kulturfreak.de Besprechungsarchiv Theater, Teil 16

© Auri Fotolia

Maria Stuart

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
12. März 11 (Premiere)

Maria Stuart und Elisabeth von England waren zwei Königinnen die in einem Land lebten, in dem nur Platz für eine war. Die Folgen sind bekannt. Am 18. Februar 1587 wurde Maria Stuart hingerichtet. Friedrich Schiller hat in seinem populären Trauerspiel „Maria Stuart“ den geschichtsträchtigen Konflikt zwischen den beiden Königinnen auf die letzten Tage im Leben der Maria Stuart reduziert. Das Todesurteil ist längst gesprochen, nur fehlt es noch an der Unterschrift von Elisabeth, damit es vollzogen werden kann. Schiller hat den Konflikt in seiner Bühnenfassung nicht als Geschichtsdrama geschrieben, in mancherlei Punkten weicht er von der Historie ab. Vor allem sind seine Frauenfiguren jünger angelegt und die Figur des Mortimer wurde neu geschaffen.
Mit dem Klassikerduo „Ödipus“ und „Antigone“ präsentierte sich im Oktober 2009 nicht nur Michael Thalheim im Schauspielhaus, es war gleichzeitig der große Auftakt der Intendanz von Oliver Reese am Schauspiel Frankfurt. Michael Thalheim ist nun für Schillers „Maria Stuart“ an den Main zurück gekehrt, mitsamt erneut kahler Bühne (Olaf Altmann) und brillanter Personenführung. Er verzichtet auf zeitgemäße Bezüge und Gefälligkeiten und zeigt Schiller ernst in packenden, pausenlosen 150 Minuten. Modern ist die musikalische Untermalung, die die zerissene Stimmung widerspiegelt. Zarten Klavier- oder Gitarrenklängen werden dabei schroffe Töne von Gezupfe an Klaviersaiten gegenübergestellt (Musik: Bert Wrede). Aktuell ist auch die Kleidung der englischen Grafen und Hofbediensteten, mit klassischen Anzügen und Hemden. Historisierend anmutend ist allein der zitronengelbe ovale Reifrock mit langer Schleppe der Elisabeth, die zusätzlich mit langen rot bräunlichen Haaren und weiß geschminktem Gesicht aufwartet. Maria Stuart trägt ebenfalls ein hoch geschlossenes Kleid mit langen Ärmeln, allerdings in einem gräulichen Ton (Kostüme: Katrin Lea Tag).

Maria Stuart
Schauspiel Frankfurt
Elisabeth (Stephanie Eidt), Maria Stuart (Valery Tscheplanowa)
© Birgit Hupfeld

Vom Schloss von Fotheringhay sind hier nur zwei Räume zu sehen. Die Bühne wurde einfach geteilt, indem in der Mitte eine dicke, schwarze Wand aufgestellt wurde. Ein schwarzer großer Querbalken vor der Bühne begrenzt sie höhenmäßig etwas. Zunächst ist der Blick auf beide Räume gerichtet, die weitestgehend dunkel bleiben. Licht gibt es nur vorne, wo die beiden Königinnen stehen. Nah beieinander, aber zunächst ohne unmittelbaren Kontakt. Die mittlere Wand schiebt sich dann mal nach rechts, mal nach links, je nachdem, ob die Handlung im Bereich von Maria oder von Elisabeth abläuft (die Gleichartigkeit der Räume macht durchaus Sinn, da Maria zwar gefangen war, ihr  aber dennoch ein Luxusleben mit Hofgefolge gestattet wurde).
Die Kraft der Inszenierung kommt hier ganz aus den stillen Momenten. Wenn sich beispielsweise Elisabeth windet und ob der vielen Probleme innerlich zu zerreißen droht. In der Rolle der Elisabeth, Königin von England, muss Stephanie Eidt schon zu Beginn ihre Standhaftigkeit unter Beweis stellen, steht sie doch den ersten Akt über regungslos auf der Bühne, mit starrem Blick und doch ganz wachsam. Trotz aller äußeren Contenance gelingt Eidt hier eine äußerst vielseitige, ergreifende Darstellung: Anmut, Größe, aber auch Zerbrechlichkeit, Verzweiflung, Überforderung, Weiblichkeit, all dies drückt sie mit minimalen Gesten aus. Da bleibt die Maria Stuart der Valery Tscheplanowa trotz aller leidenschaftlicher Argumentation und ebenso hoher Anspannung etwas zurück. Zweifelsfrei ist der Moment des Zusammentreffens der beiden im dritten Akt der Höhepunkt der Inszenierung. Auch hier wieder erst einmal Wortlosigkeit, Anspannung. Blicke, Momente der Ergriffenheit, die sich ins Publikum übertragen.
Für Abwechslung sorgen die unterschiedlichen Grafen und Bediensteten, bei denen jeder nach seinem eigenen Vorteil giert. Wankelmütig ist der anpassungsfähige Graf von Leicester des Marc Oliver Schulze, herrschsüchtig der Baron von Burleigh des Michael Benthin, unbeholfen der Staatssekretär des Andreas Uhse, und energisch der Paulet des Martin Rentzsch. Als jugendlicher Stürmer Mortimer überzeugt Isaak Dentler und weise zeigt sich der Georg Talbot des Wolfgang Michael.
Zum tragischen Ende hört man einen ruhigen Song, erst aus dem Bühnenhintergrund kommend, dann auch von den Lautsprechern im Publikumssaal. Darin heißt es u.a. „it’s gonna be alright“. Elisabeth hat nun die Freiheit, die sie braucht. Einsam zieht sie fort.

Markus Gründig, März 11


Horror Vacui

Schauspiel Frankfurt im Bockenheimer Depot
Besuchte Vorstellung:
11. März 11

Der Titel des Stücks schreckt zunächst etwas ab, ist Halloween und selbst Fasching doch vorbei. Doch mit Gruseln und Schauermärchen hat „Horror Vacui“ nichts zu tun. Es geht auch nicht um den täglichen Horror (wie jüngst das Erdbeben und der Tsunami in Japan). Übersetzt mit „Angst vor der Leere“ ist  „Horror Vacui“ ein durchaus gängiger Begriff. Zum Beispiel in der Bildenden Kunst, wenn Werke keinerlei freie Stellen aufweisen. Auch in der Physik ist es ein Thema, das gar auf Aristoteles zurückgeht. Er konstatierte, dass die Natur alles tut, um Leere, um ein Nichts, zu verhindern. Schon lange beschäftigen sich die Naturwissenschaften mit dem Vakuum. Und, wie der Physiker Rolf Landua im Programmflyer zum Stück ausführt, sind viele Fragen zum Vakuum noch nicht geklärt, wie die Themen „Energiemengen der Vakuumfluktationen“ und die Entstehung des Universums aus dem Nichts. Und was ist danach, also nach dem physischen Leben? Beruhen doch alle Nahtoderlebnisse auf irdischen Erfahrungen („Die Bausteine des Jenseits, von denen berichtet wird, stammen alle aus dem Diesseits“, Prof. Dieter Vaitl, ebenfalls im Programmflyer).

Horror Vacui
Schauspiel Frankfurt
Kathleen Morgeneyer
© Birgit Hupfeld

Das Regieduo Stefanie Lorey und Bjoern Auftrag stellen den Bühnentod in den Mittelpunkt ihres Projekts „Horror Vacui“ (einem 80-minütigem Solo). Schließlich wird im Theater viel gestorben (und erst recht in der Oper). Als äußerer Rahmen dient zunächst ein großes Schwimmbecken, das durchaus echt anmutend, in einem Seitentrakt des Bockenheimer Depots auf die Spielfläche projiziert wird und dessen Wasser fast über den Rand zu schwappen scheint (Bühne und Video: Marc Jungreithmeier). In vielen Filmen schwimmt in einem Becken eine Leiche. Hier steht zu Beginn Kathleen Morgeneyer erst still auf der Fläche. Erklimmt eine Leiter und stürzt sich kopfüber ins imaginäre Wasser, ins Nichts. Läuft sodann vor zum Publikum und stellt sich gut gelaunt vor. Ganz persönlich: seit eineinhalb Jahren sei sie hier engagiert, nennt ihre Sprachkenntnisse, ihre bundesweiten Schlafmöglichkeiten, ihre Konfektionsgröße und dass sie glücklich in einer Beziehung lebe. Mit schwarzem Pulli und schwarzer Cargohose ausgestattet, macht sie sich sogleich daran, verschiedenste Tode zu sterben. Sie spricht von 253, das kann hinkommen, ein Mitzählen wird irgendwann zu viel. Dabei ist es schön, die „Nachwuchsschauspielerin des Jahres 2009“ in allen Facetten ihres kunstfertigen Spiels und ihrer unglaublichen Präsenz erleben zu können. Vielen ist sie ja als leidende Figur ein Bild, sei es als Irina (Drei Schwestern), Kattrin (Mutter Courage), Lulu (Lulu), Marie (Clavigo) oder zuletzt als Christine (Liebelei). Hier ist sie die selbst bestimmende Person, die sich umbringt oder umgebracht wird, der Andere, der sie als Sterbende retten will und im Finale eine mystische Regentin über das Leben von Anderen. Der Abend folgt einer Dramaturgie, ist aber kein Drama. Es sind viele einzelne Momente, in denen Morgeneyer die Momente des Sterbens einzufangen versucht (durch akustische Aufnahme) und wiedergibt (wie ihren Herzschlag). Dazwischen erzählt sie für diese „Symphonie eines ganz gewöhnlichen Tages“ (Stückankündigung) allerhand zum Thema, aus der Physik und der Soziologie, kommentiert Personen, deren Porträts auf den Bühnenboden projiziert werden. Was bleibt nach all den vielen, mitunter endlos erscheinenden Todesfällen? Eine Sensibilisierung für das Leben, die Macht des Tuns und des Unterlassens, Leere und Nichts als schöpferische Kraft zuzulassen, hier kann jeder für sich von  „Horror Vacui“ profitieren.

