kulturfreak.de Besprechungsarchiv Theater, Teil 23

© Auri Fotolia

Nathan der Weise

Burgfestspiele Bad Vilbel
Besuchte Vorstellung:
20. Juli 14 (Premiere)

Vor zehn Jahren inszenierte Karin Neuhäuser Lessings dramatisches Gedicht „Nathan der Weise“ am Schauspiel Frankfurt. Bei der diesjährigen Inszenierung dieses Stückes bei den Burgfestspielen Bad Vilbel ist es ebenfalls eine Frau, die Regie führt: die junge Ina Annett Keppel. Mit großem Feingefühl erzählt sie die rührige Familiengeschichte, die vor allem von Moralismus und Toleranz handelt und die selbst nach über 230 Jahren nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Da braucht man auch gar nicht in den nahen Osten schauen, selbst vor der eigenen Tür sieht es auch heute noch nicht viel besser aus.
Und entsprechend zeitlos hat Keppel das Stück, das in Jerusalem zur Zeit des Waffenstillstands nach dem 3. Kreuzzug (endete 1192) spielt, verortet. Anklänge an die Moderne gibt es nur durch die Kleidung der Protagonisten (wie einen grauen Knitteranzug für Nathan, ein schwarzes Kostüm für Daja).

Nathan der Weise
Burgfestspiele Bad Vilbel
Recha (Eva-Maria Kapser), Daja (Chris Nonnast), Nathan (Thomas Dehler)
© Eugen Sommer

Die Bühne besteht aus zwei Bereichen, die nahtlos ineinander übergehen. Ein großer ansteigender Laufsteg führt in das Haus von Nathan (dessen Wände von der kürzlichen Feuerbrunst noch dunkel gefärbt sind) und eine steile Treppe zur rückwärtigen Empore, die den Audienzsaal im Palast des Saladin abgrenzt. Eine seitliche Empore dient als Nebenbereich von Nathans Haus (von dem Daja über eine Leiter herabsteigt) und als Kreuzgang des Klosters, in dem der strenge Patriarch von Jerusalem (eisern und in schicker Priestertracht, inklusive roter Schuhe: Kai Möller) seine finsteren moralischen Grundsätze verkündet.
Große, rot markierte Leitern mit verlängerten Sprossen und zwei Palmen schmücken die ansonsten leere Szenerie (Ausstattung: Gesine Kuhn und Veronika S. Bischoff). Gesprochen wird nicht gekünstelt und pathetisch, sondern mit vielen Gesten sehr authentisch und ansprechend.
Im Mittelpunkt steht die Figur Nathan, den das Volk von Jerusalem wegen seiner Klugheit als Weisen bezeichnet hat. Thomas Dehler gibt ihn sehr überzeugend als in sich ruhender Fels in der Brandung. Seine balsamisch getönte tiefe Stimme kommt ihm dabei zusätzlich zugute. Erhaben, aber doch auch bedächtig ist der Sultan Saladin des Volker Weidlich. Dynamisch und voller Energie ist der Derwisch Al-Hafi des Thomas Wild und passend besonnen der Klosterbruder des Tilmar Kuhn. Stefan Schuster gibt dem jungen Tempelherrn großes Format, als Strauchelnden und von seinen Gefühlen Durchgebeutelten.
Mit weiblicher List und großer Präsenz agiert Angelika Bartsch (die resolute Rössl-Wirtin der letzten Saison) als des Sultans Schwester Sittah. Nathans Tochter Recha gibt Eva Maria Kapser mit jugendlichem Übermut. Die Daja der Chris Nonnast zeigt, dass wenn sie auch nur Rechas Gesellschafterin ist, sie dennoch die Zügel in der Hand hat, ist dabei energisch, liebevoll und charismatisch.

Toleranz ist zwar kein Allheilmittel, aber ein erster Schritt für eine gemeinsame Zukunft. Die bleibt auch künftig spannend. Denn wenn am Ende des Stückes alles aufgedeckt worden ist, herrscht zwar Freude. Doch aus der Distanz, denn die vorgesehene Umarmung aller gibt es nicht.
Viel Applaus.

Markus Gründig, Juni 14


Gefährliche Liebschaften

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
14. Juni 14 (Premiere)

Als ein Hohelied auf die Liebe lässt sich Choderlos de Laclos Roman „Gefährliche Liebschaften“ nicht gerade bezeichnen, erst recht nicht in der Bearbeitung des britischen Dramatikers Christopher Hampton (der die Premiere am Schauspiel Frankfurt mit seiner Anwesenheit beehrte und zum Schlussapplaus auch auf die Bühne trat). Liebe ist etwas für Schwache. Vor allem ist sie etwas, was man benutzt und nicht etwas, dem man verfällt. Zumindest in der Auffassung der Marquise de Merteuil, die ihr eigenes Werk ist, denn sie hat ihre Methode, andere Menschen für ihre Zwecke zu manipulieren, perfektioniert. Sich von einem Mann herumkommandieren zu lassen, hat sie einmal mit sich machen lassen. Seit ihr Mann glücklicherweise verstorben ist, kämpft sie mit ihren eigenen Waffen, nimmt sich den Mann, den sie will, basta! Verkörpert wird die Merteuil von der Schauspielerin Sabine Weibel, auf ganz hervorragende Weise: als personifizierte Boshaftigkeit unterm breiten Reifrock, treffend arrogant, distanziert und kühl, aber auch aufbrausend, liebkosend und verführerisch. Weibel rettete im März 2006 die Premiere von „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ am Schauspiel Frankfurt, als sie kurzfristig für die Rolle der Martha einsprang (und von da an bis zum Ende der Intendanz von Dr. Elisabeth Schweeger zum Ensemble gehörte). Kaum zu glauben, dass seitdem acht Jahre vergangen sind.
Als das Biest an ihrer Seite, die gleichzeitig ihre einzige „Niederlage“ darstellt, trumpft Manuel Harder (Beckmann in Borcherts „Draußen vor der Tür“) auf, der leider ab Februar 2015 als festes Ensemblemitglied ans Schauspiel Stuttgart zu Armin Petras wechseln wird. Als Don Juan ist bemüht, seine Reputation nicht in Gefahr zu bringen und seinen Ruhm noch zu erhöhen. Mit langem Zopf und in Schuhen mit recht hohen Absätzen zeigt er sich galant wie erhaben, mit viel Wortwitz und zu viel Körperlichkeit neigend. Selbst im Adamskostüm verliert er nichts von seiner Größe.
Zwei starke Schauspieler, die ein treffend höllisches Team bilden, aber trotz des heftigen Geknisters zwischen ihnen nicht zusammenkommen, denn „Falschspieler sitzen an getrennten Tischen“ (Marquise de Merteuil) und ein Krieg zwischen ihnen ist unvermeidbar.

Gefährliche Liebschaften
Schauspiel Frankfurt
Marquise de Merteuil (Sabine Waibel), Vicomte de Valmont (Manuel Harder)
© Birgit Hupfeld

Ihre zwei Opfer Cécile de Volanges (erst kindlich, dann furienhafte Ausmaße annehmend: Lisa Stiegler) und Chevalier Danceny (erst brav und gehemmt, dann auf den Tod kämpferisch: Nico Holonics) reifen durch die ihnen zugefügten Intrigen, während die Tante Valmonts (im schwarzen Trauerkleid: Madame de Rosemonde, zurückhaltend von Till Weinheimer verkörpert) und Céciles Mutter (Madame des Volanges, streng auf die Etikette achtend: Gaby Pochert) reine Spielfiguren verkörpern, wie auch die Präsidentin de Tourvel der Katharina Bach schließlich nur das tun muss, was andere vorherbestimmt haben. Dazu passt auch das Schachbrettmuster des Bodens, denn hier werden Schicksale von der Marquise und dem Vicomte arrangiert.

Überraschend bis etwas befremdlich wirkt die barocke szenische Umsetzung. Die vorgelagerte Bühnenfläche umrahmt ein breiter Rahmen, von der Decke hängt ein Seil mit einer Quaste am Ende herab, eine Art Szenenklingel. Denn jedes Mal wenn daran gezogen wird, wechselt die Szene, fahren acht Kronleuchter auf und ab. Dazu gibt es nicht nur drei Chaiselongues, sondern auch zwei Sofas, diverse Spiegel-Paravents und große Kerzenleuchter (Bühne: Stéphane Laimé). Neben den ausladenden Roben der Damen fallen besonders die zehn Pagen mit ihren barocken Kostümen auf (Kostüme: Kirsten Dephoff), die unter den Launen der Herrschaften zu leiden haben (Schauspielstudenten des ersten Studienjahres der HfMDK FFM).

Regisseurin Amélie Niermeyer belässt es nicht bei einem emotionsstarken und publikumswirksamen barocken Spiel, sondern enttarnt auch die Figuren zu Menschen von heute. Sehr viel Beifall für eine der besten Inszenierungen der Saison.

Markus Gründig, Juni 14


“Kunst”

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
24. Mai 14 (Premiere)

Er macht sie gerne, aber nicht nur. Intendant Oliver Reese zeigte bei seinen Inszenierungen von Komödien ein glückliches Händchen, sei es „Der nackte Wahnsinn“ oder „Wir lieben und wissen nichts“. Aber was für das Publikum wie ein Selbstläufer aussieht, muss hart erarbeitet werden. Nicht viele Regisseure reißen sich um dieses Genre, wie Reese vor Kurzem bei der Spielplanpräsentation 2014/2015 anmerkte. Bevor in der nächsten Spielzeit Jorinde Dröse Shakespeares Komödie „Was ihr wollt“ inszeniert, erarbeitete Reese jetzt eine Komödie der Moderne, die schon in kurzer Zeit zu einem Klassiker geworden ist: Yasmin Reezas „Kunst“, die vor zwanzig Jahren in Paris uraufgeführt wurde.

Um das Thema „Kunst“ geht es darin nicht wirklich, auch wenn ein monochromes Bild im Zentrum steht und es deshalb zu einem heftigen Streit zwischen drei Freunden kommt. „Kunst“ steht hier als ein Beispiel, wie wir heutzutage Dinge beurteilen, wie stark unsere Urteilsfähigkeit ausgeprägt ist bzw. ob wir dazu überhaupt noch fähig sind, zu erkennen und auch das Erkannte zu formulieren (und nicht nur mit Gesten auszumalen, wie im Stück Marcs Frau Paula den sie störenden Rauch ihrer Mitmenschen).

“Kunst”
Schauspiel Frankfurt
Serge (Martin Rentzsch), Marc (Wolfgang Michael), Yvan (Sascha Nathan)
© Birgit Hupfeld

Drei Männer treffen sich abwechselnd in ihren Wohnstuben, am häufigsten bei Serge, der als Dermatologe arbeitet, und zwar nicht wirklich vermögend ist, aber genug Geld hat, um sich ein Bild eines angesagten Künstlers zu kaufen. Die eigentliche Bühne des Schauspielhauses wird nicht genutzt, dafür wurde von Bühnenbildner Hansjörg Hartung, ähnlich wie im November 13 bei „Wille zur Wahrheit“ eine kleinere Bühne davor platziert. Ortswechsel erfolgen durch das Einschieben von unterschiedlichen Rückwänden und durch unterschiedliche Einrichtungsgegenstände, die aus dem Holzboden nach oben gedreht werden.

Mag es am Intendanten als Regisseur liegen oder Zufall sein, die drei Darsteller geben sich in Höchstform. Selbst Wolfgang Michael, der gerne polarisiert, kommt mit der Figur des grantigen Ingenieurs in der Aeronautik, Marc, gut an (zumal er sehr langsam spricht und gut verständlich ist). Wie er den Text mit Leben füllt und darin Marcs Natur als Verfechter des Traditionellen, und als Wahrheitsfanatiker auszudrücken vermag, ist grandios. Am stärksten ist aber sein maliziöses Lächeln über den Unsinn der Anderen. Martin Rentzsch gibt den nonchalanten Serge mit Erhabenheit und starken Emotionen. Hinreißend ist erneut Sascha Nathan in der Rolle des Harmoniesüchtigen und larmoyanten Vertreters der Papierindustrie, Yvan. Für seine Schilderung über den Stress mit dem unlösbaren, dramatischen Problem, dass beide Stiefmütter auf der Einladungskarte zu seiner Hochzeit stehen wollen, erhielt Nathan starken Zwischenapplaus.
Sehr viel Applaus gab es auch zum Schluss, für ein brillantes Spiel, bei dem Existenzielles und Witziges stets eng beieinanderliegen.

Markus Gründig, Mai 14


Der Zwerg reinigt den Kittel

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
23. Mai 14 (Premiere)

You can turn this world around and bring back all of these happy days.
(Madonna)

Würde es nicht so viel Wahrheit beinhalten, wäre Anita Augustins “Der Zwerg reinigt den Kittel” ein herrliches Boulevardstück über vier verschrobene ältere Damen. Auch wenn es in der Zukunft spielt (im Jahr 2023), prangert es doch mit sehr viel schwarzem Humor gesellschaftliche Missstände der heutigen Zeit an und ist somit eines der besten tragikkomischen Stücke der letzten Zeit: Überaus unterhaltsam und flott geschrieben, gleichzeitig aber voll aus dem ernüchternden Leben gegriffen, das einem mitunter fast der Atem stockt, wenn das unser aller Zukunft sein soll.

