem Boden, konfrontiert mit dem Tod des imaginären Sohnes, dem einzigen Band der Ehe. George hatte immerhin die Kraft zu gehen, vielleicht auch deshalb, weil er stets zu lächeln und das Leben trotz aller Häme zu nehmen wusste.
Nur wohlwollender, langer Applaus, auch für das Regieteam.
Markus Gründig, September 13
The Ruling Class
English Theatre Frankfurt
Besuchte Vorstelllung: 6. September 13 (Premiere)
Zur Eröffnung der neuen Spielzeit 2013/2014 startete das English Theatre Frankfurt nicht mit einem klassischen Drama, sondern mit einer Komödie. Und mit was für einer! Peter Barnes „The Ruling Class“ wurde am 6. November 1968 im britischen Nottingham uraufgeführt, die deutsche Erstaufführung fand am 10. März 1970 unter dem Titel „Die herrschende Klasse“ im Düsseldorfer Schauspielhaus statt.
Peter Barnes, 1931 in London geboren und ebenda 2004 verstorben, knüpft in seinen Stücken an die Tradition des englischen Barocktheaters an (Mischung von Stilen und Gattungen, makabre und ins grotesk übersteigerte Szenen, fließend verlaufende Grenzen zwischen Farce und Tragödie, zwischen Realistik und Fantastischem). Dabei beinhalten seine Stücke auch moderne Theaterelemente (Brecht lässt grüßen), sind sexuelle Freizügigkeiten der Hippiezeit nicht spurlos an ihm vorübergegangen, ebenso sind Toneffekte und Musik eingebunden. Der britische Theaterwissenschaftler Martin Esslin bezeichnete Barnes als „Meister des schwarzen Humors“.
“The Ruling Class“ ist sein bekanntestes Stück. Trotz Einflechtung vieler wirklich komischer Momente, die an „Monty Python“ erinnert, und manch tiefschwarzem Humor, der dem Roald Dahls gleicht, ähnelt es in weiten Teilen einer Satire, hier über den Wahnsinn einer von Herrschsucht gezeichneten Oberschicht. Gleichzeitig ist es auch eine Parodie zum klassischen englischen Kriminalstück, denn der Schuldige wird nicht bestraft, er steigt sogar ins “House of Lords“ auf und kann dort eine beeindruckende Rede über die Notwendigkeit von „law and order“ halten.
Allein von seiner abstrusen Geschichte und dem schwarzen Humor ist das Stück ein Selbstläufer. Allerdings sind die vielen Szenen auch eine Herausforderung an die Regie. Der erste Teil enthält neben einem Prolog 16 Szenen, der kürzere zweite Teil immerhin noch 11 Szenen und einen Epilog.
Für Regisseur Ryan McBryde, Associate Direcor des English Theatre Frankfurt, war es ein lang gehegter Wunsch, dieses Stück einmal zu inszenieren und er hat es bravourös geschafft, Barnes´ skurrile Geschichte des 14. Earl of Gurney schwungvoll auf die Bühne zu bringen.
Diese zeigt im Einheitsbühnenraum vom Georgia Lowe (auch für die Kostüme verantwortlich) den großzügigen Salon des Herrenhauses Gurney. Die Tapeten der Wände verströmen einen gewissen Klassizismus. Auffallender sind die riesigen und zunächst noch leeren, grünen Bilderrahmen. Sie nehmen Bezug auf die Rede des 13. Earl of Gurney im Prolog, bei der dieser beschwört, die Erinnerung an England grün, also lebendig, zu halten. Dabei ist England zu Beginn ganz präsent: in Form vieler Flaggen mit dem traditionellen roten Georgskreuz in weißem Feld. Schon der erste Szenenwechsel zeigt das hohe Tempo der Inszenierung, denn aus der Flaggenbrüstung wird schnell des Earls Bett geformt. Später wird der sich während eines sexuellen Spiels selbst Erhängte quasi durch eine Wand „abgeschoben“, verwandelt sich der Kamin in ein Krematorium, werden Bäume über die Seiten eingeschoben und Rasen ausgefahren: Der Salon gibt mehr her, als es auf den ersten Blick scheint. Dazu sorgt die Ausleuchtung von Katherine Williams für weitere Akzentuierungen. Neben vielen Musikeinspielungen, die von Klassik bis zu Hip-Hop reichen und Tanzszenen, kommen auch witzige Videoprojektionen zum Einsatz (wie etwa mit dem Leichnam des 13. Earl of Gurney oder mit Energieblitzen wie bei Star Wars) und am Ende grüßen gar Aliens.