Markus Gründig, März 11


An Inspector Calls

English Theatre Frankfurt
Besuchte Vorstelllung:
25. Februar 11 (Premiere)

Wie viel wiegt persönliche Schuld, wenn ein krasses Fehlverhalten, eine überzogene Reaktion oder bewusst verweigerte Hilfe, also eine Kette von unglücklichen Zusammenhängen, einen Menschen in Not, bis hin zum Selbstmord, treibt? Und ist das Verhalten anders zu beurteilen, wenn es gar nicht zum finalen Suizid mit Salzsäure kommt? John Boynton Priestleys Stück „An Inspector Calls“, 1946 in Moskau uraufgeführt, geht diesen Fragen nach. Eine Familie der High Society wird mit der traurigen Lebensgeschichte einer jungen Frau der Unterschicht konfrontiert. Wie sich im Laufe des Stücks herausstellt, hat jedes Familienmitglied so seinen ganz eigenen Bezug zu dieser jungen Frau und Mitschuld an ihrem Schicksal.

An Inspector Calls
English Theatre Frankfurt
Arthur Birling (Andrew Harrison), Sybil Birling (Connie Walker)
© Anja Kühn

“An Inspector Calls“ ist ein populärer Klassiker unter den britischen Theaterstücken. Veröffentlicht im Jahr 1945, wurde es im Sommer 1946 in Moskau (in russischer Sprache) uraufgeführt, die Londoner Premiere fand noch im gleichen Jahr statt.
Es spielt innerhalb weniger Stunden an einem Frühlingsabend des Jahres 1912 in der imaginären nordenglische Industriestadt Brumley. Geschickt in ein dramatisches Geschehen verwoben, trägt es Priestleys dezente Kritik am Kapitalismus. Mit seinem Hauptthema, den Appell, die Menschheit als Eins zu betrachten und dass jeder für seinen Mitmenschen mit verantwortlich ist, ist es zeitlos. Und so hat Regisseur Simon Green, der am English Theatre Frankfurt bereits mehrfach inszenierte (seine Inszenierung von „An Ideal Husband“ hatte im vergangenen Jahr dem Haus den größten Erfolg in der Geschichte des Theaters beschert), das Stück ganz im Hier und Heute angesiedelt und ihm einen aktuellen, frischen und zeitgemäßen Bezug gegeben. Also nichts mit typisch englischem alten Wohnzimmer (wie beispielsweise bei „Gaslight“ oder „Hysteria“). Aber auch keine kahle Bühne. Sondern ein viel Wärme vermittelndes, stilvolles, großzügiges Wohnzimmer, mit einer weißen Wand mit dezenten Stuckverzierungen, mondänen Lampen und modernem Interieur (Dank Unterstützung des Designmöbelhaus Leptien3). Auf dem Schreibtisch befinden sich ein Mac-Book und ein drahtloses Telefon. Inspector Goole zeigt das Opfer auch nicht auf einem Papierfoto, sondern zeitgemäß auf einem im Handy gespeicherten Bild. Pinkfarben ist die große Tür, die in den Flur mit roter Blumentapete führt. Durch die rosarote Brille sieht sich die Familie Birling die Welt schön. Dabei würde ein Blick in die gegenüberliegende Häuserfront ihnen vielleicht eher helfen, einen realeren Lebensbezug zu erhalten. Eine runde Fassade eines großen Wohnblocks ist dahinter bzw. seitlich zu sehen. Mittelklasse, mit vielen kleinen Wohneinheiten und großen Fenstern für direkte Einblicke in die Probleme und Nöten der anderen (Bühne: Bob Bailey).
Auch von der Kleidung her geben sich die Figuren zeitgemäß. Anzüge für den Vater, den Schwiegersohn in spe und den Inspektor, der Junior trägt eine tief sitzende Hose und einen legeren Pulli, die Ehefrau einen typisch englischen Partydress mit glitzernder Hose und schwarzem eleganten Oberteil. Tochter Sheila fällt mit ihrem luftigen grünen Sommerkleid fast ein wenig aus der Rolle (Kostüme: auch Bob Bailey).
Regisseur Simon Green führt mit viel Gespür für dramatische Momente von Szene zu Szene, stets die Spannung haltend bzw. sie zu erhöhen. Dabei stehen ihm wieder großartige Darsteller zur Verfügung. Andrew Harrison gibt den strengen Vater und erfolgreichen Geschäftsmann Arthur Birling, der uneinsichtig ist und bleibt. Ebenso die Mutter, von Connie Walker als ihrem Ehemann hingebungsvoll nacheifernde Frau gezeichnet. Zu diesen beiden passt gut der Schwiegersohn in spe, zumal er aus einer Unternehmerfamilie stammt und die Verbindung zu Kosteneinsparungen und Gewinnmaximierung führen wird. Harry Long gibt den Gerald Croft als glatte und kühle Figur, der trotzt Generationsunterschied die gleiche Härte gegenüber der gefallenen Eva Smith walten lässt wie die Eltern Birling. Anders die Kinder, die so gar nicht zu den Eltern passen wollen. Sie zeigen sich einsichtig, erkennen ihre Mitschuld und zeigen aufrichtige Gefühle (Tara Godolphin als besonnene Sheila und Christian Edwards als trinkfreudiger Eric). Mit kräftiger und durchdringender Stimme wartet J. Melvin als Inspector Goole auf, trotz oder gerade wegen der emphatischen Art, Fragen zu stellen, zum Publikumsliebling avancierend. Orakelnd die Birlings verlassend, dass die Zeit kommen wird, dass die Menschheit unter Feuer, Blut und Tränen lernen wird, füreinander verantwortlich zu sein.
Viel Applaus für diesen Klassiker im frischen Gewand, der für Jung und Alt gleichermaßen gute Unterhaltung bietet.

Markus Gründig, Februar 11


the killer in me is the killer in you my love

Jugendclub Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
20. Februar 11 (Premiere)

Sechs junge Nachwuchsschauspieler spielen sich selbst, gewissermaßen. Denn die, die hier auf der Bühne der Box im Schauspiel Frankfurt zu erleben sind, sind kaum älter als ihre Rollenfiguren. Und diese sind sehr jung. Pubertierende im Freibad, wo die Mädels den Jungs mal wieder um Längen voraus sind. Allen voran Hanna, hat sie doch die meiste Erfahrung mit Jungs. Und das Thema erste Liebe spielt natürlich eine wichtige Rolle, aber auch die Freude über den ersten geglückten Kopfsprung vom Dreimeterturm. Daneben kommen Themen auf, über die nicht so gern gesprochen wird, die aber dennoch sehr präsent sind. Die Jugendlichen empfinden sich als viel zu klein (unabhängig, wie hübsch sie sind), leiden an nächtlichen Fressattacken (wobei sie ja gerade in ihrem Alter viel essen sollen, damit etwas aus ihnen wird) oder an der Unfähigkeit, sich und ihre Gefühle auszudrücken. Am besten scheint es da noch Klein Gerber zu gehen, dem Mädels noch obskur sind und er am liebsten seinem größeren Bruder auf die Nerven geht.

the killer in me is the killer in you my love
Eine Produktion des Jugendclubs des Schauspiel Frankfurt
© Edi Szekely

Viel Arbeit steckt hinter dieser Produktion, auch wenn die Bühne von Friederike Meisel, Spielort bedingt, nicht opulent ausgestattet ist. Auf großer Leinwand wird schlicht blaues Licht projiziert, ein zweites, kleineres zeigt Wellen. Das reicht als Ort der sommerlichen Vergnügungen. Zumal auf den Stufen davor Stofffetzen liegen, die sich alsbald als anheftbare Badekleidung erweist (Kostüme: Dorothee Joisten). Für die knapp einstündige Aufführung mussten die jungen Nachwuchsschauspieler (Florian Friedrich, Carl Gruhn, Verena Jockel, Dilem Kangalli, Ann Tatjana Krämer; Julian-Nico Tzschentke), allesamt Mitglieder des Jugendclubs vom Schauspiel Frankfurt, nicht nur viel Text einstudieren, sondern auch lernen, ihn chorähnlich vorzutragen. Und das klappte sehr gut.
Autor Andri Beyeler liebt Wiederholungen. Ein Satz wird gerne ein oder zwei Mal gesprochen und der dritte knüpft dann daran unmittelbar an. Die Sätze werden von einem und von allen gesprochen und die Alltagssprache dadurch ihrer Belanglosigkeit enthoben. Das erweist sich anfangs als lustig, schon bald aber schlichtweg sinnvoll, da es das gesprochene Wort untermauert. Die sechs Darsteller (um eine Figur erweitert als die eigentlich fünf vorgesehenen) spielen mit viel Freude und Leidenschaft. Dabei ist es dem Regieduo Gabriel von Zadow und Martina Droste gut gelungen, die einzelnen kleinen Szenen zu einem geschlossenen runden Stimmungsbild zusammenzufügen. Viel Applaus.