Im Jahr 2012 erschien der gleichnamige viel gelobte Debütroman von Anita Augustin, die für das Schauspiel Frankfurt eigens eine Bühnenversion davon schuf. Die Fassung vom Schauspiel Frankfurt entstand durch die Dramaturgin Alexandra Althoff und der Regisseurin Bettina Brunier in Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen, wo das Stück Mitte Mai uraufgeführt wurde.

Der Zwerg reinigt den Kittel
Schauspiel Frankfurt
Marlen (Angelika Thomas), Almut (Josefin Platt), Karlotta (Lore Stefanek), Suzanna (Helga Werner)
© Birgit Hupfeld

Es ist eine gelungene Bühnenadaption, die in neunzig pausenlosen Minuten die Geschichte der vier Freundinnen erzählt, die sich nach 40 Jahren wieder treffen, um sich in einer komfortablen Seniorenresidenz sorgenfrei ihrem Altersdasein widmen zu können („Vollpension, Zimmerservice, Wäschedienst, Unterhaltungsprogramm…, alles auf Staatskosten“, in der „staatlich subventionierten Endlagerstätte“). Da keine von ihnen die nötige Kohle dafür hat, wollen sie in Absprache mit dem korrupten Heimleiter für zunächst zehn Tage ins Heim, um dann den MDK, den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung, davon zu überzeugen, dass sie täglich mindestens drei Stunden Hilfe bei der Körperpflege, der Ernährung und/oder der Mobilität benötigen, um in die für alle vorteilhafte Pflegestufe 2 eingruppiert zu werden.
Doch diese zehn Tage entwickeln sich für sie zur Hölle auf Erden, mit überforderten Pflegekräften, unqualifizierten Hilfskräften und dem durchorganisierten Betrieb in solchen Einrichtungen (Augustin beschreibt allein im Buch die ständig gleiche musikalische Ordnung: der „Radetzkymarsch“ vor dem Frühstück, später Schuberts Forellenquintett, 12.00 Uhr Vivaldis „Die vier Jahreszeiten, 15.00 Uhr Mozart, Abends Beethovens „Ode an die Freude“; ersterer ertönt auch während der Vorstellung).
Dabei hat die Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (per Video auf zwei Bildschirmen fast schon höhnisch: Franziska Junge) doch so schöne Worte für die Senioren gefunden (auf der Webseite des BmfSFJ wird tatsächlich von „Neue Bilder vom Alter“ gesprochen).

Das Besondere an dem Buch, wie an dem Stück ist, dass es mehrere Erzählebenen hat. Erst im Gefängnis, später dann in einer Gaststätte und dann im Heim, dazwischen wird ständig hin und her gesprungen und das Ende kommt noch anders als gedacht. Bettina Brunier (die hier zuletzt Felicia Zellers X-Freunde inszenierte) bringt das Stück im raschen Tempo und mit viel Schwung auf die Bühne. Bühnenbildnerin Claudia Rohner schuf für die vier eine runde Insel der Glückseligkeit. Mit acht Palmen, aber alles ganz in schwarz, das Glück hat einen großen Schatten… In der Seniorenresidenz angekommen, spaltet sich diese Insel in zwei Teile, die Realität verträgt nicht so viel Traumatmosphäre.

Alt werden ist kein Zuckerschlecken, das Leben im verdienten Ruhestand kann sich auch schnell zum Alptraum entwickeln. Davon weiß die Hauptfigur Almut viel zu erzählen, ist sie doch eine depressive Kettenraucherin mit Schlafstörungen und hat dazu noch Gewaltfantasien. Josefin Platt vermittelt diese Figur großartig, herrlich verschroben und doch so menschlich. Ihre Freundinnen stimmen mit den Figuren im Roman überein, sei es die ehemalige Sportlehrerin in einer Armeejacke und in schwarzer Trainingshose (die energiegeladene Karlotta mit Kurzhaarfrisur und Arthrose in den Knien der Lore Stefanek), die mit eleganter Frisur im weißen Anzug und auf goldenen Highheels sich äußerlich gut verkaufende Mehrfachwitwe (die souveräne Marlen der Agelika Thomas) oder die in knalligen Farben (Kostüme: Mareile Krettek) sich gebende stets gut gelaunte und essfreudige Vierte im Bund (die Suzanna der Helga Werner). Christoph Pütthoff ist gleich mehrfach zu erleben, als vermeintlicher Gerichtspsychiater Dr. Klupp, als unbeholfener FSJ-ler, genannt Nr.11, oder als Pfleger Doppelrudi. Der Live-Musiker Kornelius Heidebrecht spielt als Heimbewohner auch szenisch mit.

Madonnas „You can turn this world around and bring back all of these happy days“ begleitet Almut ihr Leben lang, auch wenn die glücklichsten Erinnerungen nur im Traum zurück geholt werden können. Der Spaß, den die vier miteinander haben, wirkt ansteckend (auch wenn es zwischen Ihnen durchaus einiges an Reibereien gibt). Sehr viel Applaus.

Markus Gründig, Mai 14


Venus in Fur

English Theatre Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
16. Mai 14 (Premiere)

Zwei Premieren innerhalb von acht Tagen, das hat es am English Theatre Frankfurt bisher noch nie gegeben. Für Intendant Daniel Nicolai und sein Haus ist es ein besonderes Vergnügen, nach Mark Healeys „The Collector“ nun David Ives 2010 uraufgeführtes „Venus in Fur“ zeigen zu können. Möglich ist dies, da in beiden Stücken die selben Darsteller spielen und beide Stücke abwechselnd bis Anfang Juli auf dem Programm stehen.
Wo bei „The Collector“ ein Mann eine Frau in seiner Gewalt hat, ist es bei „Venus in Fur“ gewissermaßen umgekehrt. Allerdings geht es bei letzterem nicht um ein Gewaltverbrechen, sondern um das subtile Spiel einer Frau, die einen Mann unterwirft. Basis hierfür ist die Novelle „Venus im Pelz“ des österreichischen Schriftstellers Leopold von Sacher-Masoch („Masochismus“) aus dem Jahre 1870. Ives’ Stück lief sehr erfolgreich am Broadway, nach seinem Start im kleinen Off-Broadwaytheater der Classic Stage Company spielte es aufgrund des großen Publikumszuspruchs dann im Samuel J. Friedman Theatre und schließlich im großen Lyceum Theatre. Die Darstellerin der Vanda, Nina Arianda, wurde für ihre schauspielerische Leistung mit dem Tony Award 2012 ausgezeichnet. Roman Polanski diente das Stück als Vorlage für seinen gleichnamigen Film.

Venus in Fur
English Theatre Frankfurt
Vanda (Meghan Treadway), Thomas (David Blackwell)
© Martin Kaufhold

Die Bühne von Simon Kenny zeigt das zweckmäßig eingerichtete kleine Büro des Broadway-Regisseurs Thomas (mit großem Fenster und Spiegelwand). Er will Sacher-Masochs „Venus im Pelz“ aufführen und sucht dafür die passende weibliche Darstellerin. Obwohl zahlreiche Damen zum Casting kamen, entsprach keine seiner Erwartungen, zu dünn, zu dick, zu jung, zu alt… Verspätet poltert Vanda herein, die zufällig genauso heißt, wie die Figur, die besetzt werden soll. Auch sie entspricht in keinster Weise Thomas´ Vorstellungen. Doch sie lässt sich nicht so leicht abwimmeln und hat schon bald das Ruder in der Hand…
In der Rolle des Thomas kann sich David Blackwell lockerer, natürlicher geben als in „The Collector“. Von seiner anfänglichen Überlegenheit ist dann schon bald nichts mehr zu spüren, er lässt sich auf ihr Spiel ein, übernimmt die Rolle des Severin von Kusiemski und wird zu Vandas Spielball, gehorcht ihr aufs Wort.
Wandlungsreich zeigt sich auch Meghan Treadway als laszive Vanda. Anfangs ist sie eine aufgedrehte, nervtötende und wahnsinnig schnell sprechende Chaotin in Dessous. Doch vom äußeren Schein darf man sich nicht blenden lassen, nicht bei ihr. Treadway bewältigt bei der rund 100-minütigen Spieldauer nicht nur den meisten Text, sie ist diejenige, die auch die meiste Initiative ergreift und ständig zwischen der Schauspielerin Vanda und der Figur Vanda hin und her springt.
Das es zwischen beiden heftig prickelt, ja knistert, ist förmlich zu spüren. Die aufgeladene Spannung zwischen Sklave und Herrin entlädt sich zusätzlich immer wieder über akustische Energieblitze. Und wie es sich beim SM gehört, gibt es zwischen beiden nur wenig Berührungen, obwohl sie sich gegenseitig ausliefern. Bei alledem ist es David Ives gelungen, das Spiel um die erotische Lust auch mit viel Wort- und Situationswitz zu versehen, die Regisseur Michael Howcroft treffsicher platziert. Am Ende großer Beifall.

Markus Gründig, Mai 14


The Collector

English Theatre Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
10. Mai 14

Mit „Saturday Night Fever“ ging das English Theatre Frankfurt in die Verlängerung, war es doch das bislang erfolgreichste Stück in der Geschichte des Hauses, wo es vom November 13 bis April 14 lief. Bevor im Sommer der Drama Club unter der Leitung von Michael Gonszar das Musical „The Black Rider“ präsentiert, gibt es jetzt erst einmal klassisches Theater. Wobei, ganz normal ist es auch nicht, denn die beiden Stücke, die jetzt im Mai Premiere feiern, werden als „Double Feature“ gegeben. Dieselben Schauspieler spielen in beiden Stücken, inszeniert wird jedes Stück aber von einem anderen Regisseur (es gibt Kombitickets ab 48 Euro, ermäßigt 25 Euro).
Das Thema von „The Collector“ ist aus erschütterndem Anlass bekannt. Sei es das Inzest-Drama von Amstetten oder der Fall Natascha Kampusch und nicht zuletzt der Film „Das Schweigen der Lämmer“. Dabei erschien das Erstlingswerk des britischen Autors John Fowles bereits im Jahr 1963 (nachdem dieser die im Jahr 1950 begonnenen Arbeiten an dem Roman im Jahr 1962 abgeschlossen hatte).

The Collector
English Theatre Frankfurt
Miranda (Meghan Treadway), Frederick (David Blackwell)
© Martin Kaufhold

Wobei niemand Angst haben muss, weder John Fowles´ Roman noch die Bühnenfassung von Mark Healy bieten eine Horrorgeschichte, einen Psychothriller allerdings schon: Der Eigenbrötler Frederick entführt die Kunststudentin Miranda und hält sie in seinem Keller gefangen…
Wohlfühlmusik aus den 60ern des letzten Jahrhunderts (Songs wie Simon und Garfunkels „The Sound of Silence“ oder Petula Clarks „Downtown“) täuschen eine heile Welt vor, verursachen in diesem Zusammenhang mitunter aber auch eine Gänsehaut.

Die Bühne von Simon Kenny zeigt auch nur diesen einen Raum, auf verkleinerter Fläche (der Raum steht praktisch auf einem Podest frei auf der Bühne). Von seiner Rückseite aus führen zwei Treppen nach oben, wobei diese Ebene leer ist. Sie dient als abstrakter Wohnort des passionierten Schmetterlingssammlers Fredrick. Sehr gut gelungen sind die dezenten Bildprojektionen der Schmetterlingssammlung auf die Rückwand, wie auch die Fotos von Miranda, die in „ihren“ Keller projiziert werden. Ihr Gefängnis ist ein an sich komfortabler Raum mit viel Platz (bestehend aus einem großen Bett, Sitzgelegenheit und Nassbereich). Zudem bekommt sie von ihrem Entführer jeden materiellen Wunsch erfüllt.

Zwischen den beiden entwickelt sich ein faszinierendes Spiel. Dabei ist Frederick durchaus auch eine tragische Figur. Sicher würden Ärzte ihm eine Persönlichkeitsstörung attestieren. Er ist geprägt von mangelnder Liebeserfahrung und hat dadurch kaum Selbstbewusstsein. Der junge britische Darsteller David Blackwell gibt ihn im Anzug mit Krawatte als Spießer par excellence, als sich sehr um seine „geliebte“ Miranda Kümmernden mit tumben Aplomb, sodass man fast ein wenig Mitleid mit ihm hat. Die Miranda der ebenfalls sehr jungen britischen Darstellerin Meghan Treadway kann sich facettenreicher zeigen, auch wenn sie gegen Frederick schließlich keine Chance hat.

Viel Applaus für ein spannendes Spiel.