Das eigens für dieses Stück in London gecastete Ensemble ist mit großer Leidenschaft dabei. In dessen unangefochtenem Mittelpunkt steht Richard Ede als Jack ‘The 14th Earl of Gurney’. Er hat nicht nur den meisten Text zu bewältigen, er muss sich auch körperlich voll einbringen. Als Irrer zeigt er sich überaus beweglich, klettert eine Wand hoch oder hängt wie Christus am Kreuz. Dabei zeigt er viel darstellerische Präsenz und viele Facetten.
Demgegenüber sind alle weiteren Rollen eindimensionaler. Sie werden treffend gespielt. Wie von Moray Treadwell als Diener Tucker (mit passend stoischem Gleichmut), Jeremy Gittins als an das Erbe strebende Sir Charles, Georgia Slowe als dessen lustvolle Frau Lady Claire, Max Dowler als etwas dümmlicher Sohn Dinsdale oder Rachael Barrington als attraktive Grace in glitzernden High-Heels. David Bowen und Andrew Piper sind in verschiedenen Rollen zu sehen (Bowen als Bishop Lampton, Toast Master, McKyle und Kelso Truscott; Piper als Dr. Herder, 13th Earl of Gurney, Matthew Peake, Detective Inspector Brockett, Third Lord). Sie auch als das Paar Mrs. Treadwell und Mrs. Piggot-Jones zu besetzen, heitert das Stück zusätzlich auf.
Ein heiterer Einstieg in die neue Saison, wenn auch ob des schwarzen Humors mit einem etwas bitteren Nachgeschmack. Viel Applaus.
Markus Gründig, September 13
Heine wacht auf und erzählt seinem Freund Karl Marx, wie er in einem Kahn die Kurt-Schumacher-Strasse rauf und runter fuhr. Stationen eines Traumas
Theater Willy Praml, Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 16. August 13 (Premiere)
„In uns selbst liegen die Sterne unseres Glücks.“
Heinrich Heine
Heinrich Heine, Lyriker, brillanter Publizist, bissiger Satiriker und Begründer des modernen Feuilletonismus, ist bekannt und doch auch nicht. „Deutschland, ein Wintermärchen“ wird gerne in Zusammenhang mit seinem Namen zitiert, doch sehr viel mehr nicht. Heutzutage hat kaum jemand etwas von ihm gelesen, geschweige denn kennt jemand seine Reiseschilderung „Die Harzreise“, die Gedichtsammlungen „Das Buch der Lieder“, „Neue Gedichte“ und „Der Romanzero“, das Romanfragment „Der Rabbi von Bacharach“, das Epos „Atta Troll. Ein Sommernachtstraum“ oder andere Dichter und Dramatiker aus dieser Zeit wie Ferdinand Christian Dietrich Grabbe oder Karl Gutzkow. Dabei hat Heine ein umfangreiches Œuvre an Prosa, Lyrik, Reiseberichten und vielem mehr hinterlassen. Oftmals wurde er angegriffen, auch wegen seiner politischen Ansichten. Eine eindeutige Zuordnung zu einer literarischen Richtung ist bei ihm nicht möglich, beschäftigte er sich doch mit der Romantik, der Aufklärung, der Antike, der germanischen Mythologie und vielem mehr. Die Nationalsozialisten wollten ihn gar posthum ausbürgern. Heute ist unter den deutschen Literaturpreisen der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Preis einer der angesehensten.
In Frankfurt/Main ist eine Strasse nach ihm benannt (eine kleine Verbindungsstrasse zwischen der Eschersheimer Landstrasse und dem Bornwiesenweg) und in der Taunusanlage steht ein Denkmal, das an ihn erinnert. Heines Berührungspunkte mit der Stadt sind zwar nicht eminent, aber auch nicht marginal. Auf Wunsch der Mutter nach einer wirtschaftlich soliden Berufsgrundlage (und Nacheiferung des erfolgreichen Schwagers, dem Bankier Salomon in Hamburg) machte er sich 1815 von seiner Geburtsstadt Düsseldorf nach Frankfurt auf, um beim Bankier Nehm Beer Rindskopff eine kaufmännische Lehre zu beginnen, die er bereits 1816 abbrach. Nach einem Zwischenstop bei einem Spezereienhändler (Gewürzhändler) verließ er wieder Frankfurt. Seine Anlagen und Interessen für einen kaufmännischen Beruf waren einfach nicht stark genug ausgeprägt. Später kehrte er hierher kurz zurück, nicht zuletzt, um sich mit dem Schriftsteller und Publizisten Ludwig Börne zu treffen.