Markus Gründig, Februar 11


Küste

Staatstheater Mainz
Besuchte Vorstellung:
19. Februar 11 (Premiere)

Gerade für Stadtmenschen impliziert der Begriff Küste nur Schönes, wie Sonne, Meer, Urlaub, Glück und Zufriedenheit. In Wajdi Mouawads Stück „Küste“, das er gemeinsam mit Isabelle Leblanc schrieb und das jetzt am Staatstheater Mainz seine deutschsprachige Erstaufführung hatte (Übersetzung: Uli Menke), geht es aber um sehr viel mehr. Mouawad, Jahrgang 1968, ist in Beirut/Libanon geboren und zunächst dort aufgewachsen. 1978 folgte die Auswanderung nach Frankreich und 1984 die Übersiedlung nach Kanada, wo er noch heute lebt. Über die Themen Krieg und Exil kann er somit aus eigener Erfahrung schreiben. Davon handelt sein Stück „Küste“, das bereits 1997 in Montreal uraufgeführt wurde. Allerdings auf sehr subtile Weise. Vordergründig geht es um Wilfried, der, während er den besten Sex seines Lebens mit der Frau mit dem geilsten Arsch hatte, nachts um drei Uhr einen Anruf erhält, sein Vater sei gestorben. Immerhin war er da gerade just in diesem Moment beim Höhepunkt angekommen und es gab für ihn keinen Coitus Interruptus. Dafür aber einen weit größeren Interruptus seines Lebens. Seinen Vater kannte er gar nicht, die Mutter war bereits bei seiner Geburt gestorben. Tief vom plötzlichen Verlust getroffen, will er, dass sein Vater seine letzte Ruhestätte neben der von ihm geliebten Frau, also Wilfrieds Mutter, findet. Doch die Familie verweigert dies. Also dann ab in die Heimat vom Vater, in einem nicht näher bezeichneten Bürgerkriegsland. Dorthin macht er sich auf und auch dort wird er mit dem Toten im Gepäck nicht mit offenen Armen empfangen, alle offiziellen Grabstätten sind belegt…

Regisseur André Rößler hat mit Bühnenbildnerin Tine Becker drei Spielräume geschaffen. Da ist zunächst eine leere Fläche vor dem herabgelassenen Eisernen Vorhang. Während in der einen Ecke ein Ritter auf einem Podest das Geschehen bewacht, liegt in der anderen Ecke ein einfacher Sarg. Zu coolen Sounds tanzt Wilfried zunächst im Scheinwerferlicht und plädiert dann vor einem imaginären Richter, warum und wieso er seinen Vater eben dort beerdigen will. Lorenz Klein gibt den Wilfried mit viel Sympathie und Wärme als ein aus der Spur des Lebens Gestoßener, als nach Antworten und Lösungen Suchenden, sich stets ein gewisses Maß an kindlicher Neugier und Naivität bewahrend. In diesem knapp 40minütigen fast Kammerspiel ähnlichen Teil, gesellen sich Weggefährte und Familienmitglieder hinzu. Sie tragen nicht nur die gleiche Kleidung wie er (Ringelpullover und beige Hose), sondern haben auch alle den gleichen kräftigen Bauch. Und es gibt stellenweise sogar humoreske Momente, wenn der Ritter (hier in Form einer „Ritterin“: Andrea Quirbach energisch sein Schwert in den Boden stemmt, um die Störenfriede in Wilfrieds Geist zu töten. Der Ritter ist, wie sich im Laufe der Handlung zeigt, seine Mutter, die beschützend sein ganzes Leben an seiner Seite über ihn wacht. Nicht ohne Komik ist auch, wenn der Vater (zurückhaltend und dennoch überaus präsent: Marcus Mislin) aus dem Sarg steigt und als toter Vater dem Sohn viel näher ist, als zu Lebzeiten.
Im zweiten Teil (wobei es keine Pause gibt) kommt Wilfried im bergigen Heimatdorf seines Vaters an, wo zunächst Chaos herrscht. Es qualmt aus den Ecken und wildes Gekreische ist zu vernehmen. Als karge, bergige Dorflandschaft gibt es eine dreistöckige Häuserfront mit vielen kleinen Zimmern. Das hier Krieg geherrscht hat, ist unverkennbar (eingerissene Tapete, Löcher zwischen den Decken etc.). Seltsame Figuren sitzen in den kleinen Kammern, die einst liebevolle Behausungen waren. Sie klettern über eine Stange zwischen den Etagen herum, winden sich in Elektrokabeln, singen, schreien. Das weckt zunächst auf, irritiert und doch gewinnt dieser zweite Teil ungemein an Dichte und fesselnde Dramatik. So wie Wilfried anhand bisher nicht gelesener Briefe seines Vaters an ihn über seine Geschichte erfährt, über die Liebe der Eltern, erfährt er auch vom Schicksal der Menschen im vom Krieg geschädigten Heimatdorf. Sei es das des blinden Wazâân (Bernd-Christian Althoff), das des Elternmörders aus Versehen, Amé (Tibor Locher), das der singend sich nach Liebe sehnenden und doch ständig schreienden Simone (Nicole Kersten) oder das des völlig traumatisierten und zum Irren gewordenen Sabbé (Joachim Mäder). Auf packende wie poetische Weise werden hier die Folgen des Krieges auf die unschuldig Beteiligten aufgezeigt, ganz ohne pathetisch anzuklagen. Die Fantasie anregenden extravaganten Kostüme der Kriegsgestörten stammen von Simone Steinhorst.
Eine zusätzliche Steigerung gibt es bei den finalen Szenen, wenn die Hausfront aufgebrochen wird und der Blick in die Weite geht. Die Namen all der vielen Kriegstoten sind überall zu lesen. Die Überlebende Joséphine (Katharina Knap) versucht den Toten, von denen die meisten keine würdevolle Grabstätte gefunden haben, mit Hilfe von Seiten aus Telefonbüchern ein Andenken zu bewahren. Das Durchschreiten der vielen Telefonbuchseiten schließlich vermittelt ein Meeresrauschen, wo die Seelen der Verstorbenen nun gemeinsam in Frieden ruhen. Wilfrieds Eltern tanzen nun zu Simones Lied „Dreams are my reality“ und Wilfried kann dann schließlich seinen Vater „vermeeren“. Ein starkes Stück, eine starke Inszenierung!

Markus Gründig, Februar 11


Die Kontrakte des Kaufmanns

Schauspiel Frankfurt im MA*
Besuchte Vorstellung:
16. Februar 11

Von der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek war zuletzt das Stücke „Ulrike Maria Stuart“ in der Schmidtstrasse 12 zu sehen (2007). Unter der Intendanz von Oliver Reese ist nun für einen begrenzten Zeitraum Jelineks 2008 entstandenes und 2009 uraufgeführtes Banken-Spekulationsverbrecherstück „Die Kontrakte des Kaufmanns“ zu sehen, von Jelinek liebevoll als „Wirtschaftskomödie“ umschrieben. Gespielt wird nicht innerhalb der Städtischen Bühnen, sondern in der ehemaligen Diamantenbörse (heute: MA*), einem klotzigen, 12-stöckigen Gebäude vis à vis der Peterskirche. Die Immobilienspekulanten Orgler und Mikulski planten in diesem, zwischen 1972 und 1974 errichtetem, Gebäude, den angesagten Edelsteinbörsen in London und Amsterdam Paroli zu bieten. Da ihr Geschäftsmodell auf einer Blase gründete (das Immobilienspekulant Jürgen Schneider als Vorbild hätte dienen können) und Umsätze ausblieben, folgte der finanzielle Kollaps schneller als gedacht. Der Gebäudename ist daher in Vergessenheit geraten. Das änderte sich vor einem Jahr, als Geschäftsmann und Immobilien-Visionär Ardi Goldmann mitteilte, das leerstehende Bürogebäude gekauft zu haben, um dort neben einem Fashion District mit hochwertigem Einzelhandel vor allem Eigentumswohnungen der Spitzenklasse in bester Innenstadtlage zu errichten. Bevor also nun die vollständige Entkernung und der Umbau beginnen, wird hier Theater gespielt. Auch bei Jelineks „Die Kontrakte des Kaufmanns“ geht es um Pannen, Pech und Pleiten. Allerdings im weit größeren Rahmen, um die Vernichtung von Existenzen aufgrund von fingierten Finanzgeschäften, um Anlageprodukte, die kaum ein Kleinanleger versteht. Wer kennt sich schon aus mit Produkten wie strukturierten Anleihen, Derivaten, Optionsscheinen und Zertifikaten (die weiter unterschieden werden, u.a. in Bonus- Diskont-, Express-, Fallschirm- Index- und Outperformancezertifikate) oder kann die Begriffe Call, Put, Hebel, Delta, Omega, Rho, Spread (absoluter, homogenisierter und prozentualer), Straddle, Theta und Volatilität erläutern? So ins Detail geht Jelinek erst gar nicht, klagt aber doch mangelndes Wissen und mangelnde Unterrichtung an, testiert blindes Vertrauen in Verkaufsprospekte und Geschäftsberichte. Wessen Schuld ist es nun, dass sich kaum jemand mit den Paradigmen der Geldanlage auskennt? Und wie wird mit dem Zielkonflikt (maximaler Zins bei minimalen Risiko) umgegangen?
Jelinek wäre nicht Jelinek, wenn sie die Problematik um Anlegerverhalten und um riskante ausserbilanzielle Finanzkonstruktionen nicht in einem kunstvollen Sprachgeflecht darlegen würde. Und so handelt es sich hier um ausgefallene Wortkonstruktionen, nicht um Monologe, Dialoge oder gar wirkliche Szenen. Der Regisseur hat alle Freiheiten, den Text szenisch zu gestalten.