Bei „Venus in Fur“, das ab Freitag den 16. Mai 14 gezeigt wird, sind die beiden also erneut zu sehen, dann werden die Machtverhältnisse aber anders sein…

Markus Gründig, Mai 14


Nora

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
9. Mai 14 (Premiere)

Rasant, komprimiert und von jeglicher äußeren Hülle befreit, Michael Thalheimer zeigt Ibsens Klassiker „Nora“ in effizienten, pausenlosen 80 Minuten. Am Ende großer Jubel für die Darsteller und das Regieteam, vor allem für Bettina Hoppe in der Titelrolle. Sie ist die ganze Aufführung über auf der Bühne präsent, steht dabei die ganze Zeit über am vorderen rechten Rand (weshalb es sich empfiehlt, Karten eher auf der rechten Seite zu wählen). Pfeifend, das kennt man von ihr, beginnt sie das Stück. Immerhin ist sie in Augen ihres Ehemannes ein Singvögelchen und selbst Ibsen lässt sie zu Beginn „vergnügt trällernd“ auftreten. Vortrefflich ist das blaue Kleidchen, das sie trägt, mit großer weißer Schleife, Nora, die lebendige Spielpuppe Helmers (Kostüme: Nehle Balkhausen).

Nora
Schauspiel Frankfurt
Frau Linde (Verena Bukal), Nora (Bettina Hoppe)
© Birgit Hupfeld

Die Auftritte der anderen erfolgen stets von hinten, wobei jeder mit eigenem Stil mit Wiedererkennungsfaktor Noras finstere und einsame Welt betritt. Advocat Torvald Helmer (überdreht: Marc Oliver Schulze) kommt hüpfend und fünffach leidenschaftlich nach seiner „Nora“ rufend herbei, seine Krankheit zur Schau stellend entsprechend stöhnend und sich schleppend: Dr. Rank (als sich outender Verehrer Noras: Michael Benthin), geduckt die Frau Linde (der Verena Bukal ein anrührendes, eloquentes und großes Format verleiht) und sich eifrig windend der durchnässte Rechtsanwalt Krogstadt (fast schon pantomimisch: Viktor Tremmel). Thalheimer verzichtete nicht nur auf die Nebenrollen (Kinderfrau, Hausmädchen und Dienstmann), sondern auch auf die drei Kinder der Helmers. Er inszenierte am Schauspiel Frankfurt zuletzt Euripides’ „Medea“. Die Inszenierung erhielt eine Einladung zum Berliner Theatertreffen 2013 und die Darstellerin der Medea, Constanze Becker, wurde für ihre Leistung mit dem Gertrud-Eysoldt-Ring und dem Deutschen Theaterpreis „Der Faust“ ausgezeichnet. Der auch international gefragte Regisseur (im letzten Oktober inszenierte er beispielsweise Büchners „Woyzeck“ am Königlichen Dramatischen Theater in Stockholm) hat unverkennbar ein Faible für dunkle Räume, so ist auch hier alles schwarz.

Die Bühne von Olaf Altman ist eine große Ecke, ein treffendes Bild für die in die Ecke getriebene Nora (die sich mit zunehmender Verzweiflung mit Suizidgedanken quält). Diese riesige Ecke ist nach oben geschlossen, trotzdem ist es kein klaustrophobisch enger Raum. Licht fällt nur sehr spärlich, meist nur von einem einzigen großen Scheinwerfer vom Saal aus (erst von rechts, später von links). So steht Nora stets im Fokus, die Anderen bleiben überwiegend im Halbdunkel (wenn sie nicht unmittelbar zu Nora herangehen). Die Figuren werfen stets bedrohlich wirkende Schatten. Als Unterbrechung wirkt ihr Tarantella-Tanz, zu dem lautstark Rockmusik ertönt und sie sich wild bewegt. In dieser Szene erscheinen die Anderen wie in einem Albtraum, mit zu ihrem Wesen passenden Tiermasken. Kurz darauf hat auch Nora kurzzeitig eine Tiermaske übergezogen, als treu dummes Lamm, das wohl bald zur Schlachtbank geführt werden soll. Doch soweit kommt es nicht, die Ereignisse überstürzen sich. Die sich dramatisch zuspitzenden Situationen werden durch zarte, sich ständig wiederholende Musik einer Spieluhr konterkariert. 

Besonders viel Wert wurde auf die Sprache gelegt. Schon zu Beginn wird im rasanten Tempo, aber stets sehr deutlich, gesprochen. Und auch sonst wird nicht lange gefackelt. Im Parforceritt geht es durch die Szenen. Eine Gemeinschaft gibt es nicht, genauso wenig wie eine normale Kommunikation stattfindet. Alles ist überzogen, überdreht, ja bis zur Groteske verzerrt und wirkt dabei weniger verstörend als belustigend. Beim Sprechen wird sich meist noch nicht einmal angeschaut, dafür wechseln die Emotionen schlagartig und vom leisen Gewimmer geht es zu lautstarken Schrei-, Wut- und Lachanfällen.
Am Ende pfeift Nora auf ihren Torvald, die Zwitscherlärche zieht befreit davon. Großer Zuspruch für diese radikale reduzierte und überaus agil dargebotene Deutung.

Markus Gründig, Mai 14


Die Geschichte von den Pandabären

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
4. Mai 14 (Premiere)

Es ist ein ungewöhnliches Stück, nicht nur vom Titel her, Matéï Visniecs „Die Geschichte von den Pandabären, erzählt von einem Saxophonspieler mit Freundin in Frankfurt“. Das Stück des Rumänen wurde 1995 beim Festival d’Avignon uraufgeführt. Anders als der Titel zunächst vermuten lässt, ist es kein Stück für Kinder. In einem Gespräch zwischen einer Frau und einem Mann wird die Geschichte des verstorbenen Michel Pailhole zum Leben erweckt, der einst mit einer fremden Frau im Bett aufwachte und die für weitere neun Nächte bei ihm blieb.

Der junge Regisseur Christian Franke setzt das fast schon an das absurde Theater anmutende Stück um Beziehung, Liebe und Nähe als eine Art szenisches Hörspiel um. Erzählt wird keine Geschichte im klassischen Sinn. Er präsentiert das Stück als eine Performance mit Geräuschen und Text. Dabei mischt sich die Realität mit der Fiktion, die auflebenden Erinnerungen mit Geträumtem.

Die Geschichte von den Pandabären
Schauspiel Frankfurt
Linda Pöppel, Katharina Bach
© Birgit Hupfeld

Die Bühne von Sabine Mäder bietet hierfür eine besonders intime Atmosphäre, selten ist man als Zuschauer den Akteuren so nahe wie hier. In der Spielstätte Box stehen zu einem großen Viereck geformte Podeste auf Tischhöhe. Sie sind, wie der Boden innerhalb des Vierecks, mit Schallschluckmatten aus Schaumpolyester ausgelegt. Hier sitzt das Publikum um die Spielfläche eines imaginären Tonstudios herum (zusätzlich gibt es eine Sitzreihe mit Stühlen für diejenigen, die lieber einen normalen Sitz haben möchten bzw. müssen). Inmitten der Spielfläche steht der Hausrat von Michel Pailhole, ein Sammelsurium aus Fernsehern, Plattenspieler, Bettdecken und Zitronen (und mehr). An zwei Ecken stehen Mikrofone und an deren Fuß jeweils ein Tonmischpult. Hier sitzen und stehen die beiden Protagonisten, die bei dieser Produktion von zwei Frauen gegeben werden (also von keinem klassischen Paar). Neben Linda Pöppel spielt Katharina Bach. Sie ist derzeit noch Mitglied des SchauspielSTUDIOs, wird aber zur kommenden Saison festes Ensemblemitglied am Schauspiel Frankfurt.
Den Dialog, den die beiden, überwiegend weit entfernt voneinander, führen, ist eine sich oftmals wiederholende Mixtur aus Gesprochenem und Klängen, die zum Teil eingespielt werden, teils mit den unterschiedlichsten Alltagsgegenständen erzeugt werden (dazu sorgt eine ausgefeilte Lichtregie für stimmungsvolle Impressionen). Einen Saxophonspieler gibt es (leider) nicht, dafür entlockt Katharina Bach einer E-Gitarre ein paar Töne. Die Annäherung zwischen Ihnen erfolgt subtil, assoziativ auf einer fast schon spirituellen Ebene. Die Lieblingstiere (Pandabären) von Michel Pailhole kommen dabei natürlich auch zur Sprache. Viel Applaus für diese bizarre Annäherung.

Markus Gründig, April 14


Mainhatten Monsters

Schauspiel Frankfurt ~ Junges Schauspiel
Besuchte Vorstellung:
22. April 14 (Premiere)


Sie sind allesamt noch sehr jung und haben noch nicht viel Theatererfahrung. Dennoch schaffen es die zehn Mitglieder des Schauspiel Frankfurt Jugendclubs die bei „Mainhatten Monsters“ mitwirken, eine durchaus berührende, unterhaltsame und nachdenklich stimmende Performance zu geben, die beim Schlussapplaus vom Publikum mit großem Zuspruch bedacht wurde. „Mainhatten Monsters“ ist ein „work in progress“-Projekt unter der Regie von Alexander Frank (der neben zahlreichen Arbeiten in der Box u.a. im Januar 2012 Lars Noréns „Liebesspiel“ als deutschsprachige Erstaufführung in den Kammerspielen inszenierte).

Der Zuschauer ist Gast bei einer Art Selbsthilfegruppe, neun weiße Stühle stehen im Halbkreis (Raum: Daniel Wollenzin). Die ungewöhnliche Gruppe trifft sich wöchentlich. Hierbei erzählen sich die Gruppenmitglieder gegenseitig ihre persönliche Leidensgeschichte. Damit geben sie den anderen die Möglichkeit, darüber auch ihr eigenes Problem in den Griff zu kriegen. Denn jede(r) von Ihnen hat eine Besonderheit, die zu einem unfreiwilligen Außenseitertum führen und sie von der Gemeinschaft der „Normalen“ ausschließt. Einmütig bekennen sie lautstark neben ihrem Namen noch „und ich bin ein Freak“. Nun, Freak zu sein ist an sich nichts Besonderes. Oder doch? Worin liegt die Andersartigkeit? Was ist normal und warum ist das so? In Gruppenübungen und Einzelvorträgen lernen sie sich selbst kennen. Dabei baut sich von der Zuschauerseite schnell Sympathie zu ihnen auf, gerade wegen ihrer gezeigten Andersartigkeit, die mehr oder weniger irgendwo in jedem steckt.

Mainhatten Monsters
Schauspiel Frankfurt ~ Junges Schauspiel
Vincent (Achille Bayoï), Trebur (Robert Karcher), Soje (Helena Dietenberger), Evelyn (Hannah Rang), Richard (Nils Westerhaus)
© Birgit Hupfeld

Da ist zum Beispiel Trebur (Robert Karcher), der einfach alle Menschen unheimlich gern hat und ständig knuddeln will. Oder das Gegenteil, Evelyn (Hannah Rang), die Probleme mit menschlicher Nähe hat. Richard (Nils Westerhaus) hat einen Hang zur Tobsucht und schreit mit wild aufgerissenen Augen, während die ruhige Rosa (Celine Buchholz) eher zum Autismus neigt. Alisha (Mahalia Slisch) hat einen Hang zur Gewalt und verbrennt bei Berührung andere, Soje (Helena Dietenberger) trägt bekümmert stets ein Herz mit sich, als Ausdruck für vergangenes Herzensleid. Anzugträger und Pianist Petri (Ramón Böhme) grämt sich wegen seines starren Gesichts und fehlender Gefühlsfähigkeit. Die aparte Fibi (Silva Bieler) hat eine außergewöhnliche „Wasserkrankheit“, die sie von der Umwelt isoliert.
Diese Gruppe moderner „Monster“ (der Titel nimmt Bezug zum zur Schaustellen von Menschen mit außergewöhnlichen körperlichen Behinderungen im 19. Jahrhundert) wird durch den saloppen Steffen (Oliver Kalla) aufgebrochen. Er ist eigentlich „normal“, doch von seinem Leben gelangweilt. Er will im Alltag nicht untergehen und sucht daher mehr als nur irgendwelche Leute zum Chillen. Von den Freaks verspricht er sich Abwechslung und merkt doch schnell, dass es nicht leicht ist, ihre eigenen Muster, die sie von sich und den anderen haben, aufzubrechen. Sein Engagement lohnt sich aber am Ende. Und wenn auch der Gruppenleiter Vincent (Achille Bayoï) am großen Druck zerbricht und aufgibt, zum Schluss öffnet sich die Gruppe der Freaks freudig der Welt, die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich hat sich gelohnt.