Das Theater Willy Praml macht sich nun, im wahrsten Sinne des Wortes, auf den Weg, der Bekanntheit Heinrich Heines auf die Sprünge zu helfen. Der Abend ist alles andere als ein gewöhnlicher Abend, wie der Zuschauer ihn sonst auf einem Theaterstuhl sitzend erlebt.
Dabei wird das groß angelegte Heine-Projekt mit einem intensiven Exkurs zur Frankfurter Stadtgeschichte verbunden, insbesondere wird „mit den Mitteln des Theaters in den Gedächtnisraum der christlich-jüdischen Vergangenheit der Stadt eingedrungen“ (Praml). Dabei ist das Theater Willy Praml eine Kooperation mit dem Jüdischen Museum Frankfurt, dem Haus am Dom/ Katholische Akademie Rabanus Maurus, der Evangelischen Akademie Frankfurt und dem Evangelischen Regionalverband Frankfurt eingegangen. Denn Heine stammt aus einer jüdischen Familie (allerdings keiner orthodoxen), konvertierte später zum protestantischen Christentum, kehrte sich von der Religion ab, um in seiner letzten Lebensphase wieder zu ihr zurückzukommen.
Jeweils 160 Besucher können pro Vorstellung teilnehmen, die in Gruppen à 40 Besucher nach gemeinsam verbrachten Auftakt im und um das Museum Judengasse weitere Stationen Heines kennenlernen. Die Zuschauer werden Zeugen, wie sich die profane Kreuzung Berlinerstrasse und Kurt-Schumacher-Strasse in den mittelalterlichen Rhein verwandelt und hören dabei romantische Liedkunst (wie Robert Schumanns Vertonungen von „Im wunderschönen Monat Mai“ und „Die alten, bösen Lieder“), erleben bei einer Bustour die Shoppingzeile des mittelalterlichen Judenviertels der freien Handelsstadt Frankfurt am Main, selbst ein Ausflug ins Venedig von Shakespares Shylock ist dabei. An jedem der aufgesuchten Orte, der gleichzeitig auch ein Spielort ist, finden sich Darsteller des Ensembles (die ihren Part natürlich dann auch vier Mal am Abend spielen müssen). Bei der zeitlichen Koordination sind insbesondere die Laufzeiten (erschwert allein durch die unterschiedlich langen Ampelphasen) der Gruppen und ihre heterogene Zusammensetzung ein nur schlecht kalkulierbares Wagnis. Am Ende finden sich alle im Hof des Dominikanerklosters wieder, um Heines letzte Station gemeinsam zu erleben. Ein mehrstimmiger Projekt-Männerchor „Harry Heine“ im Stil eines traditionellen jüdischen Synagogenchors (Leitung: Thomas Hanelt; in Vertretung: Herber Helfrich) und Musiker (Timo Willecke: Gitarre; Sepp’l Niemeyer: Perkussion, Markus Rölz, Yu Zhao: Klarinette, Orgel: Felix Ponizy/Paul Leonard Schäffer) umrahmen das Geschehen.
Chapeau schon allein für die perfekte Organisation und Vorbereitung dieses Mammutprojekts (das durch viele fleißige Helfer im Hintergrund ermöglicht wird), bei dem Michael Weber für die Textfassung, die Dramaturgie und die Bühne verantwortlich zeichnet, Paula Kern für die Kostüme.
Zwar macht der lange Titel („Heine wacht auf und erzählt seinem Freund Karl Marx, wie er in einem Kahn die Kurt-Schumacher-Strasse rauf und runter fuhr. Stationen eines Traumas“) selbst den ungewohnten Stücktiteln eines René Pollesch Konkurrenz, allerdings ist er mehr als ein Wortspiel. Denn Heines Werk zeichnet die Verbindung von Ernstem und Heiterem aus, was vielen seiner Zeitgenossen gar nicht so gefiel. Oftmals wurde er auf die romantische Seite reduziert. Dabei wollte er mit seinen Stilmitteln die alle Lebensbereiche durchdringende Restauration aufbrechen und die Emanzipation des Menschen vorantreiben.