Die Kontrakte des Kaufmanns
Schauspiel Frankfurt
Nils Kahnwald, Michael Goldberg, Constanze Becker, Sébastien Jacobi, Lisa Stiegler
© Birgit Hupfeld

Als Hintergrund diente ihr der Skandal um die fingierten Geschäfte der angesehenen österreichischen Traditionsfirma Meinl. Im Stück wird aber nur von der „Firma“ Herakles/Herkules gesprochen. Herakles, als Gottheit. Wobei der Titel es ja schon andeutet, es gehören immer Zwei dazu, um einen Kontrakt zu schließen. Und so sind es bei Jelinek beide Seiten, die am Schlamassel der Finanzkonstruktionen schuld sind. Die ehrlichen Kleinsparer, die nach einer hohen Rendite für ihr eingesetztes Kapital streben, blind den Versprechungen einer 15%igen Verzinsung glauben und die sich zu Gottheiten erhobenen Banker, die ihre eigene Rechtstaatlichkeit geschaffen haben. Die von Sébastien Jacobi gespielte Figur erfährt noch im Erdgeschoss mehrere Tode, es fließt und spritzt reichlich Blut. Nachdem auch Politiker wie Merkel, Obama, Sarkozy und Berlusconi nur warme Worte spenden, wird ein Mann auf Tulpen gebettet und von Kerzen eingerahmt bestattet: Der Kleinanleger. Er ist zwar tot, hat aber Glück. Denn sein Geld lebt weiter, nicht bei ihm, bei der Bank. Aber das ist ja nebensächlich…
Wer bis jetzt noch nicht das Prinzip von Risiko und Spekulationsgewinn verstanden hat, kann im zweiten Teil praktische Erfahrungen sammeln. Im Obergeschoss wurde ein feines kleines Casino errichtet, mit drei Croupiers die an zwei Rouletttischen und einem Black-Jack-Tisch Jetons ausgeben und das Spiel machen. Dazu wird gratis ein Tropfen Sekt oder O-Saft gereicht, während im Hintergrund aus einem Pferdetorso Wasser plätschert (Bühne: Philipp Preuss, David Gonter).
Nachdem alles Geld verspielt und auf wundersame Weise bei der Bank angekommen ist, geht es in einem großen Nebenraum weiter. Beim dritten Teil des Abends stehen die desillusionierten und bankrotten Kleinanleger im Mittelpunkt, die nacheinander einen Bühnentod erleiden. Dies erfolgt mit visueller Videounterstützung (Video Konny Keller). Eine Dame will sich in einem PKW umbringen, dieser hat zufällig die Kennzeichenziffernfolge einer großen konservativen Tageszeitung. Vom Zuhause sind nur noch Kamineinrahmungen übrig, eine heile Welt gibt es nur noch in der bergigen Natur (aufgemalt auf der Rückwand). Lisa Stiegler ist in diesem Teil eine Art karikierender Tod und Engel, doch stirbt am Ende auch ihre um Heiterkeit bemühte Figur.
Dieser letzte Teil ist an Spannung und Atmosphäre nicht so dicht wie der erste, dennoch ist es insgesamt eine brillante Umsetzung dieser grotesken Sprachpartitur. Nicht wahr? Wahr!

Markus Gründig, Februar 11


Orphée

Schauspiel Frankfurt im Bockenheimer Depot
Besuchte Vorstellung:
12. Februar 11 (Premiere)

Welch ein Kontrast: Am Freitag feierte „Der nackte Wahnsinn“ Premiere im Schauspielhaus, nur einen Tag später folgte im Bockenheimer Depot die Premiere von „Orphée“. Äußerlich haben die beiden Stücke wenig gemeinsam (also inhaltlich und erst recht in der szenischen Gestaltung). Die Liebe kann als einfachster gemeinsamer Nenner deklariert werden. Bei „Der nackte Wahnsinn“ ist die Liebe mehr oberflächlich im Beziehungswechselspiel thematisiert, bei „Orphée“ ist die Liebe zur treibenden Kraft bis hin zum Tod erhoben.

Orphée
Schauspiel Frankfurt
Heurtebise (Torben Kessler), Orphée (Viktor Tremmel), Eurydice (Nicola Gründel)
© Birgit Hupfeld

Würde Jean Cocteau (1889 – 1963) heute leben, wäre er ein Medienstar. Zu seiner Zeit war er es auch, nur kennt man ihn heute kaum noch. Dabei war der espritvolle Avantgardist u. a. mit Größen wie Pablo Picasso, Salvador Dali und Ernst Jünger befreundet und ein wahres Multitalent (Schriftsteller, Lyriker, Grafiker, Maler, Choreograf und Filmregisseur). Auch als Theaterautor war er vielseitig, er beherrschte den klassischen Dialog, liebte das surrealistische Theater ebenso wie Boulevardstücke. Im Jahr 1925 schrieb er (während einer Opium-Entwöhnungskur) das Theaterstück „Orphée“, dem 1949 der gleichnamige Film folgte (der in der literarischen Avantgarde im Paris der Nachkriegszeit spielt und von Philip Glass zu dessen Oper „Orphée“ adaptiert wurde). Wie der Titel vermuten lässt, geht es dabei um eine moderne Bearbeitung der klassischen Orpheus und Eurydike Sage, in der Orpheus seine verstorbene Frau aus dem Hades zurückholen will. Die erzählte Parodie gleicht zunächst einem Prequel, in dem Cocteau Orphée als inspirationslosen Autor und Poeten zeichnet, den ein jüngerer, erfolgreicherer Kollege mit dem Tod in Form einer mysteriösen Prinzessin konfrontiert, die sich wiederum in ihn verliebt. Der Film vereint avantgardistische und realistische Züge, verschließt sich jedoch einem nüchternen Zugriff. In seiner schwarz-weiß Ästhetik kommt er für seine Zeit mit allerhand surrealen Elementen daher. Einige Elemente finden sich auch in der interessanten und für Kenner fesselnden Umsetzung von Michael Simon wider, auch wenn die Geschichte im Bockenheimer Depot überwiegend im nüchternen Bühnenbild (ebenfalls Michael Simon) anders gezeigt wird. Hierbei handelt es sich übrigens um die deutschsprachige Erstaufführung!
Sie bemüht sich, Stimmungen und Empfindungen zu vermitteln. Das gesprochene Wort ist eher zweitrangig. Der Abend läuft eher wie ein Handlungsballett (Choreographie: Norbert Steinwarz) ab, mit Musik von Nick Cave. Dabei kommt zeitlupenhaftem Bewegen ein besonderer Stellenwert zu. Wer den Film kennt, hat zweifelsohne mehr davon. Autos und ein Autoradio spielen ebenso eine besondere Rolle. Im Bockenheimer Depot begrüßen gar drei Autos die Zuschauer, sie schweben im Raum zwischen Foyer und Bühne und sind wie die treppenförmige Bühne (die größer ist als bei Juliane Kanns „Bleib mein schlagendes Herz“ 2010 in den Kammerspielen und hier mit zwei Poolstangen ergänzt) und die Decke, expressionistisch farbig gestaltet. Darstellerisch besticht das Ensemble, da dem einheitlichen Erscheinungsbild wegen die Figuren ähnliche schwarz-weiße Kostüme (Janine Werthmann) tragen, schwarze Haare im 80er-Jahre-Stil haben und sich alle ähnlich fließend bewegen und mit pantomimischen Bewegungen die Fantasie der Zuschauer wecken.
Victor Tremmel gibt den strauchelnden Orphée, die tänzerische Nicola Gründel seine anschmiegsame Ehefrau Eurydice und mit viel Anmut verzaubert Julika Jenkins als Tod in Form der attraktiven Prinzessin. Kaum wieder zuerkennen ist Torben Kessler als sensibler Heurtebise, ebenso wenig die anderen Darsteller (Cegéste: Moritz Pliquet, Aglaonice: Luise Audersch, Kommissar: Johannes Kühn, Richter: Roland Blezinger).
Spaß macht es, in der Reduktion auf einen zwar farbigen aber kahlen Bühnenraum den Aktionen und Ideen zu folgen, wo mit Hilfe von großen Tafeln und aufgemalten Symbolen Bilder entstehen und neue Objekte entspringen. Fantastisch wird es, wenn der Spiegel von Orfée durchschritten wird, er also in das Reich des Todes vordringt. Die Bühne öffnet sich und gibt den Blick in ein dunkles Schattenreich frei, bei dem der Film plötzlich ganz nah vor Augen ist.
Fazit: Ein Faszinatorium, das aufmerksam genossen sein will und für Theaterenthusiasten zu empfehlen ist. Aufführungen gibt es nur bis 17. März 11

Markus Gründig, Februar 11


Der nackte Wahnsinn

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
11. Februar 11 (Premiere)

Ein Stück im Stück spielen zu lassen, gab es schon vor langer Zeit, wie bei Shakespeare in seiner Komödie „Der Widerspenstigen Zähmung“, die Cole Porter und Samuel und Bella Spewack im Musical  „Kiss Me, Kate“ weiterverarbeitet haben (und dessen deutschsprachige Erstaufführung 1955 an den Städtischen Bühnen Frankfurt erfolgte). Das eigentliche Drama spielt nicht vor, sondern hinter der Bühne, zwischen den Hauptdarstellern Lilli und Fred. Der britische Autor Michael Frayn (Jahrgang 1933) erweiterte mit seiner Farce „Der nackte Wahnsinn“ den Blick hinter die Theaterkulissen: auf eine Tourneetheaterproduktionstruppe, bei der Beziehungen, Eifersüchteleien und Liebschaften das Tagesgeschäft bestimmen.
Schon das Programmheft des Schauspiel Frankfurt, sonst in ästhetisch, strengem Design gestaltet, kommt aufgelockert mit Titelzeilen in Schreibschrift, einem Theaterquiz und Farbfotos der Beteiligten daher, sodass es den Eindruck vermittelt, es stamme aus der benachbarten Komödie oder dem nahen Frankfurter Volkstheater Liesel Christ. Könnte es auch, denn die moderne Farce von Frayn ist eine Komödie par Excellence und dies in einem rasanten Tempo (der rund dreistündige Abend vergeht wie im Fluge). Für die Aufführung im Schauspielhaus übernahm Intendant Oliver Reese selbst die Regie. Nach „Phädra“ und „Die Frau, die gegen Türen rannte“ in den Kammerspielen, ist dies seine erste Inszenierung im Schauspielhaus. Als oberster Herr im Haus kennt er seine Truppe inzwischen schon sehr gut und so ist diese Inszenierung in gewisser Weise auch als eine Hommage an die Darsteller und die Mitarbeiter hinter der Bühne zu sehen. Dass es hinter den Schauspielern auch stets Menschen mit Gefühl, mit Problemen und nicht zuletzt Eigensinn gibt, wird hier mit viel Humor und Slapstick gespielt.