Markus Gründig, April 1


Der Zeuge

Schauspiel Frankfurt im Museum für Moderne Kunst Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
15. April 14

Was kommt nach dem Tod? Das Paradies? Das Fegefeuer? Die Hölle? Schon immer hat die Frage nach dem Jenseitsreich die Menschheit bewegt. Der italienische Nationaldichter Dante Alighieri schrieb darüber im beginnenden 14. Jahrhundert sein episches Gedicht „Die göttliche Komödie“. Unter diesem Titel steht auch die aktuelle Ausstellung zeitgenössischer afrikanischer Künstler im Museum für Moderne Kunst (MMK) Frankfurt, die den Besucher genau in diese drei Jenseitsreiche führt. Im Erdgeschoss finden sich Arbeiten zum Paradies, im 1. Obergeschoss zum Fegefeuer und im 2. Obergeschoss zur Hölle. Das Schauspiel Frankfurt beteiligt sich an dieser Ausstellung mit einer Produktion, die innerhalb des MMKs gezeigt wird: Vivienne Franzmanns zweites Stück, „Der Zeuge“, das hier seine deutschsprachige Erstaufführung hat.
In dem Stück geht es um eine Familiengeschichte, bei dem ein Foto aus dem ruandischen Genozid eine entscheidende Rolle spielt. Dabei stellt sich die Frage, wie weit darf ein Kunstobjekt, wie es eben auch ein Foto ist, manipuliert werden, um eine größere Wirkung zu erzielen. Nicht erst im digitalen Zeitalter mit nahezu technisch unbeschränkten Möglichkeiten ist diese Frage aktuell. Bekanntestes Beispiel für ein „beeinflusstes“ Foto ist das legendäre, kriegsanklagende „Nackte Napalm-Mädchen“ des Kriegsfotografen Nick Út, das am 8. Juni 1972 an einem Dorf unweit von Saigon entstand. Wie erst sehr viel später bekannt wurde, stellt sich heute die Situation etwas anders dar, denn das Bild wurde beschnitten. Auf dem Original ist ein Kriegsfotograf zu sehen, der ruhig einen neuen Film in seine Kamera einlegt (wie auch der Hintergrund nicht so düster ist etc.).

Der Zeuge
Schauspiel Frankfurt
Alex Potter / Frances Mutesi (Alina Vimbai Strähler), Joseph Potter (Till Weinheim)
© Birgit Hupfeld

Für den Besuch der Vorstellung von „Der Zeuge“ sind pro Vorstellung 50 Zuschauer möglich. Also eine kleine Runde, die auf Klapphockern ohne Rückenlehne die 90 minütige Aufführung im „Fegefeuer“, also im ersten Stock des MMKs verfolgt, inmitten von Franck Abd-Baker Fannys Fotoserie „Another Day Without You“ von 2013 sitzend. Es sind Bilder des Zwischenraumes, schwarz-weiß Bilder von Treppenhäusern. Als Kulisse für die Wohnung des erfolgreichen Fotografen Joseph Potter dienen lediglich zwei Designsessel und drei Felle (Bühne: Daniel Wollenzin ). Für den Rest sorgt auch die besondere Architektur des Hauses, da der Raum zu den Seiten offen ist.
Vom Ensemble des Schauspiel Frankfurt ist Till Weinheimer beteiligt. Er verkörpert den erfolgreichen Fotografen und Witwer Joseph Potter, als treu sorgender Vater der seine Adoptivtochter plötzlich quasi verloren hat, da sie eigene Wege geht und viele Fragen zur Vergangenheit stellt, die ihr Verhältnis stark belasten. Dabei ist er wie gewohnt charmant, aber auch aufbrausend, sodass man zusammenzuckt, dann wieder liebenswert (als Volltrunkener mit einer Ente an die Brust geklammert und Damenslip über den Kopf). Schon äußerlich macht er eine Wandlung durch, von legeren Freizeitdress (barfüßig in Hausschlappen), bis zum seriösen Businessanzug (Kostüme: Raphaela Rose). Alina Vimbai Strähler gibt selbstbewusst die Tochter Alex (Frances), Nyamandi Mushayavanhu stolz deren Bruder Simon. Beide zeigen zwischendurch bei einer kleinen Tanzeinlage auch ihre gute Hüftbeweglichkeit.
Unter der Regie von Leonie Kubigsteltig nimmt die fesselnde Geschichte langsam Fahrt auf, Stück für Stück wird die dunkle Vergangenheit ans Tageslicht geholt. Videoeinspielungen (Adrian Figueroa ) von Bildern aus der Gegenwart wie aus der Kindheit der Darsteller, verstärken den Bezug zu ihnen und zeigen, wie leicht Bilder zu manipulieren sind. Eine Videosequenz zeigt die Darsteller in einem tiefen Schwimmbecken, wo sie gegen ihren drohenden Untergang ankämpfen.
Am Ende sind die Zuschauer tief ergriffen, scheinen das Bild des in einer Kirche an der toten Mutter stehenden kleinen Mädchens tragisch vor Augen zu haben.
Der Vater steht, wie zu Beginn, einsam an einer Wand und überlegt, wie die Zuschauer, wie viel Wahrheit muss sein, wie viel Wahrheit darf sein…
Viel Applaus.

Markus Gründig, April 14


Dogville

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
11. April 14 (Premiere)

Der dänische Regisseur Lars von Trier zählt zu den umstrittensten Filmemacher unserer Zeit. Gleichzeitig aber auch zu denjenigen mit dem stärksten eigenen Profil. Seine Filme „Element of Crime“, „Dancer in the Dark“ und „Antichrist“ wurden bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes ausgezeichnet. Erst vor wenigen Wochen sorgte sein neuester Film „Nymphomaniac“ erneut für Schlagzeilen.
Das Schauspiel Frankfurt hat nun Christian Lolikes Dramatisierung von Lars von Triers Film „Dogville“ (im Kino 2003) in einer eigenen Spielfassung auf die Bühne des Schauspielhauses gebracht. Auf fulminante Weise! Regisseurin Karin Henkel zeigt nach „Drei Schwestern“ und „Die Wildente“ am Schauspiel Frankfurt hier ihre beste Arbeit.
Der Film ist kein amerikanischer Blockbuster mit großen Effekten, sondern ein in minimalistischer Weise gedrehter Theaterfilm, bei dem das Brechtsche epische Theater munter grüßt. Lars von Trier erzählt die Geschichte der jungen Frau Grace (Gnade) aus einer einfachen Studiokulisse heraus. Die Häuser der Elm Street in der Kleinstadt Dogville (amerikanische Rocky Mountains, „der letzte Vorposten der Zivilisation“) sind in seiner 50×50 Meter großen Studiospielfläche lediglich mit Strichen auf dem Boden markiert, es gibt kaum Requisite.
Trotz großartiger Besetzung polarisiert diese Filmtechnik, fällt es nicht jedermann leicht, dem 177-minütigen Film zu folgen.
Karin Henkels Umsetzung ist mit einer Spieldauer von knapp 150 Minuten nur etwas kürzer, langatmig und langweilig ist es bei ihr zu keiner Zeit. Schon der äußere Rahmen ist auch bei ihr ungewöhnlich. Im Zuschauersaal des Schauspielhauses wurden in sämtlichen Reihen die Plätze in der Mitte herausgenommen. So entstand ein Flur, der als Canyon-Road den einzigen Zugang nach Dogville bildet. Spannend war im Vorfeld die Frage, ob die Bühne dem Filmset folgen wird. Nun, sie tut es nicht unmittelbar. Jens Kilians Bühne zeigt die Behausungen der Bewohner von Dogville in einer Art rundem Mehrgenerationenhaus auf zwei Ebenen (inklusive ehemaliger Hundehütte für Grace). Alle wohnen hier zusammen. Dieses Haus ist von einem sich immer wieder drehenden hohen Rahmen aus Wänden, Durchbrüchen und Fenstern umgeben, was fast wie eine überdimensionale Käseglocke wirkt und die artifizielle Spielsituation betont. Ein kahler Baum und ein paar Kisten mit Äpfeln zur rechten, eine einsame Straßenlaterne zur linken Seite. Dort sitzt auch ein kleines Streichorchester. Die vier schwarz gekleideten Musiker wirken in ihren Mäntel und Hüten wie Mafiosis, sozusagen als Verbündete von Grace´s Vater (Kostüme: Klaus Bruns). Die im Film vorhandene Barockmusik von Händel, Pergolesi und Vivaldi wird hier mit melancholischen Klängen angedeutet. Zwischen einzelnen Szenen ertönen zusätzliche Schalleffekte vom Band, wie das sich mehrfach wiederholende „Dogville, Dogville“ (Musik: Jörg Gollasch). Von der Seite werden für die einzelnen Szenen jeweils Titel auf einem elektronischen Laufband gezeigt.

Dogville
Schauspiel Frankfurt
Grace (Claude de Demo)
© Birgit Hupfeld

Henkel stellt bei dieser bitterbösen Parabel über die Möglichkeiten des menschlichen Zusammenlebens die entscheidende Frage gleich zu Beginn. Verdienen die Menschen Gnade? Ist Grace schlichtweg arrogant, wenn sie den Menschen, die ihr so großes Leid zugefügt haben, verzeihen will? Schließlich handeln die Leute doch wie Hunde, die auch nur ihrer Natur folgen… Und nimmt das grauenvolle Ende vorweg. Grace steht zu Beginn mit Pistole in der Hand an der Canyon-Road, Dogville liegt noch im Verborgenen. Sie unterhält sich mit ihrem Vater (aus dem Off: Martin Rentzsch) und nachdem sie sich entschieden hat, gibt sie den Befehl zum finalen Massaker und erschießt Tom (der während des sich langsam hebenden Vorhangs hervortrat).
Kaum erschossen steht Tom auf und spricht zum Publikum („Seien Sie bereit für Gutes und Schlechtes…“), ähnlich wie es ja im Film einen allwissenden Erzähler gibt. Diese direkte Ansprache wird im Laufe des Abends wiederholt und für das Ende gibt es, weil es eigentlich bekannt ist, noch eine andere Veranschaulichung von Tom, die hier aber nicht verraten wird.
Im Film spielte Nicole Kidmann die Grace, kein leichtes Erbe. Claude de Demo gibt der verfolgten und Zuflucht suchenden Grace ein eigenes Profil, zeigt die Zerrissenheit dieser Figur mit einer starken Präsenz. Den idealistischen Tom Edison verkörpert leidenschaftlich Torben Kessler. Als sein blinder, optimistischer Vater Jack sorgt Thomas Huber für emotionale Wärme in dieser verschrobenen Gemeinschaft der Bewohner Dogvilles. Manuel Harder zeigt den Apfelbauer Chuck, der sich ob seines Äußeren (hier mit verstärkter Nase) als nicht liebenswert, ja abstoßend empfindet, eindrucksvoll zugleich als harten Kerl und zweifelndes Opfer seiner selbst. Isaak Dentler gibt den geschäftstüchtigen und etwas verschroben wirkenden Lkw-Fahrer Ben („aus der Transportbranche“), Andreas Use belustigend den Pantoffelhelden Henry und Daniel Rothaug (vom Schauspiel-STUDIO) beherzt den etwas zurückgebliebenen Bill. Die Hausfrauen von Dogville erinnern ein wenig an die aus der US-Serie Desperate Housewives. Kleinigkeiten bestimmen ihr Leben in diesem Nest. Heidi Ecks verzweifelt als sorgenvolle Vera, Kate Strong beweist als Ma Ginger praktische Veranlagung am Telefon, Wiebke Mollenhauer schwingt als Martha die Gemeindeglocke und pflegt die Kirchenorgel, Katharina Bach gefällt als Liz (die beiden letzteren kommen auch vom Schauspiel-STUDIO).
Sie alle sind mehr Typen, als dass Regisseurin Karin Henkel hier ein differenziertes Psychogramm der Bewohner aufzeigt. Aber diese Typen verkörpern sie hervorragend und machen es dem Zuschauer leicht, dem an sich betroffen machenden Stück mit Ernst und Freude zu folgen. Sehr viel Applaus!

Markus Gründig, April 14


Ein Traumspiel

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
28. März 14 (Premiere)

Strindbergs dreiaktige dramatisch-lyrische Fantasie „Ein Traumspiel“ (nebst einem Vorspiel) ist kein leicht zugängliches Stück (dies ist eher sein „Fräulein Julie“). Schließlich hat er „versucht, die unzusammenhängende, aber scheinbar logische Form des Traumes nachzuahmen. Alles kann geschehen, alles ist möglich und wahrscheinlich.“ (Strindberg in seiner Vorbemerkung zum Stück). Die bizarre Mischung aus Erlebnissen, Improvisationen und sich stets wandelnden Figuren stellt selbst für Regisseure eine besondere Herausforderung dar. Für das Schauspiel Frankfurt hat nun Philipp Preuss das bizarre Stück auf die Bühne der Kammerspiele gestellt. Zuvor hat er schon sehr unterschiedliche Werke für das Schauspiel Frankfurt inszeniert („Alice im Wunderland“, „Die Kontrakte des Kaufmanns“, „Robert Zucco“ und „Das Käthchen von Heilbronn“).
Ein inhaltlicher Zusammenhang in Form einer Geschichte, gibt es bei „Ein Traumspiel“ nicht, das ist aber so von Strindberg angelegt. Auch wenn die einzelnen Szenen durchaus realistisch sind, im Zusammenhang wirken sie surreal. Preuss´ Fassung weicht nicht nur bei der Szenenfolge vom Original ab, er gewichtet die Szenen auch anders, lässt manche aus, manche kehren Déjà-vu-artig zurück („Das ganze Leben besteht nur aus Wiederholungen“). Die Vorlage sieht über 50 Personen vor, die oftmals nur für wenige Sätze in Erscheinung treten. Dennoch schafft es Preuss, den Figuren ein Profil zu geben.