Einen ersten Einblick in Heines Leben erfährt der Zuschauer in der ersten von insgesamt acht Stationen, dem Museum Judengasse. In diesem wird an allen Ecken und Enden gespielt. Der Zuschauer erkundet die fünf erhalten gebliebenen Fundamente der ehemaligen Judengasse (die von 1462 bis 1796 das vor der damaligen Stadtgrenze liegende jüdische Ghetto bildete), den Alltag, die Wohnsituation und die religiösen Gebräuche der jüdischen Bevölkerung. Die Darsteller des Theater Willy Praml spielen in mehrminütigen Vorstellungen Episoden über Heine: „Harrys erste Prügel“ (Michael Weber über Heine und die Obrigkeit), „Heine und die Dinger“ (Reinhold Behrling über Heine und das Thema Sexualität), „Harrys Puppenspiel“ (Claudio Vilardo über Heine und die Religion), „Mutter Betty Heine“ (Birgit Heuser Heines Mutter, ein „Kontrollfreak“), „Die Lorelei“ (Gabriele Maria Graf) und „Mein Gott. O’ Gott, Ihr Götter, Göttingen“ (Michael Geil über Heine und die Universitätsstadt Göttingen).
Heines Romanfragment „Der Rabbi von Bacharach“ wird im Freien auf drei Stationen verteilt gespielt. Zum Teil im chorisch gesprochenen Vortrag vor dem alten jüdischen Friedhof, zum Teil als erhabene Rheinfahrt auf einer turbulenten Straßenkreuzung (mit dem Surfboard tragenden Baroon Abdi Mohamud als Träumer Heine) und zum Teil als amüsante Erlebnisfahrt in der Buslinie „Bacharach-Frankfurt“ (mit Reinhold Behrling als Rabbi, Marlene Zimmer als seine Frau Sara und Claudio Vilardo als Narr und Bewahrer des Judentors). Wobei das über einen langen Zeitraum entstandene Werk, das nicht abgeschlossen wurde, bitterernst ist. Thematisiert wird die Leidensgeschichte der Juden im Spätmittelalter, belebt durch Einbindung von Heines Beobachtungen aus dem gegenwärtigen Leben. Jakob Gail nutzt den überaus nüchtern gehaltenen Altarraum der Kirche der Unitarischen Freien Religionsgemeinde als Platz, um in die Welt von Heines Shylock zu führen, dem wohlhabenden Juden aus Shakespeares Komödie „Der Kaufmann von Venedig“. Gabriele Maria Graf, Sam Michelson und Christian Raab führen im Atrium des Stadtplanungsamtes Heines Deutschlandkritik vor, das Publikum sitzt hierbei um das 54-m² große Frankfurt-Modell herum. Birgit Heuser und Michael Weber führen in der Heiliggeistkirche Heines ethische Grundsätze vor.
Zum Schlussbild finden sich alle Gruppen, alle Darsteller, Musiker und der Chor im Hof des Dominikanerklosters wieder. Thema hier ist Heines „Matratzengruft, seine eigene Bezeichnung für sein Krankenlager aufgrund der schweren Krankheiten (Lähmung und Blindheit; möglicherweise Multiple Sklerose, die zur damaligen Zeit noch nicht entdeckt war). Über die alttestamentarische Geschichte von der Prüfung Abrahams und der Verheißung seinen Samen zu mehren (1. Buch Moses, 22), über den anwesenden Karl Marx, mit dem Heine eine enge Freundschaft verband, geht es bis zu Heines geliebten grönländischen Seehunden, die er im Himmel wiederzusehen wünschte.
Am Ende um Mitternacht, nach fünf Stunden insgesamt (die Dank der vielen Ortswechsel wie im Fluge vergingen), lang anhaltender und tosender Applaus für Willy Praml und das gesamte Team.
Markus Gründig, August 13
Das Schlackehotel
Festspiele am Rheinblick Bendorf 2013
Besuchte Vorstellung: 2. August 13 (Premiere)
Schon das Ambiente besticht: Die intime Freilichtbühne zwischen den historischen und unter Denkmalschutz stehenden Eisenerzröstöfen, das mit Fackeln erleuchtete Freiluftfoyer, der Blick über den Rhein Richtung Neuwied, Koblenz und die Ausläufer der Eifel, ein wundervoller Sonnenuntergang, all das macht schon allein äußerlich viel her. Dieses Jahr finden die „Festspiele am Rheinblick Bendorf“ bereits zum fünften Mal statt. In der Zeit vom 2. – 30. August gibt es Theater (sieben Vorstellungen des Schauspiels „Das Schlackehotel“) und Musik (Opern- und Operettenheldinnen, präsentiert von Camille Schnoor und Marcel Adam, der mit seinem Trio La fine équipe auftritt). Das Organisationsteam (Pascal Badziong, Alexandra Menge und Peter Lindemann) kann stolz sein, für diesen Rahmen ein solches Vorhaben auf die Beine gestellt zu haben. Ihre Ehrerbietung erwiesen bei der Premiere neben Vertretern aus der lokalen Politik auch viele Sponsoren, ohne deren finanzielle Unterstützung das Festival nicht möglich wäre.