Der nackte Wahnsinn
Schauspiel Frankfurt
Ensemble
© Birgit Hupfeld

Die Theatertruppe um Regisseur Lloyd Dallas (als Hornbrille à la Reese tragender aufbrausender „Sozialarbeiter“, Liebhaber und Gymnast aus Verzweiflung: Thomas Huber) spielt das imaginäre Stück „Nackte Tatsachen“. Über den ersten Akt kommen sie aber nie hinaus. Nicht bei der Generalprobe im Januar, nicht bei der regulären Mittwochnachmittagvorstellung im Februar und schon gar nicht bei der Dernierenvorstellung im April in Hanau. Nach 98 Vorstellungen findet die Tournee hier ihr Ende, während der Regisseur in Paderborn bereits das nächste Stück („Richard III“) einstudiert. Bei der Umsetzung wurde sich eng an die Vorlage gehalten und so steht ein herrschaftliches Wohnzimmer des Brent’schen Landhauses auf der Bühne. Genauer gesagt eigentlich vor der Bühne. Denn die ersten fünf Zuschauerreihen wurden teilweise überbaut. Was früher einmal eine entzückende Molkerei aus dem 16. Jahrhundert war, ist jetzt das temporäre Zuhause der Brents. Helle Tapeten mit Blumenmuster zieren die Wände, acht weiße Türen führen (zum Teil von der Galerie aus), in den Garten, in das Arbeitszimmer, den Personalbereich, das luxuriöse Gäste-WC, die Kleiderkammer und ins Schlafgemach. Ein klassisches Komödienambiente zum sofortigen Wohlfühlen, was mit einleitender, schwungvoller Musik unterstützt wird. Im ersten Akt wird hauptsächlich das Stück im Stück gespielt. Die zweite Fassung des ersten Akts findet hinter der Bühne statt. Anstelle, dass die Bühne gedreht wird, zieht das Publikum auf die Bühne und nimmt auf bereitgestellten Bänken Platz. Die dritte Fassung des ersten Akts spielt dann wieder regulär vor der Bühne, allerdings ist diese inzwischen bös ramponiert. Die Tapete ist teilweise abgerissen, der Fernseher ist nur noch aus Pappe, die edle Couch ist ausgetauscht und durch eine billige braune ersetzt worden (wie auch der Boden) und eine abgerissene Türklinke sorgt für zusätzliche Probleme… (Bühne: Hansjörg Hartung). Das Ganze geschieht in einem ungeheuren Tempo und mit einem ungemein spielfreudig agierenden Ensemble. Da gibt jeder alles und das Publikum ist am Ende auch ganz entzückt ob des Tollhauses und seiner einnehmenden Insassen.
Als liebenswerte und leicht vergessliche Hauswirtschafterin Mrs. Clackett (genannt werden hier jeweils die Spielfiguren des Spiels im Spiel) sorgt Josefin Platt vom ersten Eintreten an für Sympathie. Makler Roger, vom Immobilienbüro Squire, Squire, Hackham & Dudley, rast von Etage zu Etage, um den Sex-Maniacs nachzujagen und das Chaos in Grenzen zu halten (mit schwarzen Haaren und ebensolchem Oberlippenbart: Christoph Pütthoff). Sandra Gerling betört in weißen Dessous als aufreizende blonde Vicki (Kostüme: Elina Schnitzler). Mit Nasenbluten hat der Steuerhinterzieher und Autor Philip zu kämpfen, Till Weinheimer gibt ihn mit viel Enthusiasmus. An seiner Seite strahlt als Gast Anita Vulesica in der Rolle der Flavia, mit Stil und Klasse, exaltiert ihren Körper über die Bühne schwingend. Hölzerner kann Jochim Nimtz als schwerhöriger Einbrecher auftreten, stets lustvoll einer Flasche Whiskey nachjagend. Und auch Vertreter des Backstagebereichs fehlen nicht. Als enervierte Regieassistentin Poppy hält Henriette Blumenau den Laden zusammen, Unterstützung erhält sie vom gutmütigen und übermüdeten Inspizienten Tim (Christian Bo Salle).
Die Kunst der Unterhaltung ist nirgendwo schwieriger als in der Komödie. Hier zündelt sie von Akt zu Akt zu einem Feuerwerk der Leichtigkeit bei gleichzeitiger Präzision. Der Intendant als „Sozialarbeiter“ hat hier seine Arbeit sehr gut gemacht, das Premierenpublikum war hin und weg.

Markus Gründig, Februar 11


Stella

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
23. Januar 11 (Premiere)

Lange ist es her, dass “Stella” am Schauspiel Frankfurt zu sehen war. Dabei müsste die Stadt eine besondere Beziehung zu diesem Stück haben, schließlich hat Goethe hier zwischen Februar und April 1775 dessen Erstfassung geschrieben. 1999 inszenierte Amélie Niermeyer das Stück im Schauspielhaus (u.a. mit Juliane Köhler, Lena Stolze und Wolfram Koch), im Jahr 1984 inszenierte es Heinrich Giskes in den Kammerspielen (u.a. mit Regine Vergeen, Sonja Mustoff und Klaus H. Russius). Bei der aktuellen Neuinszenierung in den Kammerspielen ist nun ein bundesweit gefragter und mehrfach ausgezeichneter Regisseur zu Gast, der sich im vergangenen März im Bockenheimer Depot mit Goldonis „Der Diener zweier Herren“ in Frankfurt vorstellte und dessen „Tosca“ eine Woche vor der „Stella-“Premiere nebenan in der Oper Premiere feierte: Andreas Kriegenburg.
Wo es bei „Tosca“ in einem großen Rahmen um Liebe und Politik geht, ist bei „Stella“ der Fokus allein auf eine kleine Gruppe Menschen gerichtet, deren Lebensweg sich nach einigen Wirren kreuzt und Ungeahntes hervorruft und dabei zu neuen Erkenntnissen führt. In beiden Stücken steht eine Dreiecksgeschichte im Mittelpunkt der Handlung. So wie dieses Thema bei Goethe im 18. und 19. Jahrhundert oder bei Puccini im 20. Jahrhundert bereits für lebhaften Gesprächsstoff sorgte, ist es auch in Zeiten von Lebensabschnittsbeziehungen durchaus aktuell. Und eine Dreiecksgeschichte muss auch nicht so fatal enden wie bei Puccini oder in Goethes Tragödie (d.h. in der 2. Fassung dieses Stücks).

Stella
Schauspiel Frankfurt
Stella (Valery Tscheplanowa), Fernando (Marc Oliver Schulze), Cäcilie (Bettina Hoppe)
Foto: Birgit Hupfeld

Andreas Kriegenburg als Mann des 21. Jahrhunderts inszeniert das Stück zwar in alten Kostümen, einer fantastischen Traumszenerie und weitestgehend in der Originalsprache. Gleichwohl ist seine Inszenierung sehr zeitgemäß. Das fängt schon vor dem eigentlichen Beginn an, wenn das Publikum Platz nimmt und die Darsteller bereits auf der Bühne (zunächst ein mit Naturholzbohlen eingefasster überdimensionaler Rahmen) sitzen und übertrieben Befindlichkeiten demonstrieren. Einsam, gemeinsam, Fratzen schneidend, herumzappelnd, auf dem Kopf stehend, sich umarmend, träumend. Im Publikum wird gelacht und sich beim Gebrauch eines Schlauchtelefons froh an die eigene Kindheit erinnert. Mit einem überdimensionalen blauen Schal wird eine Person vermummt, später sind alle Darsteller an diesen Schal gebunden, ein passendes Bild für die Abhängigkeiten in Goethes Klassiker (und im Leben generell).
Nach diesem Vorspiel tritt Lucie (als lebhafte Göre mit hochgesteckten Zöpfen: Lisa Stiegler) auf (die Figur der Postmeisterin wurde gestrichen). Müde ist sie ob der langen Fahrt in der Postkutsche. Lässt kurzerhand die Koffer fallen und sinkt gleich selbst danieder. Ein Moment der Unendlichkeit der Langsamkeit und ein guter Übergang ins Stück, das mit vielen leisen Tönen aufwartet und voller schwebender Empfindungen und leidenschaftlichen Aufwallungen ist. Ihre Mutter (als beherrschte Cecilie: Bettina Hoppe) ähnelt optisch der sensiblen Stella (Valery Tscheplanowa). Beide haben lange kastanienbraune Haare und tragen enge, auf dem Rücken zugeschnürte Kleider im späten Biedermeierstil (Kostüme: Katharina Tasch). Auch von ihrem Sprachduktus unterscheiden sie sich nur wenig. In ihrem gemeinsamen Leid kommen sie zueinander. Womanizer Fernando (Marc Oliver Schulze) dagegen liegt am Ende einsam in der Ecke, obwohl er es ist, der die Frauen an sich zieht. Auch seine kumpelhafte Beziehung zum Verwalter (Mathis Reinhardt) kann er nicht erneuern.
Zu einem must-see macht diese Inszenierung, neben der sensiblen Zeichnung der Frauencharaktere, die von Andreas Kriegenburg entworfene Traumbühne (trotz aller Kargheit). Auch hier gibt es mit viel Holz und einer fallenden Wand Parallelen zur „Tosca“-Inszenierung. Die kleine Kammerspielbühne wirkt auf einmal richtig groß und in der romantischen Ausleuchtung von Frank Klaus und den braunen Wänden fühlt man sich wie in einer glückseligen Welt, mit Blick durch ein großes Fenster in den Herbstwald (das das ganze Spiel ist, wird durch grelles Neonlicht im Hintergrund befindlichen Flur deutlich).
Am Ende herrscht Ernüchterung und die Utopie von Liebe, die geteilt werden kann, steht im Raum. Heftiges und langes Applaudieren nach pausenlosen zwei Stunden.

Markus Gründig, Januar 11


Liebelei

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
13. Januar 11 (Premiere)

Arthur Schnitzler zählt zu den viel gespielten Autoren. Am Schauspiel Frankfurt war jedoch lange Zeit kein Stück von ihm zu sehen. Dafür werden jetzt an den Städtischen Bühnen Frankfurt gleich zwei Produktionen aus seiner Zeit gegeben. Neben seinem erfolgreichsten Stück „Liebelei“ im Schauspielhaus zeigt die Oper Frankfurt derzeit die Musik-Theater Produktion „Neunzehnhundert – Ein ewiges Lied“ im Bockenheimer Depot. Dort taucht sein Name zwar nur auf einem Pappkarton auf, gesellschaftliche Stimmungsmalereien der Wiener Dekadenz werden anhand der Musik seiner Zeitgenossen Mahler, Schönberg und Zemlinsky szenisch umgesetzt. Schnitzlers dreiaktiger Klassiker “Liebelei“ in der Inszenierung von Stephan Kimmig ist jedoch keine damit vergleichbare Reminiszenz an die Zeit des Fin de Siècle.