Ein Traumspiel
Schauspiel Frankfurt
Sascha Nathan, Franziska Junge, Nico Holonics, Kornelius Heidebrecht, Christoph Pütthoff, Lisa Stiegler
© Birgit Hupfeld

Schon beim Betreten des Zuschauerraums sind die Darsteller auf der Bühne präsent. Ein jeder sitzt vor einem Klavier (die verteilt auf der ansonsten leeren Bühne stehen), ein durchsichtiger Vorhang geht langsam wiederholt auf und zu. Wenn das Licht im Zuschauersaal ausgeht, sammeln sich die Darsteller um ein mittig platziertes Klavier und summen chorisch zu dem adagio Tonleiterspiel, das Musiker Kornelius Heidebrecht mit stoischer Ausdauer ständig intoniert. Der Vorhang geht weiter langsam auf und zu und schon bald verschwindet die Realität, stellt sich ein Gefühl von Traum ein, denn durch das dezente Licht wirkt die Szenerie bei geschlossenem Vorhang fern und irreal (unterstützt von der Ausleuchtung in unterschiedlichen Farben von Jan Walther). Nach gut zehn Minuten treten die fünf Darsteller der Reihe nach vor den Vorhang, sie tragen beige Hosen mit weißen Hemden. Aus der Rolle fällt diesbezüglich Indras Tochter, die stark am Schicksal der Menschen Anteil nimmt (mit steter Präsenz: Lisa Stiegler), die ein paradiesvogelhaft buntes Kleid trägt (zu dem Guido Maria Kretschmer sicher sagen würde, „das tut ihr keinen Gefallen“). Dazu ist sie auch an den Armen und im Gesicht bunt geschminkt, trägt eine schwarze Strumpfhose und schwarz-weiße Stiefel (Kostüme: Katharina Tasch). So hebt sich die göttlichen Sphären Entwichene schon optisch deutlich von den Menschen ab, obwohl sie ja eigentlich unerkannt unter den Menschen weilen will, um die Ursachen für deren Leiden zu erkunden.

Ein Traumspiel
Schauspiel Frankfurt
Nico Holonics, Lisa Stiegler, Franziska Junge, Christoph Pütthoff, Sascha Nathan, Kornelius Heidebrecht
© Birgit Hupfeld

Frontal vor dem Publikum stehend werden nun die ersten Worte gesprochen, abwechselnd von allen. Preuss verzichtet im Folgenden auf Strindbergs detaillierte szenischen Anweisungen, die Bühne bleibt bis auf die Klaviere und ein Harmonium leer. Allerdings gibt es einen großen, gewellten und schwebenden Baldachin. Mit pink-farbenem Rand, zahlreichen Glühlampen (wie bei einem Schminktisch) und LED-Leisten wirkt er wie aus einem Varieté oder einem Zirkus. Es ist das einzige Objekt, das an die Schönheit des Irdischen erinnert. Und ist gleichsam als „Himmel“ unerreichbar (Bühne: Ramallah Aubrecht).

Wer nun welche der zahlreichen Figuren verkörpert, ist, von Lisa Stiegler abgesehen, zunächst nicht zu erkennen. Das ändert sich mit Öffnen des Vorhangs (der aber das Thema der ständigen Wiederholung von allem im Leben aufgreifend, auch im Folgenden ab und an wieder auf und zu geht). Dazu bewegen sich die Darsteller zunächst wie in Zeitlupe, wobei gerade ihre zeitlupenhaften mimischen Züge beim Publikum gut ankommen, am stärksten wirkt dies bei Sascha Nathan, der zugleich mit packender Intensität den verzweifelten Advokaten gibt, der von den Gemeinheiten, dem Hass und den Verbrechen seiner Klientel gezeichnet ist. Franziska Junge ist u.a. das Ballettmädchen, das sich stets beschämt fragt, warum es nicht begriffen habe, dass es im Schloßstall denn so viele Pferde gibt. Sie kann aber auch als Heulboje ins Mark gehend laut schreien. Höhepunkt ist aber ihr schnelles Wechselspiel als Mutter und Sohn, wo sie mit den unterschiedlichsten Emotionen eine riesige Bandbreite ihres Könnens darbietet.
Mit ungestümem Vertrauen, dass seine geliebte Victoria nun endlich bald heraustreten werde, wartet Christoph Pütthoff als der gut gelaunte und zuversichtlich strahlende Offizier, um schon in wenigen Augenblicken mit gekrümmtem Rücken und von den anderen umstellt, zum Greis zu werden. Nico Holonics gibt u.a. den Dichter, der zum Schluss erst die anderen und dann sich selbst mit Schlamm beschmiert. Dazwischen wenden sich alle zu Indira, tragen dann ihr Kleid und werden zu gesichtslosen schwarzen Schattenfiguren (im engen Ganzkörperanzug). Oder wechseln ihre Identitäten. Hierfür ziehen Nathan und Stiegler weiße Tüten über ihren Kopf und über eine Videokamera werden die Portraits von Junge und Pütthoff als Gesicht auf diese Tüten projiziert (Video: Konny Keller). Komik und Tragik gibt es auch im Traum. Die Welt ist Traum.

Viel freundlicher Applaus.

Markus Gründig, März 14


Punk Rock

Schauspiel Frankfurt
Kooperation mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (im Bockenheimer Depot)
Besuchte Vorstellung: 21. März 14 (Premiere)

Zehn Tage vor der hier besprochenen Premiere von „Punk Rock“ wurde im baden-württembergischen Winnenden der Opfer des Amoklaufs vor fünf Jahren gedacht. Am 10. März 2009 hatte an der dortigen Albertville-Realschule ein 17-jähriger Schüler acht Schülerinnen, einen Schüler und drei Lehrerinnen erschossen. Auf der Flucht tötete er drei weitere Menschen, bevor er sich dann selbst erschoss. Dieser und andere Amokläufe junger Menschen dienten dem britischen Dramatiker Simon Stephens als Ausgangspunkt für ein Stück über Jugendgewalt. Er greift gerne gesellschaftspolitische Themen auf, seine Stücke tragen stets kurze und prägnante Titel (wie „Motortown“, „Pornographie“ oder „Steilwand“). Der vom Theater heute mehrfach als bester ausländischer Dramatiker ausgezeichnete Stephens wurde schon am Schauspiel Frankfurt gespielt. Mehr jedoch am nahen Staatstheater Mainz, wo die Vermittlung seines Schaffens ein besonderes Anliegen von Intendant Matthias Fontheimer ist.

Punk Rock
Schauspiel Frankfurt in Kooperation mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst
vorne: William Carlisle (Henning Kallweit), Tanya Gleason (Katrin Flüs) hinten: Lilly Cahill (Simone Müller), Cissy Franks (Nicola Schubert), Bennett Francis (Sebastian Volk)
© Birgit Hupfeld

In der Produktion von „Punk Rock“ im Bockenheimer Depot spielen Studenten des 3. Jahrgangs der Frankfurter Hochschule für Darstellende Kunst und Musik unter der Regie von Fabian Gerhardt. Gleichwohl ist das Niveau hoch, schließlich entstand die Inszenierung in Kooperation mit dem Schauspiel Frankfurt. In einem Seitenschiff des Bockenheimer Depot wurde eine quadratische, nach hinten ansteigende weiße Spielfläche aufgebaut, die von einem weißen Rahmengerüst mit sechzehn Neonröhren umsäumt ist. Die Mitte ist zunächst mit einem Tuch verdeckt, sie entpuppt sich später als eine Schulbibliothek. Die Wände des heimelig wirkenden Rückzugsraum für die Schüler wurde mit Perserteppichen ausstaffiert (Bühne: Rebekka Dornhege Reyes und Nina Thielen). Ort der Handlung ist eine britische Privatschule, entsprechend bieder sind die Kostüme (auch von Rebekka Dornhege Reyes und Nina Thielen) ausgefallen. Die jungen Damen tragen Bluse und Krawatten, die jungen Herren Blazer und Pullover. Mit Punks haben sie so gar nichts zu tun. Üblicherweise kommt auch gar keine Punk Musik in dem Stück vor (hier Dank der musikalischen Talente aller Darsteller allerdings schon).

Punk Rock
Schauspiel Frankfurt in Kooperation mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst
Chadwick Meade (Elias Eilinghoff), Nicholas Chatman (Josia Krus), Tanya Gleason (Katrin Flüs), Cissy Franks (Nicola Schubert), Bennett Francis (Sebastian Volk)
© Birgit Hupfeld

Es sind eigentlich ganz normale Jugendliche, so wie sie an jeder Schule zu finden sind. Ihr Schulalltag weist keine Besonderheiten auf. Lernen für eine Zwischenprüfung ist angesagt, Eifersüchteleien und kleine Streitereien sind inkludiert. Stephens hat die Figuren nach Typen gezeichnet und zunächst ist es nicht klar erkennbar, wer von den Jugendlichen zum späteren Attentäter wird. Mit Chadwick gibt es einen Außenseiter, der hierfür in Betracht kommt. Schon ob seines Namens wird er gehänselt, mangelnde Erfahrung mit Frauen und sein hoher IQ machen ihn nicht wirklich zum Liebling. Elias Eilinghoff führt diese Figur herrlich schräg vor, sodass man ihn als sehr gewinnend empfindet. Gleiches gilt in einem noch stärkeren Maß für Henning Kallweit, der den vermeintlich schwachen William gibt. Er zeigt das größte schauspielerische Potential, wozu ihm seine Rolle auch viele Gelegenheiten gibt. Josia Krug präsentiert den Womanizer Nicholas charmant und nonchalant. Die zentrale Figur ist Bennett. Er ist ein Wolf im Schafspelz, d.h. hier in moos-grünem Jackett und mit rosa Socken (so wie sich nur Engländer kleiden). Seine Späße macht er ausschließlich auf Kosten anderer, dabei bleibt allerdings unklar, woher seine üble Motivation kommt. Sebastian Volk führt ihn passend unsympathisch vor.
Die neue an der Schule ist Lilly, Simone Müller  (alternierend: Marina Schmitz) gibt sie emphatisch, erfahren und selbstbewusst. Davon träumen die anderen Frauen noch. Die unter dem Erfolgsdruck ihrer Mutter leidende Cissy gibt Nicola Schubert souverän. Die eigentlich ob ihrer Pfunde gezeichnete Tanja ist bei Katrin Flüs trotz dickem Pulli zwar gertenschlank, aber sie verleiht ihr auch so eine passende tragische Tiefe. Marina Schmitz nutzt mit starker Präsenz ihre kurzen Augenblicke als Dr. Harvey und Lucy (alternierend: Nicola Schubert).

Ob Gesang, E-Gitarre, Klavier, Saxofon oder Schlagzeug, die Studenten können auch leidenschaftlich musizieren und das sorgt für frischen Wind, sowohl im Stück als auch als Zugabe. Viel Applaus.

Markus Gründig, März 14


Das Schloss

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
16. März 14 (Premiere)

Im November 2013 stellte sich der Regisseur Ersan Mondtag mit „2. Sinfonie – Rausch“ vor, einem Stück das auf scherzhafter Weise unterschiedliche Aspekte des Themas Rausch behandelt. Für seine zweite Arbeit als Mitglied des Schauspiel Frankfurt REGIEstudios wählte Mondtag einen Romanklassiker: Franz Kafkas Romanfragment „Das Schloss“. Dramaturgin Rebecca Lang hat es für die Bühne bearbeitet.

Statt vieler Späße und Klamauk geht es bei „Das Schloss“ fast gespenstisch zu. Die kleine Bühne der Box ist mit weißem Kunstschnee bedeckt, an der Seite befindet sich eine Art schwarze Hütte (die schon bald in einzelne Bretterverschläge zerlegt wird), am Rand steht ein Schlitten. Die Rückwand ziert eine große Fototapete, mit einer geheimnisvoll anmutenden dunkelblauen Waldlandschaft. Der äußere Rahmen für den Alptraum des Landvermesserers K ist also schon einmal passend düster gezeichnet.

Zu einem schummrigen Sound tauchen aus dem Dunkel nach einander Körper mit riesigen Schwellköpfen hervor, die Augen so groß wie Rundbrillen, doch dahinter klafft eine Leere. Sie tragen weiße, eng anliegende dünne Leggins und Langarmshirts, Handschuhe und auch weiße Slipper. Nur eine Figur, die Frau (Frieda) hat einen (!) roten Pumps. Ihr Schambereich ist durch eine Stoffauflage farblich hervorgehoben, die anderen Figuren haben plakativ Kunstpenisse umgeschnallt, wie auch dicke Bäuche durch Schwangerenkissen.