Nach Begrüßung durch Peter Lindemann, 1. Vorsitzender des Kulturforums der GGH Bendorf (Gesellschaft für Geschichte und Heimatkunde von Bendorf und Umgebung e.V.) und durch den Autor und Regisseur Patrick Dollmann ging es dann auch gleich los. Schließlich hatten die Darsteller des Theaterensembles „Die Findlinge“ an den vergangenen Tagen bei hochsommerlichen Temperaturen hier im wahrsten Sinne des Wortes im Schweiße ihres Angesichts geprobt.
In seinem neuesten Stück „Das Schlackehotel“ hat sich Autor Patrick Dollmann eine ordentliche Portion Heimatpatriotismus auf die Fahne geschrieben. Schon der Titel nimmt Bezug zum Bendorfer Rheinhafen. Hier gab es einst ein Hafenamt, das auch eine Gastwirtschaft mit ein paar wenigen Gästezimmern beinhaltete und schon bald den Spitznamen „Schlackehotel“ hatte. Über dessen Betreiberin und ihre unterschiedlichen Gäste hat Dollmann eine fiktive, stimmige Komödie geschrieben, inklusive einer Liebes- und einer Kriminalgeschichte, und mit so manch lokalen Anspielungen, die das Publikum zu herzhaften Lachern animierten.
Am Ende haben sich die wichtigsten Probleme gelöst und es gibt auch ein Happy End. Gleichwohl hat das Stück dennoch Tiefgang. Denn Dollmann belässt es nicht bei saloppen Sprüchen, er macht auch Mut, sein Schicksal in die Hand zu nehmen und sich im Leben nicht einfach vom Alltag und von den Gegebenheiten treiben zu lassen. Wie auch das Böse und die Gefahr im Stück allgegenwärtig sind, wenn auch manchmal unter einem freundlichen Gesicht versteckt. Die Bühnenausstattung kommt mit einer kleinen Bar, einem Tisch mit drei Stühlen und einem Schaukelstuhl aus.
Das Theaterensemble „Die Findlinge“ ist seit Beginn bei den Festspielen am Rheinblick dabei. Die Zuschauer können sich also freuen, bekannte Gesichter wieder zu sehen. Regisseur Patrick Dollmann führt die elf (!) Darsteller subtil durch das turbulente Geschehen. Nicht nur vom Stück her, sondern auch darstellerisch ist Irmgard Teschke als Schlackehotelbesitzerin Erika Waldhaus Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung. Mit starker Präsenz und souveräner Spielart vermittelt sie authentisch eine lebenserfahrene und kämpferische Frau. Auf den Weg dahin ist ihr neues Stubenmädchen Viktoria (liebenswert: Jennifer Paulus), die von einer geld- und herrschsüchtigen Mutter (eiskalt: Christiane Brühl) gejagt wird. Auch mit ihrem Schmusi Kaspar (ausgezeichnet verwegen: Wolfram Hartleif) hat sie kein Glück. „Männer sind Schweine“ sangen einst „Die Ärzte“. Zu dieser Kategorie gehört nicht nur Kaspar, sondern auch der den Frauen verfallene „Rheinflamingo“ Vitus Frey (mit schelmiger Attitüde: Jürgen Lindner) und der unglücklich verliebte Benno (als Wolf im Schafspelz: Stefan Bau). Von ganz anderer Art ist dagegen Kapitän Fox (einnehmend: Thomas Krämer), der sein Herz auf dem rechten Fleck trägt.
Etwas skurril sind die weiteren Frauen angelegt. Allen voran die lebenstolle Paula der Daniela Goeth, die schon durch ihre Kleider im freizügigen Art-Déco-Stil der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, ihrer stilvoll gestylten Haare und mit ihren Mützen aus dem Rahmen fällt. Aber auch die Wahrsagerin Frau Theisen (mysteriös: Alice Schmitz) und die traumatisierte Mathilde (langsam erwachend: Renate Steinkamp).
Ein liebenswerter Farbtupfer ist der heitere und in Bendorf unerfahrene Polizist Lorenz (unbekümmert: Harald Schäfer).
Am Ende viel Applaus für einen gelungenen Auftakt der 5. Festspiele am Rheinblick Bendorf.
Markus Gründig, August 13