Liebelei
Schauspiel Frankfurt
Fritz Lobheimer (Isaak Dentler), Christine (Kathleen Morgeneyer)
Foto: Birgit Hupfeld

Das Stück wurde auf pausenlose 90 Minuten gekürzt und ganz in die Gegenwart versetzt. Es fängt quasi mit Pauken und Trompeten an, um dann aber schnell zu sanften Streichern und Flöten zu wechseln. Fritz (sensibel unter rauer Schale: Isaak Dentler) erscheint als Erster auf der Bühne und blickt zunächst nur in die Ferne, während sein Gesicht auf eine große Fläche im Hintergrund projiziert wird. Ein netter, sympathisch wirkender junger Mann, offen für das Leben. Und dann kommen auch schon seine Freunde und es wird bei einer modernen Version von „I will survive“ ausgelassen gefeiert. Bei der zeitgemäßen Party (statt einer Soirée) fließt reichlich Alkohol im Schnelldurchgang und um sich von den vollgesudelten nassen Kleidern zu befreien, entledigen sich die beiden Herren erst einmal ihrer Kleidung (das geht schnell und nimmt kein „Peer Gynt – Format“ an).
Das Bühnenbild für Fritzs großzügige Wohnung oder Christines bescheidene Dachwohnung ist stets das Gleiche, nur ein paar Requisiten werden ausgetauscht. Es besteht aus einer glatten Fläche aus Plexiglas (Boden und Rückwand), die Seiten sind offen und betonen den Charakter des Ausgestelltseins. Hinter dem Glas sind unterschiedliche Tapetenversatzstücke zu sehen, frei assoziierbar für mögliche Räume (Bühne: Anne Ehrlich). Kimmig hat das Stück zwar gekürzt, dennoch hetzt er nicht durch den Abend, sondern lässt den Darstellern genügend Zeit. Die nimmt sich insbesondere die famose Kathleen Morgeneyer als emphatische Christine und verdeutlicht ihre emotionale Betroffenheit. Ihre große Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, ihr Traum vom Glück, hier wird er zum Greifen nah.
Mit erfahrenem Blick auf die Männerwelt ist ihr diesbezüglich Mizi Schlager (Franziska Junge) um einiges voraus. Am Anfang zeigt sie ihre schönen Beine, doch ist sie hier weder Vamp noch Lebedame, mehr verständnisvolle Schwester. Und auch Publikumsliebling Sascha Nathan gibt sich kumpelhaft. Dazu passt der sich treu sorgende Vater Christines (Felix von Manteuffel). 
Am Ende ist es Christine, die vorne am Bühnenrand steht und deren Gesicht im Hintergrund auf großer Fläche projiziert wird. Dass sie in einem halben Jahr wieder lachen kann, glaubt sie jetzt noch nicht. Aber sie gibt hier, anders als bei Schnitzler, auch nicht endgültig auf.  Im Inneren ist sie stärker, als sie äußerlich erscheint. Und schaut betroffen, aber offen in die Ferne, in die Zukunft. Uneingeschränkter Applaus.

Markus Gründig, Januar 11


Peer Gynt

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
17. Dezember 10

Frei von jeglichem Ballast auf der Suche nach sich selbst

Wer bin ich und wer will ich sein? Peer Gynt ist ein rastloser Egozentriker, ein Umhergetriebener, ein Lebensgieriger, ein Taugenichts und Fantast. Damit ist er gleichsam zeitlos und passt als Typ in jede Zeit, auch ins 2. Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, obwohl Henrik Ibsen sein „dramatisches Gedicht“, das auch gerne als „nordischer Faust“ bezeichnet wird, bereits im Jahr 1876 geschrieben hat.
„Peer Gynt“ unterscheidet sich von Ibsens späteren Gesellschaftsstücken stark. Es ist mehr eine Erzählung als ein Drama, fallen für eine szenische Inszenierung doch Zeit, Raum und Handlung schier unüberbrückbar auseinander. Dazu gibt es eine überbordende Zahl an Personen, sodass eine szenische Umsetzung selbst von einem großen Ensemble kaum zu stemmen ist.
Kürzungen sind also unumgänglich. Wobei die jetzige Inszenierung des Schauspiel Frankfurt sorgfältiger und detaillierter ist, als die Letzte vom November 2006. Damals war das Stück mit Aljoscha Stadelmann und Johanna Bantzer in der Reihe „One Night Shots!“ (anarchistische Kleinstprojekte, die innerhalb einer Woche Probenzeit entstehen) in der schmidtstrasse12 zu sehen. Für die Regie zeichnete Florian Fiedler verantwortlich. Jetzt ist es ebenfalls ein junger Regisseur, der das Stück zeigt: Antú Romero Nunes. Bereits als „Nachwuchsregisseur des Jahres“ ausgezeichnet, der nach seinem „raketenhaften Start“ (Sybille Baschung) nach „Abgesoffen“ (im Oktober 2009 in der „Box) jetzt bereits zum zweiten Mal am Schauspiel Frankfurt inszeniert.

Peer Gynt
Schauspiel Frankfurt
Knopfgießer (Michael Goldberg), Peer Gynt (Nils Kahnwald)
Foto: Birgit Hupfeld

Mit dem jugendlich wirkenden Nils Kahnwald in der Hauptrolle verleiht er Ibsens Klassiker frischen Wind. Sein Inszenierungsansatz beruht auf drei Prinzipien: Ästhetizismus, Realität und Liebe. Für jedes Prinzip steht ein Darsteller. Henrike Johanna Jörissen, bereits Kahnwalds Partnerin in Stockemanns „Das blaue blaue Meer“, repräsentiert vielseitig die weiblichen Figuren Aase, Solveig, Ingrid und ein grüngekleidetes Weib und steht damit für eine bedingungslose Liebe, zu der Peer Gynt nicht fähig ist. Michael Goldberg repräsentiert die Realität (wie den Knopfgießer und den Trollkönig). Er hält Peer Gynt stets die nackte Wahrheit vor, die dieser aber nicht zu erkennen fähig ist.
Als Peer Gynt fährt Nils Kahnwald alle Register seines Könnens auf und verleiht der Figur ein glaubwürdiges Maß eines „tollen“ Lebenssüchtigen (und beherrscht auch hier wieder eine Menge Text, den er stets fein nuanciert spricht). Sein meisterhaftes Spiel um Lüge und Wahrheit erhebt Nunes zum Prinzip, bricht zugleich aber auch das Spiel mit der Realität und verleiht so dem Ganzen eine packende Aktualität. Es gibt direkte Publikumsansprachen und die Bühne wird als sichtbare Scheinwelt gezeigt (als offener Raum mit kleinen Boxen, wie für den insolventen Hof Aases und Mikrofone für Baumkronen; Bühne: Florian Lösche). Nunes bricht die Handlung auf, setzt sie im Hier und Jetzt fort, um dann wieder mit der Handlung fortzufahren.
Für seine Reise löst sich Peer Gynt von allem ihm Anhaftenden. Sie führt ihn hier per Video aus dem Theater heraus ins nah gelegene Frankfurter Bahnhofsviertel. Wie der stadtbekannte Jörg aus Sachsenhausen (nämlich nackt), sucht er hier fremde Welten in Form von Dönerbuden und Pilsstuben auf, bis er über einen Sturzflug vom Eurotower im Irrenhaus (= Kantine des Schauspiels) landet. Von psychodelischen Videoverfremdungen wie aus den 70er Jahren untermalt (Video: Sebastian Pircher), taumelt er schließlich zurück auf die Bühne. Und es gibt beinahe so etwas wie ein Happy End. Wenn Peer Gynt sich noch immer fragt, wer und was er sei, bekennt die von ihm am stärksten verletzte Solveig mit glorifizierender Kraft aus der Ferne, dass er noch immer in ihrem Glauben, ihrem Hoffen und ihrem Lieben sei und das Publikum stimmt in diese Liebesbezeugung lautstark ein. Und Peer Gynt bekommt eine leise Ahnung, dass er sich in sich alleine niemals finden wird. Um zu seinem Kern zu kommen braucht er die Nähe und die Reflexion durch andere. Viel Applaus für einen starken Abend.

Markus Gründig, Dezember 10


König Lear

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
8. Dezember 10

Ein Klassiker, eine Tragödie, ein Höhepunkt für jedes Theater: „König Lear“ von William Shakespeare. Ein Höhepunkt ist auch die Inszenierung des Schauspiel Frankfurt unter der Regie von Günter Krämer. Zumindest was die Darsteller anbelangt. Mit Michael Abendroth in der Titelrolle sowie u.a. mit Constanze Becker (als Cordelia und Narr), Oliver Kraushaar (als irr werdender Edgar), Wolfgang Michael (als berührender Graf von Gloucester), Joachim Nimtz (als Graf von Kent), Marc Oliver Schulze (als charmanter Bastard Edmund) sind großartige Schauspieler mit von der Partie.