Das Schloss
Schauspiel Frankfurt
Berit Stier, Verena Bukal, Christian Erdt, Lena Lauzemis
Karolin Back

Viele der obskuren und tragischen Gestalten des Romans werden in der komprimierten, 80-minütigen Aufführung gespielt. Wirkliche Charaktere gibt es nicht. Die Außergewöhnlichkeit der Figuren zeigt sich zusätzlich in Sprache und Motorik, letztere wirkt Marionettenhaft, wie verzerrt, fast schon mit spastischen Zügen. Auch die gesprochenen Wörter sind ungewöhnlich. Es wird geflüstert und gestottert, verfremdet gesprochen (und mit Mikroports unterstützt), geächzt und schmerzvoll geschrien. Von den vier Darstellern ist Verena Bukal als Frieda zu erkennen, Christian Erdt als Landvermesser K. Dazu spielen Lena Lauzemis und Berit Stier in wechselnden Rollen. Trotz des pantomimisch anmutenden Spiels und der riesigen Fratzen entstehen Gefühle und Stimmungen und das macht die Inszenierung besonders. Grundkenntnisse der Handlung helfen das Bühnengeschehen besser zu verstehen. Doch auch so ziehen diese obskure Gestalten an und transformieren Kafkas Textvorlage in eine sinnlichere Ebene. Viel Applaus für diese kopflastige Umsetzung.

Markus Gründig, März 14


Je t´ Adorno

Schauspiel Frankfurt im Bockenheimer Depot
Besuchte Vorstellung: 8. März 14 (Premiere)

Für René Polesch neuestes Stück ist der Titel ungewöhnlich kurz: Je t´ Adorno. Auch das mit „Adorno“ gewissermaßen ein Thema vorgegeben ist, ist neu. Ansonsten ist sich René Polesch wieder treu geblieben. Das Stück erstand als „work in progress“ zusammen mit den Darstellern, die nicht nur wieder mit viel körperlicher Nähe untereinander klar kommen müssen, sondern diesmal sogar an den Füßen aneinandergekettet sind. Auch die Musik hat wieder einen gewissen Anteil.

Die Bühne von Bert Neumann zeigt zunächst eine große leere Spielfläche. An den Seiten stehen jeweils vier Wände aus jeweils 20 weißen Kartons. Auf der großen Rückwand ist eine hohe, doppelflügelige Toranlage in einer Backsteinmauer zu sehen, vor denen sich die Darsteller die Zeit vertreiben. Was zunächst, d.h., wenn die Zuschauer den Saal betreten, eine Filmprojektion ist. Mit Frank Sinatras Fassung von Petula Clarks „Don’t Sleep In The Subway“ fährt eine Tram mit vollem Karacho durch die Rückwand und macht dann auf der Bühne halt. Sie trägt in großen Lettern „Desire“ und wirkt zunächst wie eine grandiose Hommage an Tennesse Williams „Endstation Sehnsucht“, das im Original den Titel „A Streetcar Named Desire“ trägt. Sodann wird in 100 Minuten viel gesprochen, ernst und lustig Anmutendes. Die Darsteller (von Tabea Braun mit Nieten-Jeansjacken und Haartolle überwiegend auf brave Rocker-Gang gekleidet) sind dabei wieder gut gefordert. Die Gruppendynamik wird auch gleich beschworen, wenn es gilt, möglichst viele Pappkartons aufeinander zu stapeln.

Je t´Adorno
Schauspiel Frankfurt
Lukas Rüppel, Vincent Glander, Linda Pöppel, Oliver Kraushaar, Silvia Rieger, Oliver Rossol (Ton), Ute Schall (Kamera)
© Birgit Hupfeld

Gespielt wird abwechselnd in und außerhalb der Tram, geht es doch auch um das, was Außen und was Innen ist. Und das ist natürlich als Metapher zu deuten. Die als Gast hierfür engagierte Schauspielerin Silvia Rieger fragt berechtigt „Es steht drauf, was drin ist…“ (z.B. auf Erbsendosen im Supermarkt), „warum reicht das nicht“? In Bezug auf die Menschen und die Gesellschaft, denn das ist Adornos großes Thema. Theodor Wiesengrund Adorno, Philosoph, Soziologe, Musiktheoretiker und Komponist, bietet Stoff für mehrere Theaterabende, da ist es schon faszinierend, was Pollesch als Destillat gewonnen und in seine eigene Theatersprache transformiert hat.

Wir sollen nicht geliebt werden für das, was wir sind, sondern für das, was wir machen. Denn ein Nazi vor einer Bücherwand ist ja auch nicht ein besserer Mensch, nur weil er belesen ist (Auschwitz wurde nur möglich, weil dem Menschen seine Individualität aberkannt wurde). Das Tun entscheidet. Vorlagen sind nicht per se besser als Nachahmungen, also wenn z.B. ein Film nach einem Roman entsteht. Vorlagen gibt es nicht, sagte schon Darwin. Alles ist Entwicklung.

Von Adornos Tod bis heute ist das Leben nicht einfacher geworden, eher komplexer. Um der Versachlichung und Entfremdung zu entkommen, um nicht in ein Chaos zu stürzen, bedarf der Mensch einer Ampel, die ihm Halt gebietet und ihn somit vor Überforderung schützt (Adornos Engagement in Sachen einer Fußgängerampel in den 60ern an der nahen Senckenberganlage ist extra im Programmheft abgedruckt).

Dazwischen ertönt eine kurze Orchestersequenz aus Leonard Bernsteins West Side Story, wo es ja auch um den Kampf zweier Gruppen geht. Die fünf Darsteller, die bei „Je t Adorno“ mit Fragen und Kommentaren wetteifern, sind Vincent Glander, Oliver Kraushaar, Linda Pöppel, Silvia Rieger und Lukas Rüppel. Silvia Rieger sticht als Redeführerin am meisten hervor. Die Bilder innerhalb der Tram werden von Ute Schall an der Livekamera erfasst und auf die durchbrochene Rückwand projiziert, Oliver Rossol sorgt für den Ton.

Nur durch Verflüssigung erstarrter Vorstellungen, durch eine ständige Neuordnung der Wirklichkeitselemente kann ein Bewusstsein entstehen, dass alles auch anders sein kann (was gleichsam selbst wieder zu hinterfragen ist). Was bleibt sind Fragen, aber das ist auch bei Adorno nicht anders. Viel freundlicher Applaus.

Markus Gründig, März 14


Biedermann und die Brandstifter

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
7. Februar 14 (Premiere)

Auch wenn die Bezeichnung „Biedermann“ für einen Spießer etwas in die Jahre gekommen ist, Max Fritschs Stück „Biedermann und Brandstifter“ ist es auf keinen Fall. Schon gar nicht, wenn es so zeitgemäß interpretiert wird, wie jetzt am Schauspiel Frankfurt unter der Regie von Robert Schuster (der sich hier schon mit „Mutter Courage“, „DNA“ und „Hanglage Meerblick“ vorgestellt hat).
Sein Herr Biedermann (vortrefflich leidenschaftlich sich für die scheinbare Aufrichtigkeit und Wahrheit ins Zeug legend: Peter Schröder) ist ganz in der Gegenwart verankert. In seinem Haus (auf der Bühne abstrakt dargestellt mit einer weißen großen Wand und wenig Interieur) hat er die ganze Welt unter seiner Kontrolle. Denkt er. Denn auf die weiße Wand, die die ganze Bühnenbreite einnimmt, kann er auf Knopfdruck zeitgleich mehrere Dutzend Nachrichtensendungen (mit den Brandherden dieser Welt) verfolgen, selbst zeitlich zurückliegende. Diese Wand erweist sich sodann als wandlungsfähig. Durch Kippen einzelner Elemente entstehen Öffnungen, entstehen Balkone (als Bild für den Dachboden im Haus des Haarwasserfabrikanten Biedermann). Genial wirkt allein die technische Umsetzung dieser Nachrichtenfenster-, Feuer- und Livebilderwand (Video: fettFilm), die auch noch mit integrierter Textprojektion auf die hochgeklappten Bereiche aufwartet (Bühne: Jens Kilian).

Biedermann und die Brandstifter
Schauspiel Frankfurt
Herr Biedermann (Peter Schröder), Schmitz (Martin Rentzsch)
© Birgit Hupfeld

Regisseur Robert Schuster hat bei seiner Umsetzung die Rolle des Chors (Max Frischs ironischer Hinweis auf die antike Tragödie) deutlich aufgewertet. Durch einen auf dem Flügel liegenden Feuerwehrhelm ist er gewissermaßen omnipräsent. Der das Geschehen hilflos kommentierende Chor wird von Esther Dierkes, Matthias Breitenbach, Josef Rennert und vom Jung-Schauspieler Daniel Rothaug (auch Polizist) verkörpert. Letzter spielt sich hier in den unterschiedlichsten Kostümen und Perücken (u.a. als Krieger mit Papp-Sonnenblume, mit Rastalocken, T-Shirt und Shorts, im Anzug wie in Unterhose) lustvoll in den Vordergrund. Esther Dierkes untermalt mit effektvoll gesetzten Gesangseinlagen: vertonte Auszügen aus dem Nelly Sachs Gedicht „Wir Geretteten“. Mit diesem Gedicht der Holocaust Überlebenden, die nun schauen müssen wie ein Leben nach diesen Erlebnissen aussehen kann, wird gleichzeitig auch zum Stück und seiner Rezeption Bezug genommen, wurde es ja auch als Erklärungsversuch für den Aufstieg Hitlers interpretiert.

Die erweiterten und anspruchsvollen Texte des Chores sind geschickt in das Geschehen eingebunden. Zum Ende hin wird es deutlich dichter und alles steuert auf das große Finale zu: Das Haus Biedermanns in hellen Flammen. Dabei geht es auch sehr unterhaltsam zu.
Martin Rentzsch ist in seiner Kleidung als ehemaliger Ringer und Zirkusmitglied (Kostüme Eva-Maria van Acker) ob seines ungewohnt prolligen Äußeren kaum wiederzuerkennen. Till Weinheimer gibt sich als Kellner Eisenring vornehm wie eh. Zusammen bilden die beiden ein vorzügliches Brandstifterpaar.
Heidi Ecks gefällt als Ehefrau Babette mit ihrer Unbekümmertheit und ihrem scharfem Blick auf die Realität. Wiebke Mollenhauer tänzelt bezaubernd als ein sich in eine andere Welt sehnendes Dienstmädchen Anna mit blauem Tütü anstelle einer Schürze über die Szenerie. Ursula Herr gibt der stummen Rolle der Witwe Knechtling tragische Tiefe.

Kennzeichnend für Max Frisch, der als Bühnen- wie Romanautor sehr erfolgreich und u.a. von Bertolt Brecht beeinflusst war, und sein antiillusionistisches Theater, ist die Frage nach der Selbstverwirklichung, nach der Identität. Was ist Wahrheit, wie nehmen wir sie heute im multimedialen Zeitalter mit einer noch die dagewesenen Reizüberflutung wahr? Schuster vermittelt diese Fragestellung in faszinierender Umsetzung und macht im Sinne Frischs zwischendurch gerne immer wieder deutlich, das hier alles nur Theater ist, auch wenn unsere heute gefühlte Sicherheit auch nur auf einem dünnen und leicht zu hinterfragenden Gerüst steht.
Viel freundlicher Applaus.

Markus Gründig, Februar 14


Der weiße Wolf

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
7. Februar 14 (Premiere)

Morde und Verbrechen sind seit jeher ein beliebtes Thema im Theater. Und so wurden am Schauspiel Frankfurt schon oft Stücke zu Verbrechen, insbesondere zu solchen der Moderne, aufgeführt. Beispielsweise über den US-amerikanischen Unabomber Theodore Kaczynski unter der Regie von Martin Baasch im Zwischendeck („patriot act“), über Mitglieder der RAF, wie in „Ulrike Maria Stuart“ in der Schmidtstrasse 12 unter der Regie von Peter Kastenmüller oder „In seiner frühen Kindheit ein Garten“ unter der Regie von Armin Petras im Schauspielhaus.
Jetzt hat Lothar Kittstein als Auftragsarbeit für das Schauspiel Frankfurt einen Blick auf die rechte Terrorzelle NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) geworfen. Dem aus Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe bestehenden Trio werden u.a. zehn Morde angelastet. Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos verübten am 4. November 2011 Suizid, Beate Zschäpe stellte sich kurz darauf der Polizei. Ihr wird seit Mai 2013 u.a. wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in München (da in Bayern die Mehrzahl der Morde verübt wurde) der Prozess gemacht.
Autor des für das Schauspiel Frankfurt geschriebenen „Der weiße Wolf“ ist Lothar Kittstein. Er hat für das Schauspiel Frankfurt neben „Die Bürgschaft“ schon die ob ihrer ungewohnten Nähe zwischen Darstellern und Publikum herausragenden Stücke „Remake :: Rosemarie“, „Je t’aime, je t’aime“ (diese beiden liefen im Bockenheimer Depot) und „Making of : Marilyn“ geschrieben. „Der weiße Wolf“ ist ein konventionell aufgebautes Stück für eine klassische Spielsituation (es gibt keine Raumbegehung für das Publikum).