König Lear
Schauspiel Frankfurt
Lear (Michael Abendroth), Narr (Constanze Becker)
Foto: Birgit Hupfeld

Shakespeares großer, fünfaktiger Brocken, wurde von Krämer publikumsfreundlich auf gut zwei Stunden gekürzt (mit einer Pause). Trotz manch guter Einfälle, ausstattungsreicher Bühne im ersten Teil, imponierenden Kostümen (wie die schwarzen Riesenreifröcke für die Königstöchter; Kostüme Falk Bauer) und sich dem Spiel leidenschaftlich hingebenden Darstellern, hat der Abend seine Längen. Und was noch schlimmer ist: vieles aus der Vorlage ist nur schwer oder gar nicht zu erkennen. Ohne genaue Kenntnisse des Handlungsablaufs bleibt dem unbedarften Besucher vieles verborgen (wie auch ob verwendeter Masken manch schauspielerisches Können). Die Tragik von Shakespeares düsterstem Stück wird nur gestreift. Der Abend beginnt farbenfroh. König Lear (Michael Abendroth) sitzt in einem weiß-roten Prachtmantel einsam und hoch erhoben auf einem Thron. Rote Vorhänge begrenzen und öffnen Teile der Spielfläche und verdeutlichen. dass hier Theater im Theater gespielt wird. Im Laufe des Abends wird die Bühne immer leerer, bis schließlich nur noch die immens große leere Bühnenfläche bleibt, die mit feucht duftender Erde aufgefüllt wurde (Bühne: Jürgen Bäckmann). Damit erinnert das Bild an die letzte Aufführung dieses Stückes am Schauspiel Frankfurt. Im März 2001 spielte Peter Eschberg hier ebenfalls auf leerer Bühne den Lear (und führte gleichzeitig die Regie). Doch so packend wie damals ist die Neuinszenierung nicht. Der Lear von Michael Abendroth hat das Kämpfen schon lange aufgegeben, er will nur noch seine Ruhe haben. Fast schon apathisch läuft er in einem zerrissenen Morgenmantel herum, bis er schließlich ob der Ernüchterung über die Menschheit im dunkeln Bühnenhintergrund verschwindet… Freundlicher Applaus.

Markus Gründig, Dezember 10


Die Ängstlichen und die Brutalen

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
14. November 10

Täglich sterben Menschen, in Frankfurt wie auch im Rest der Welt. Dennoch bekommt man das so gut wie nicht mit. Der Tod ist zwar allgegenwärtig und doch stets fremd. Der Tod ist auch zentrales Thema von Nis-Momme Stockmanns neuestem Stück, das zwei Tage vorm Volkstrauertag uraufgeführt wurde. Doch geht es Stockmann weniger um das Sterben an sich, auch wenn der Tod in Form des verstorbenen Vaters im Stück allgegenwärtig ist. Dieser sitzt zu Beginn auf einem Stuhl, wird von seinen Söhnen dann ins Bett gelegt, aber er steht später sogar wieder auf und liest einen selbstverfassten Text. Das Bild des verstorbenen Vaters dient Stockmann als Vorlage, um auf soziale Missstände und Schieflagen in unserer Gesellschaft hinzuweisen. Auf Tabuthemen, für die in einer sich am Ästhetizismus von Apple und Co. befriedigenden, fortgeschrittenen, kultivierten Gesellschaft kein Platz ist. Obwohl es die banalsten Dinge sind, wie der tägliche Stuhlgang des Vaters, mit dem sich die beiden Brüder konfrontiert sehen. Welche Bilder haben wir voneinander, von dem übermächtigen Vater, der sich dann auch nur als normaler Mensch entpuppt. Wie wird mit Pflegebedürftigen oder Sterbenden umgegangen, in einer so perfekt organisierten Welt, wie mit uns selbst?

Die Ängstlichen und die Brutalen
Schauspiel Frankfurt
Berg (Sébastien Jacobi), Vater (Manfred Thomas), Eirik (Thomas Huber)
Foto: Birgit Hupfeld

Die beiden Brüder Berg und Eirik verkörpern zwei Welten und spiegeln doch eines jeden Persönlichkeit wider, wie es schon der Titel ausdrückt. Da ist Berg, der Labile, Unsichere (einfühlsam: Sébastien Jacobi), der stets alles noch schlimmer macht. Gleichwohl ist er angstfrei und macht sich keine Gedanken, was andere über ihn denken könnten. Und da ist Eirik (vehement: Thomas Huber), der jähzornige, narzisstische Besserwisser, der sich so sehr einen Kopf drum macht, was andere denken könnten, dass er selber vergisst zu denken. Am Ende haben sich dann auch die Machtverhältnisse des ungleichen Geschwisterpaares umgewandelt.
Gespielt wird im Zuhause des Vaters, ein heruntergekommenes Zimmer (das wohl zu einem Einfamilienhaus gehört, wird doch berichtet, dass die Mutter einst oben wohnte), mit kaputten Fenstern, die mit Holzlatten verstellt sind. Wie auch das Interieur schon nicht mehr schäbig, sondern einfach kaputt ist. Zum Beispiel das Bett, das am Fußteil von Holzstücken getragen wird, wie auch der Fernseher. Ein großer Schrank steht als zweites Zimmer (oder noch innen gekehrter Balkon) als eine Art Raucherecke gekippt im Raum (Bühne / Kostüme: Esther Hottenrott). Die Welt ist am A…, ein Thema, das auch beim letzten hier uraufgeführten Stockmann Stück („Das blaue blaue Meer“) anklang.
Regisseur Martin Kloepfer setzt Stockmanns Text lebendig um und so gibt es trotz vieler ernster, ja bedrückender Momente, auch sehr viele komische Augenblicke, die für viele Lacher im Publikum sorgen. That’s Life: Komödie und Tragödie liegen eng beieinander und manchmal lernt man erst durch erfahrenes Leid.

Markus Gründig, November 10


Mein Kampf

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
30. Oktober 10 (Premiere)

Ein Stück über Hitler, muss das denn sein? Für George Tabori stellte sich diese Frage eigentlich nie wirklich. 1914 in Budapest geboren, erfuhr er erst im Alter von sieben Jahren von seiner jüdischen Identität. Zweisprachig aufgewachsen lebte er 1932/33 auch in Berlin und Dresden. 1935 emigrierte er via Prag und Budapest nach London. Sein Vater wurde in Auschwitz ermordet, ebenso überlebten viele seiner Familienmitglieder den Holocaust nicht. Nach England lebte Tabori in den USA und ab 1971 wieder fest in Deutschland, wo er auch im Jahr 2007 verstarb (in Berlin).
Erst als Schriftsteller, später als erfolgreicher Dramatiker, beschäftigte sich Tabori immer wieder mit dem Thema Holocaust, ganz nach dem Freudschen Begriff von Erinnerungsarbeit (Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten). Taboris Stücke, die oftmals zu einem Skandal führten, zeichnen seinen besonderen Blickwinkel aus: in der Groteske das Besondere zu sehen und den entlarvenden Charakter der Anekdote zu nutzen. Selbst der Holocaust ist für ihn eine böse Groteske. Die Ambivalenz von Lachen und Weinen war für ihn existenzial. Im Fragebogen des FAZ-Magazins antwortete er auf die Frage nach seinem Hauptcharakterzug: „Flucht in den Witz“.
Sein Stück “Mein Kampf“ würde man im Film als ein Prequel bezeichnen, spielt es doch in der Zeit vor Hitlers Machtergreifung, in der dieser noch ein finanzschwacher, unbekannter, suizidgefährdeter Studienplatzanwärter der Wiener Kunsthochschule war. Nach Wien ist er im Jahre 1907 von seiner rund 300 Kilometer entfernten Geburtsstadt Braunau am Inn gekommen. Wobei ansonsten Taboris Stück einer historische Authentizität entbehrt. Hitler ist hier eine Projektion des Juden Schlomo Herzl und umgekehrt. Tabori bezeichnete das Stück als einen „theologischen Schwank“. Denn grundsätzlich geht es um die Liebe, um himmlische, irdische, erotische Liebe. So wie die Bibel von der Feindesliebe spricht, war für Tabori wichtig, dass sich extreme Polaritäten annähern (und bestenfalls versöhnen), dass die Liebe siegt und der Zuschauer irgendwie geläutert das Theater verlässt und sei es auch nur, Züge von gezeigten Charakteren im eigenen Ich zu erkennen.

Mein Kampf
Schauspiel Frankfurt
Hitler (Andreas Uhse)
Foto: Birgit Hupfeld

Für die Inszenierung am Schauspiel Frankfurt zeichnet Amélie Niermeyer verantwortlich, die unter der Intendanz von Peter Eschberg hier bereits u.a. „Miss Sara Sampson“ und „Stella“ inszeniert hat. Seit 2006 ist sie Generalintendantin am Düsseldorfer Schauspielhaus. Im nächsten Jahr wechselt sie zur Universität Mozarteum in Salzburg (als Abteilungsleiterin Schauspiel/Regie/Univ.Prof. für Schauspiel).
Ihr Inszenierungsansatz greift Taboris Sichtweise auf, auch wenn das Stück leicht gekürzt ohne Pause gegeben wird. Langweilig ist die Inszenierung während der zwei Stunden Spielzeit keineswegs, dazu gibt es viele humorvolle Momente und Witze, nicht nur jüdische. Gespielt wird auf einer leeren, verkleinerten Spielfläche, die vor die eigentliche Bühne platziert wurde. Dafür sind die ersten Zuschauerreihen entfallen, die Nähe zum Publikum ist intensiver. Eine zunächst langweilig wirkende, abgenutzte Fliesenrückwand (ein Männerwohnheim ist kein Luxustempel) aus weißen Standardfliesen im Format 10×10 entpuppt sich als mehrfunktionale Zweckwand, mit herausklappbaren Betten und sich öffnenden Türen. Sie ist eingesäumt von einer bunten Lichterkette, die deutlich macht, dass es im Leben nun einmal nicht schwarz/weiß zugeht, das es Nuancen und andere Blickwinkel gibt (Bühne: Stefanie Seitz). Niermeyer entfaltet die Farce ohne den Zeigefinger zu erheben und hält die Balance zwischen Lachern und Beklemmung mit Spannung aufrecht. Dabei bezieht sie auch den Zuschauerraum mit ein, wie auch ein lebendes Huhn, genannt „Mizzi“ (das zum Ende hin als Druckmittel gegenüber Schlomo dran glauben muss und von Himmlischst (kraftvoll: Sascha Nathan) Pflicht erfüllend in einer Pfanne aufbereitet wird).
Hitler als armer Tropf, in Unterhose und grüner Weste (Kostüme: Kirsten Dephoff), der unter Liebesmangel leidet, wie auch unter Verstopfung, der von der Akademie der schönen Künste abgewiesen wird, der nicht weinen kann und verzweifelt. Das ist die eine Seite. Doch er ist auch schon da ein von sich überzeugter, jähzorniger, ja schon leicht paranoider Mann mit manischen Zügen, der seine Abneigung Juden gegenüber hemmungslos offen legt und schon zu dieser Zeit Wagners Musik verfallen ist (ein paar Takte aus dessen Oper „Lohengrin“ klingen an). Andreas Uhse spielt ihn außerordentlich famos und facettenreich. Michael Benthin ist Schlomo Herzl, der Bibel und Kamasutras verkaufende Händler, mit Charme und Chuzpe, der aber auch ein Herz für den bäuerlich wirkenden Antisemiten Hitler hat, ihn gar vor dem Tod bewahrt und ihn so unbeabsichtigt zu Frau Tods Würgeengel macht. Zusammen mit dem arbeitslosen Koch und Möchtegern-Gott Lobkowitz (locker: Felix von Manteuffel; bei der Uraufführung spielte Tabori diese Rolle) hören sie moderne jazzige Musik (die ja später als entartet gebrandmarkt wird). Henrike Johanna Jörissen gibt das selbstsichere Gretchen, die keine Probleme damit hat, sich später an die braunen Machtverhältnisse anzupassen. Valery Tscheplanowa ist eine attraktive, sinnliche Frau Tod, die das Geschehen über weite Teile der Inszenierung an der Bühnenaussenseite stehend verfolgt. Von einem solch betörenden Tod würde man gerne einmal abgeholt werden.
Ein Abend mit herausragendem schauspielerischem Engagement und Talent, allen voran von Andreas Uhse. Viel Applaus.