Der weiße Wolf
Schauspiel Frankfurt
Janine (Ines Schiller), Tosch (Sascha Nathan), Gräck (Torben Kessler)
© Birgit Hupfeld

In Kittsteins Geschichte gibt es lose Bezüge zur Organisation NSU. Beispielsweise, dass einer der beiden Männer mit einem Wohnwagen herumzieht oder dass sich die beiden Männer am Ende selbst umbringen. Das Stück wirft den Blick auf drei vom Leben maßlos enttäuschte Personen, deren „Hass gegen den Dreck draußen“ sich in fataler scheinbar planloser Weise entlädt. Sie gestehen ein, dass Träume für ein lohnendes Leben wichtig sind, jeder braucht die Sehnsucht oder halt den Hass. Dabei wird ihr Handeln nicht gerechtfertigt, nur bloß gelegt.

NS-Andeutungen halten sich in Grenzen. So gibt es für Janine zum Geburtstag einen braunen Geburtstagskuchen, wird gesagt, was eine deutsche Frau darf und was nicht, wird ein Hitler-Gruss angedeutet und Sprachbelehrungen ausgesprochen („sag nicht Fuck, sondern Scheißdreck“).

Die Handlung spielt im Haus von Janine und Gräck, besser gesagt: es ist nur „eine Bruchbude von einem Haus“. Es ist ein leerer Raum. Lediglich ein großer Holzbalken steht diagonal im Raum, der graue Teppich weist rote Flecken auf (ob Blut oder Rotwein ist offen), von den Wänden bröselt der Putz herab (Bühne: Nehle Balkhausen). Die Atmosphäre ist grau in grau, es gibt nur wenig Licht, das meist nur spot-artig eingesetzt wird und in harten Brüchen wechselt, nur kurz vorm Ende wird die Bühne einmal kurz voll ausgeleuchtet (Licht: Johannes Richter).

Für die Regie zeichnet der einstige Hausregisseur des Schauspiel Frankfurt, Christoph Mehler, verantwortlich. Er hat ein gewisses Faible für fahle, dunkle Räume, denkt man an seine Arbeiten wie „Des Teufels General (Nov. 2012) oder „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ (Sept. 2013 am Staatstheater Mainz). Kittsteins Textvorlage verleiht er eine apokalyptische Stimmung, schonungslos lässt er die drei Protagonisten miteinander umgehen und zeigt das Ganze in spannenden 90 Minuten.

Tosch ist derjenige, dessen Charisma und Energie die anderen beiden anzieht. Er kann sie leicht für seine Zwecke manipulieren. Thorben Kessler gibt ihn, gekleidet mit einem dünnen schwarzen Mantel, treffend skurril. Einerseits fast bürgerlich, wenn er bei den anderen beiden mit Kuchen in einer Tüte auftaucht, dann wieder fast wie entrückt und von seinem Hass verstört. Der Gräck des Sascha Nathan ist ein gewissermaßen zwar angepasster Hausmann, doch auch bei ihm brodelt es unter der Oberfläche und er kann ganz schön vehement aus der Haut fahren. Mitunter kommen sich die beiden Männer verboten nah, wenn sie derb küssend aufeinander liegen ist ihr innerer Konflikt wohl am größten. In der Rolle der Janine ist als Gast-Schauspielerin Ines Schiller zu erleben. In ihrer Art erinnert sie mitunter an das ehemalige Ensemblemitglied Henrike Johanna Jörissen. Kämpferisch und doch sehr zart. Ihre Janine träumt von sieben Kindern, die wiederum sieben Kinder gebären sollen, sie führt den Haushalt und steht zwischen den Männern. Sie ist die zentrale Figur, und wie sich am Ende zeigt, wird die ganze Geschichte als rückblickende Rekonstruktion von ihr erzählt.

Der weiße Wolf, Bild für etwas Fremdes wie Ungewöhnliches, dass von Osten her ins Land zieht und es bedroht, erscheint zum Schlussbild in Form eines Husky auf der Bühne. Dazu ertönen dumpf brodelnde Töne, die auch für das Geräusch von Feuer stehen können, in denen einst der Wohnwagen nach dem Selbstmord von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in Flammen aufging, oder das gemeinsame Wohnhaus in Zwickau (Musik: Daniel Freitag).

Begeisterter Applaus für einen fiktiven Bilderbogen über Gewalt in einer kleinen Zelle.

Markus Gründig, Februar 14


Wir haben deinen Traum im Mund

Frankfurter Autorentheater
Besuchte Vorstellung:
1. Februar 14 (Premiere)

Eigenwillige Stücktitel sind ja sehr in Mode, nicht zuletzt dank René Pollesch. Im Frankfurter Autorentheater wurde jetzt Jakub Gawliks „Wir haben deinen Traum im Mund“ uraufgeführt. Ein Stücktitel, der zunächst eher für Fragen, denn für Antworten sorgt. Auch der kurze Infotext zum Stück lässt einen im Unklaren, um was es in dem Stück geht. Selbst das dort enthaltene Kleist-Zitat „Ich will eine eigene Kunst erfinden, und dich weinen.“ (aus dessen Käthchen von Heilbronn) ist mehr ein Statement denn Erklärung.
Was allerdings schon rein formal die Aufmerksamkeit auf diese Uraufführungsinszenierung lenkt, ist die dabei beteiligte Schauspielerin Valery Tscheplanowa, die von 2009 bis 2013 Ensemblemitglied im Schauspiel Frankfurt war.

Wir haben deinen Traum im Mund
Frankfurter Autorentheater
Valery Tscheplanowa
© Jakub Gawlik

Zum Beginn, d.h. beim Durchschreiten eines Teils der Bühne hin zu den Sitzplätzen, ist die Spielfläche in der Brotfabrik offen einsehbar. Am Boden liegen vier unterschiedlich große Haufen aus weißem Papierkonfetti. Dieses ist überall in Resten vorhanden, also auch an den Wänden und der Decke, wodurch der Raum eine bizarre Atmosphäre erhält (Bühne: Peter Schloss). Auf einem der Konfettihaufen liegt in einem kurzen Glanzkostüm der Darsteller Tolga Tekin, mit Blick zum Publikum. Vom Publikum abgewandt steht ein Rollstuhl, in ihm sitzt Valery Tscheplanowa.  Selbst wenn sie nur so abgewandt und emotionslos da sitzt, umgibt sie eine in ihren Bann ziehende Aura. Nachdem die Eingangstür geschlossen wurde, geht es los, ohne das das Licht über dem Publikum ausgeschaltet wird. Von hinten kommt der Autor, Regisseur und Schauspieler Jakub Gawlik herein und schiebt den Rollstuhl mit der darin sitzenden Valery Tscheplanowa nach hinten, aber so, dass sie nun zum Publikum blickt. „Schauen Sie“ wird von den dreien abwechselnd gesprochen. Doch genaugenommen, geht es bei diesem Stück eher um genaues Zuhören. Die drei Darsteller tragen barfüßig einheitlich kurze Kostüme, im glänzendem Blau und mit Gürtelschleife (Kostüm: Lena Knipp). Dennoch ist es für die beteiligten Herren keine Travestienummer, eher Ausdruck für den Verzicht von Geschlechter- und Rollenzuteilung.
Erzählt wird keine Geschichte. Im artifiziellen Text von Jakub Gawlik geht es ums Ich, um Beziehung, Trennung und aneinander Vorbeileben. Die gesprochenen Texte, mit vielen kleinen Stilblüten, fallen eher schlagwortartig, Textpassagen werden oftmals wiederholt. Jakub Gawlik sorgt als Regisseur für einen leichtgängigen äußeren Rahmen, die Positionen wechseln ständig, zum Teil wird von den Publikumsplätzen gespielt. Die vier Konfettihaufen werden im Laufe der Aufführung auch lustvoll zerschlagen und lassen kurz eine märchenhafte Zauberwelt entstehen.

Dabei ist Valery Tscheplanowa nach wie vor einfach einzigartig faszinierend. Schon die ersten von ihr gesprochenen Sätze gehen, unabhängig von ihrem Inhalt, ins Mark. Diese Stimme und ihre intensive Darstellung sind ergreifend, dabei stets sehr authentisch und natürlich. Sie bewältigt bei diesem Stück auch den meisten Text (zart flüsternd und ohrenbetäubend laut), die beiden Herren arbeiten ihr gewissermaßen zu. Dabei ist der körperlich und sprachlich behinderte Tolga Tekin besonders hervorzuheben, fügt er sich doch im Rahmen seiner Möglichkeiten intensiv und schonungslos ein. Seine Beteiligung kann auch als Hinweis auf die Brüchigkeit allen Lebens gedeutet werden, wie auch auf die Chance, nicht in Niederlagen zu verharren, sondern positiv nach vorne zu schauen.

Der „Abend auf der Suche nach der ersten Frage vor der letzten Antwort“ fasziniert ob der ungebrochenen szenischen Präsenz von Valery Tscheplanowa, dem nicht alltäglichen Beitrag von Tolga Tekin und dem poetischen Text von Jakub Gawlik. Viel Applaus.

Markus Gründig, Februar 14


Fauser, mon amour

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
26. Januar 14 (Premiere)

Don’t give up
‚cause I believe there is a place
there is a place
where we belong…

Peter Gabriel

Vom Buch (1981) zum Film (1985, mit Marius Müller-Westernhagen) ging es im Fall von Jörg Fausers Roman „Der Schneemann“ recht schnell. Die Dramatisierung dauerte länger. Für das Schauspiel Frankfurt haben nun Regisseur Alexander Eisenach und die Dramaturgin Rebecca Lang Fausers Roman für die Bühne bearbeitet. Wobei sie dabei nicht einfach die Geschichte des Kleinkriminellen Blum nacherzählen, der vom Pornoheftverkäufer durch Zufall an 2,5 Kilo Kokain („Schnee“) kommt und hofft, damit das Geschäft seines Lebens zu machen. „Fauser, mon amor“ bietet mehr, nämlich auch einen Exkurs in Fausers Gedankenwelt. Der 1944 geborene und 1987 unter etwas fragwürdigen Umständen verunglückte Autor erfährt somit eine doppelte Würdigung.

Die Inszenierung entstand im Rahmen des seit dieser Saison neu bestehenden REGIEstudios. Für Alexander Eisenach, der sich beim Frankfurter Publikum im September 2013 mit „Wälsungenblut“ erfolgreich vorstellte, ist dies die zweite Arbeit in der „Box“. Hierfür erhielt er am Ende der Premierenvorstellung lang anhaltenden Applaus (gefühlt sogar mehr wie bei „Wälsungenblut“). Was nicht nur an der abwechslungsreichen, humorvollen wie ernsthaften Umsetzung lag, sondern auch an dem mitreißenden Spiel aller Darsteller. Neben den SchauspielSTUDIO Mitgliedern Christian Erdt und Mario Fuchs (die inzwischen über den Nachwuchsstatus hinausgewachsen sind), spielen Christoph Pütthoff und Linda Pöppel aus dem Ensemble mit. Zudem gibt es ein Wiedersehen mit Christian Kuchenbuch, der von 2005/2006 bis 2008/2009 Ensemblemitglied am Schauspiel Frankfurt war.

Fauser, mon amour
Schauspiel Frankfurt
Christian Erdt, Christoph Pütthoff, Mario Fuchs, Christian Kuchenbuch, Linda Pöppel
© Karolin Back

Das Publikum sitzt die ganzen 105 Minuten die das Stück dauert, auf den Foyerstufen und schaut auf eine Leinwand, die vor der „Box“ steht. Der Beginn gleicht einer Filmvorführung, mit einem liebevoll auf alt, besser gesagt auf „vintage“, getrimmten Vorspann. Die ersten dreißig Minuten gibt es nur den Film zu sehen, vermeintlich. Denn das, was der Zuschauer mit untergelegter Jazzmusik hört und sieht und was durch die schwarz/weiß-Bilder artifiziell wirkt, wird in der Box live gespielt und mit einer Kamera aufgenommen und live übertragen. Blums Verhör bei der Maltesischen Polizei beispielsweise, das Treffen mit dem amerikanischen Unternehmensberater Harry W. Hackensack (beide vortrefflich verwegen: Christian Kuchenbuch) und natürlich das Treffen mit der verführerischen Cora (sinnlich: Linda Pöppel). Den Siegfried Blum gibt Christoph Pütthoff mit gewitztem Charme. Christian Erdt und Mario Fuchs fügen sich als Mitstreiter gekonnt in das Spiel ein.
Nach gut dreißig Minuten treten die Darsteller aus der Box vor das Publikum und sind plötzlich ganz im hier und jetzt, reden sich mit ihren realen Vornamen an und eine hitzige Diskussion über das weitere Vorgehen, über die Möglichkeiten sich mit Kunst, d.h. mit einem Film, politisch auszudrücken steht im Mittelpunkt. Dann geht es im fließenden Wechselspiel zwischen einzelnen Romankapiteln und Fausers Gedanken sehr unterhaltsam weiter, teils vor, teils in der Box (Bühne: Daniel Wollenzin; Kostüme: Raphaela Rose; Video: Oliver Rossol).
Wobei es weniger um eine konkrete politische Richtung geht, als vielmehr um den Mut zum Träumen, die Dinge nicht einfach so hinzunehmen wie sie sind, sondern eine Utopie für das Leben zu finden. Am Ende steht ein Widerspruch. Die Kultur wird abgeschrieben, gleichzeitig ertönt Peter Gabriels „Don’t Give Up“ (im Duett mit Kate Bush), ein Plädoyer, sich nicht dem Alltagstrott hinzugeben und seine eigene Position in dieser Welt zu finden.

Markus Gründig, Januar 14


Urfaust

Staatstheater Mainz
Besuchte Vorstellung:
23. Januar 14

Nach seinem vieldiskutierten viertägigen Aufenthalt im RTL-Dschungelcamp wäre Michael Wendler, der „König des Popschlagers“, nicht schlecht beraten, sich einen PR-Berater zu Hilfe zu nehmen. Auch manch Politiker kommt immer wieder in Situationen, wo Kommunikationsexperten wertvolle Hilfe leisten. Und selbst im Theater kann es vorkommen, dass ambitioniert geplante Vorhaben nicht in der gewünschten Form beim Publikum ankommen. Insoweit wäre Regisseur Robert Borgmann empfohlen, sein Regiekonzert für den „Urfaust“ im Kleinen Haus des Staatstheater Mainz dem Publikum verständlich zu machen. Vor einem Aufführungsbesuch! Dass Theater zu Diskussionen anregen kann, ist nicht nur schön, sondern auch erstrebenswert. Wenn allerdings schon vor der Pause zahlreiche Besucher verärgert gehen und nach der Pause circa ein Drittel fehlt, stimmt das schon nachdenklich und ist nicht zuletzt für die sich redlich bemühten Schauspieler nicht schön.

Dabei passiert in Borgmanns Urfaust-Inszenierung nichts, was nicht auch in anderen Stücken oder Häusern zu erleben ist. Und Goethes Urfaust ist auch kein Skandalstück. Allerdings inszeniert Borgmann den Urfaust nicht unbedingt so, wie ihn mancher Besucher gerne sehen würde, ist sein Begriff der „Werktreue“ anders zu interpretieren.
Dabei bietet Borgmann viel. Aus der kargen „Urfaust“-Szenenfolge (ein abgeschlossenes Drama ist der Urfaust nicht) um das Paar Faust/Margarete, hat er einen mehrstündigen Abend geschaffen, mit zahlreichen Fremdtexten und mit viel Musik. Dazu gibt es ein abwechslungsreiches und großzügiges Bühnenbild (von Rocco Peuker), ausgefallene Kostüme (von Zarah Lili Gutsch) und große Schauspielkunst von  Monika Dortschy, Stefan Graf, Carolin Haupt, Lorenz Klee und Tibor Locher.

Schon im Programmheft heißt es im Untertitel „Nach Johann Wolfgang von Goethe“ und das weist bereits auf eine freie Interpretation hin. Die Rückseite des Programmhefts zitiert Goethe, wonach der erste Teil des Faust „aus einem etwas dunkelen Zustand des Individuums hervorgegangen“ sei. So beginnt der Abend, der grundsätzlich schon die tragische Liebesbeziehung zwischen Faust und Margarete erzählt, quasi mit dem fatalen Ende: Es gibt Tote zu beklagen. Die Bühne zeigt einen großen, nach oben offenen Raum. Hinten ist er durch einen Eisernen Vorhang begrenzt, an der linken Seite durch eine große Wand, in deren Zentrum sich etwas erhöht eine großzügige Flügeltür befindet. Der im mittleren Bereich leicht abgesenkte Raum besteht aus unterschiedlichen Elementen und hat aber eine gewisse Wohnzimmerwohlfühlatmosphäre (eine schwarze Couchgarnitur, zwei Klaviere, ein Schaukelstuhl, ein Ofen, ein Bücherberg und sogar einen kleinen Wald mit blätterlosen Bäumen). In diesem Raum stehen schwarz gekleidete Menschen, die teils verharren, teils herumlaufen. Mit Umlegen eines großen Elektroschalters kommt nach einiger Zeit etwas mehr Leben hinein. Gesprochen wird zunächst chorisch, eine ganze Weile sogar. Ein sonor ertönender Grundton wird langsam um ein zartes Geigenspiel ergänzt (Musiker: Isabel Aquilera und Sven Michelson), später ertönen Club- und Popsounds, aber auch Klassik (Sequenzen aus Griegs Peer Gynt Suite mit dem Akkordeon). Zunächst aber wird verfremdet das Volkslied „Ach du lieber Augustin“ angestimmt (in dem gibt es einen Vers, der auch auf den Urfaust passt: „Augustin, Augustin, Leg‘ nur ins Grab dich hin! O du lieber Augustin, Alles ist hin!), kurzspäter gefolgtvon ZarahLeandersHit „Der Wind hat mir ein Lied erzählt“ („…von einem Herzen, das mir fehlt…“) und Schuberts Wandrers Nachtlied „Über allen Gipfeln ist Ruh“ (nach Goethe).

Zwischen den treffend ausgewählten musikalischen Einlagen fährt der vordere Bühnenboden auf und ab, erscheinen die Figuren in prächtigen Rokoko-Kostümen (ovale Reifröcke im Panier à coudes-Stil) und Haartrachten (was die Zeitlosigkeit des Hauptthemas unterstreicht und gleichzeitig eine humorvolle Travestiennummer mit sich bringt), züchtigt sich Faust mit einer Peitsche, erzählt das Gretchen bei einem Verhör, wie es das Kindlein tot auf dem Fliesenboden fand und künden Videoprojektionen in Form von Landschaftportraits, Häusern und Industrieflächen vom realen Leben außerhalb dieser Kunstwelt. Liebe wird freilich auch praktiziert, denn wer will nur von ihr reden. Am Ende bleibt auch hier ein ver- und zerstörtes Gretchen allein im nunmehr leeren Kellerraum zurück, der Traummann entpuppt sich als Zwergenhampelmann und Trugbild und wird deshalb demontiert.
Carolin Haupt hat der Grete viele unterschiedliche Seiten gegeben und sich dabei auch körperlich nicht geschont. Facettenreich auch die anderen Darsteller, allen voran Stefan Graf als Faust, aber auch Lorenz Klee, Monika Dortschy, Tibor Locher und Isabel Sippel und zwei Kinder (wobei es keine strenge Rollenzuordnung gibt).

Auch wenn am Ende des abwechslungsreichen, teils verstörenden, teils belustigenden, teils berührenden Abends die eine oder andere Frage um die Gelehrten- und die Gretchenhandlung im Raum stehen bleibt, ist dies besser, als wenn man ohne Nachdenken einen Theaterabend gleich wieder vergisst. Und diese “vielschichtige Innenschau des Dramas“ (Programmheft) bleibt jedem, der sie gesehen hat, in Erinnerung.

Markus Gründig, Januar 14


Kinder der Sonne

Schauspiel Frankfurt
Besuchte  Vorstellung:
18. Januar 14 (Premiere)

„…und Sie blicken in die Tiefen und tragen in Ihrer Seele eine Tragödie…“
Maxim Gorki in „Kinder der Sonne“

Vor sechs Jahren wurde am Schauspiel Frankfurt zuletzt ein Stück von Maxim Gorki inszeniert: Sommergäste. Zwar erfolgte die Inszenierung von „Sommergäste“ noch unter der Intendanz von Dr. Elisabeth Schweeger (Regie: Martin Nimz), doch sind immerhin drei der damals Beteiligten bei der jetzt erfolgten Inszenierung von „Kinder der Sonne“ wieder mit dabei: neben den Darstellern Roland Bayer und Oliver Kraushaar auch Bühnenbildner Olaf Altmann.
Bei „Sommergäste“ bestand die Bühne aus einem großen, vertäfelten Raum, mit vielen langen Schaukeln. Bei „Kinder der Sonne“ ist es ein offener Raum mit vielen schlanken Säulen, die größtenteils auf einer Drehbühne stehen. Die Säulen können unterschiedlich interpretiert werden, beispielsweise als verschiedene Zimmer im herrschaftlichen Haus des Chemikers Pawel oder als weitläufige Waldlandschaft. Sie bieten, insbesondere durch die dezent eingesetzte Beleuchtung (Licht: Johan Delaere) viele Rückzugsmöglichkeiten (so sind im ersten Teil nahezu alle Darsteller, ähnlich wie zuletzt bei „Der Idiot“, auf der Bühne präsent). Im zweiten Teil ist die Drehbühne etwas nach hinten versetzt und fährt dann schließlich komplett zurück, es bleibt der leere Bühnenraum zurück, die Seelen liegen nun offen, es gibt keinerlei Rückzugsmöglichkeiten mehr. Doch bis es dahin kommt, vergeht viel Zeit, zumindest gefühlt. Denn Gorki erzählt wie Tschechow in elegischer Monotonie über die russische Gesellschaft. Auch Gorkis handlungsarme Tragikomödie ist ein ausgebreitetes Bild über seelische Befindlichkeiten. So passiert insbesondere in den ersten 75 Minuten recht wenig und auch der Einsatz der Drehbühne bringt nicht wirklich Fahrt in das Stück.

Doch im Unterschied zu Tschechow verharrt Gorki nicht im bloßen Beschreiben von Seelenzuständen und das wird schön im zweiten Teil nach der Pause deutlich. Jetzt, wo die äußere Welt in den Hintergrund gerückt ist (durch Zurücksetzen der Drehbühne mitsamt der auf ihr stehenden Säulenlandschaft), brechen die bislang unterschwellig vorhandenen Konflikte offen aus, werden Lebensentwürfe infrage gestellt und es wird nach Lebensperspektiven gefragt, womit das Stück auch heute, gut 100 Jahre nach der Uraufführung, noch betroffen macht.

Kinder der Sonne
Schauspiel Frankfurt
Pawel Fjodorowitsch Protassow (Thomas Huber)
© Birgit Hupfeld

Im Zentrum steht der forschende Wissenschaftler Pawel, ein gutherziger aber stark ichbezogener Mann, der vor lauter Scheuklappen seine Umwelt, insbesondere seine Frau, nur peripher wahrnimmt. Verkörpert wird er überaus seriös von Thomas Huber, der hier mit Vollbart ein komplexes Porträt eines überforderten Menschen und eines harmoniesüchtigen Träumers gibt.
Stephanie Eidt ist seine Frau Jelena, ausdrucksstark in ihrer Verletztheit und voller Sehnsucht nach Schönheit, nach menschlicher Anerkennung und Wärme.
Treffend irrlichternd die Lisa der Verena Bukal, schon durch ihr flatterhaft weißes Engelskleid (Kostüme: Anja Rabes) wirkt sie allem Irdischen entrückt.
Bodenständig und mannhaft hingegen der leidenschaftliche Maler Dimitrij des Isaak Dentler und der gegenüber seiner Frau gewalttätige Schlosser Jegor des Viktor Tremmel.
Besonnen hingegen der Tierarzt Boris des Oliver Kraushaar und der Immobilienkaufmann Nasar des Roland Bayer, samt des seinem Vater nacheifernden Sohnes Mischa des Vincent Glander.
Ein Paradiesvogel ist gewissermaßen die in Pawel besessen verliebte Melanija der Claude De Demo, die nach anfänglicher Komik zu frappanter Tiefe findet.
Pointiert ist das Hauspersonal: Josefin Platt als sich konsequent um Recht und Ordnung kümmerndes Kindermädchen Antonowna und Paula Skorupa als sich nach höheren Ebenen räkelndes Dienstmädchen Fima.
Samira Delibajric als geschundene Awdotja (Jegors Frau) und Maximilian Meyer-Bretschneider als Unterleutnant Jakow runden das Ensemble ab.

Gespielt wird die Übersetzung von Urike Zemme, mit dezenten sprachlich zeitgemäßen Ergänzungen und szenischen Kürzungen. Nicht zuletzt durch den Einsatz von Mikroports ist die Textverständlichkeit sehr hoch. Dezente Lounge-Musik wird über weite Teile der Inszenierung als stimmungsvoller Klangteppich dem Geschehen unterlegt (Musik: Günter Schlienz). Für die Regie zeichnen ausnahmsweise zwei Personen verantwortlich. Andrea Moses und Intendant Oliver Reese. Letzterer hatte wegen Erkrankung von Frau Moses die Regie ab den Endproben übernommen (was auch dazu führte, dass sich das Regieteam beim Premierenschlussapplaus nicht auf der Bühne zeigte). Großer Zuspruch vom Publikum.

Markus Gründig, Januar 14