Markus Gründig, Oktober 10


Die Frau, die gegen Türen rannte

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstelung:
22. Oktober 10 (Premiere)

Just gonna stand there
And watch me burn
But that’s alright
Because I like
The way it hurts

Obige Verse stammen aus dem aktuell in den Charts ganz oben stehenden Song “Love the way you lie” von Rihanna und Eminem. Dabei geht es um ein Paar: sie ist fremdgegangen, er rastet deshalb aus und sie bleibt dennoch bei ihm, weil sie nicht von ihm loskommt. Ähnlich geht es in Roddy Doyles 1996 erschienenem fünften Buch „Die Frau, die gegen Türen rannte“ zu. Eine gleichnamige Opernfassung (Musik: Kris Defoort, Regie: Guy Cassiers) wurde als belgisch-niederländische Gemeinschaftsproduktion erstmals im November 2001 gezeigt (mit anschließender Europatour, die sie in 2003 auch zur Ruhrtriennale führte). Als deutschsprachige Erstaufführung wurde jetzt in den Kammerspielen Frankfurt eine Dramatisierung von Oliver Reese gezeigt, die auf der Übersetzung von Renate Orth-Gutmann beruht. Olive Reese ist nicht nur Dramatiker und Intendant des Schauspiel Frankfurt, er führt bei diesem Stück auch die Regie.
Die Frau, die gegen Türen rannte, ist Paula Spencer. Sie lebt in einem Arbeitervorort von Dublin, ist 39 Jahre alt, hat vier Kinder, ist Alkoholikerin und Witwe. Als Kind frühreif, war sie schon bald bei den Jungs begehrt und bei den Mädels verachtet und litt schon als Kind unter den Beschimpfungen ihrer Umwelt. Die Heirat mit Charlos schafft ihr nicht nur einen schöneren Nachnamen, sondern auch die Anerkennung, nach der sie sich lange gesehnt hatte. Dafür nimmt sie auch in Kauf, dass er kein Robert Redford Typ ist und trinkt. Siebzehn qualvolle Jahre hält sie seine Demütigungen, sein Fremdgehen und seine Misshandlungen aus. Getrunken hatte sie selber allerdings schon vorher. Schließlich schafft sie es, ihn hinauszuschmeißen (nachdem er ein zu intensives Auge auf Tochter Nicola geworfen hat). Ein Jahr später stirbt er auf der Flucht durch die Schüsse einer Polizeispezialeinheit und sie darf auch noch für seine Beerdigung aufkommen. Hier geht es hart zu, ganz so wie im richtigen Leben.

Die Frau, die gegen Türen rannte
Schauspiel Frankfurt
Paula Spencer (Bettina Hoppe)
Foto: Birgit Hupfeld

Im schwarz eingerahmten Bühnenraum der Kammerspiele steht lediglich eine große weiße Leinwand, die sich bis zum Bühnenrand vorzieht (Bühne: Olga Ventosa Quintana). Auf ihr steht Bettina Hoppe alias Paula Spencer. Zuletzt war Hoppe als Wilhelm Meister im Bockenheimer Depot zu erleben, nun spielt sie eine Frau aus niedriger sozialer Herkunft, mit gelockten Haaren, blauem Lidschatten und roten Lippen. Lene Schwind hat sie in einen lilafarbenen Pullover (und Jeansrock) gesteckt, der mit großem Zackenmuster ihre inneren Verletzungen ebenso reflektiert wie er mit Kaulquappen ähnlichen runden Figuren ihre Sehnsucht nach Geborgenheit, Glück und Liebe ausdrückt. In dem fast eineinhalbstündigen Monolog, der nur von kurzen Musikeinspielungen unterbrochen wird, erzählt Hoppe unchronologisch die Geschichte der Paula Spencer. Trocken, ganz unsentimental und doch ungemein packend. Immer wieder scheint eine noch lebensdurstige Frau und liebende Mutter durch. Sie klagt nicht an, bedauert sich nicht selbst. Ganz selbstverständlich erwähnt sie, wie sie aus wenigem viel für die Familie kochen konnte, wie sie als Braut hoffte, den Brautstrauß werfen zu können, wie sie als Mädel den Jungs in der Schule einen blies, um geachtet zu sein, wie sie Charlos die heiße Bratpfanne über den Schädel schlug und das heiße Fett ihr auf den Kopf tropfte. Hoppe macht das sehr glaubwürdig, hält mit ihrem facettenreichen und intensiven Vortrag die Spannung die ganze Zeit über aufrecht. Am Ende nicht nur ein spontanes Küsschen vom Regisseur, sondern auch viel anerkennenden Publikumsbeifall.

Markus Gründig, Oktober 10


Sozialistische Schauspieler sind schwerer von der Idee eines Regisseurs zu überzeugen

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
9. Oktober 10 (Premiere / Uraufführung)


Mit Goethe und Lessing startete das Schauspiel Frankfurt die neue Saison, in der Klassiker einen Schwerpunkt bilden. Mit Ihnen hat die neueste Inszenierung, René Polleschs „Sozialistische Schauspieler sind schwerer von der Idee des Regisseurs zu überzeugen“ erst einmal nichts gemein. Sie steht einsam da, wie eine Strelitzie in einem Strauss von Tulpen. Zwar zur selben Gattung gehörend, aber dann doch anders. Das wird auch gleich im Foyer deutlich, wo man plötzlich überwiegend ein ganz anderes, wesentlich jüngeres, Premierenpublikum sieht. Und doch. Auch hier geht es ums Theater, um das Spielen, um Erfahrungen und hinterher ein kleines Stück dazugelernt zu haben, mit neuen Eindrücken und Erkenntnissen. Nur in einer anderen Verpackung. Die schon beim ungewöhnlichen, widerspruchsvollen Titel anfängt (ein Schauspieler ist ja zwangsläufig ein Einzelwesen, er muss für den Text seine Umsetzung finden, weshalb ein sozialistisches Kollektiv hier nicht wirklich funktionieren kann).
Pollesch, Jahrgang 1962 und aus dem nahen Friedberg kommend, ist mittlerweile selber ein Klassiker. Ein Klassiker des postdramatischen Theaters in Deutschland. Peter Michalzik nennt ihn (in seinem Buch „Die sind ja nackt!“) „einen der letzten authentischen Systemkritiker und legitimsten Brecht-Nachfolger, den es im Theater seit Jahren gibt“.
In den vergangenen Jahren hat der überaus produktive Dramatiker und Regisseur vor allem an der Berliner Volksbühne, beim „Stückezertrümmerer“ Frank Castorf, gearbeitet, aber auch landesweit von Nord bis Süd, Ost bis West. Nun erstmals auch in der Mainmetropole Frankfurt, die ihn mit viel Offenheit begrüßt hat. Die gut einstündige Aufführung wurde bei der Premiere sehr gut aufgenommen. Wobei sicher nicht jeder alles verstanden hat, dafür ist Pollesch der hier, wie üblich, auch selber inszenierte, zu speziell, sind seine Texte zu anspruchsvoll, auch wenn sie in einer knallig bunten Slapstickshow mit fetziger Musik verpackt sind.

Sozialistische Schauspieler sind schwerer von der Idee eines Regisseurs zu überzeugen
Schauspiel Frankfurt
v.r.n.l. Nils Kahnwald, Valery Tscheplanowa, Constanze Becker, Oliver Kraushaar
Foto: Birgit Hupfeld

Mit der Integration von verschiedenen Formaten wie ernstem Text, Slapstick, Musik und Video erinnert das Stück in gewisser Weise an Armin Petras (Fritz Katers) „Unter dem Vulkan“, dass 2005 in den Kammerspielen gegeben wurde, nur dass es sich bei „Sozialistische Schauspieler…“ um eine Deluxeversion handelt. Großzügig ist die Bühne von Janina Audick, die alles andere als kargen Sozialismus vermittelt. Ein mondäner Wohnbereich mit breitem Bett, eine große Liege in geschwungener Form, edlen Standleuchten, Türbogen und großer Fensterfront zeigen, dass man sich nicht in einer Kleinraumwohnung befindet. Ein in Leuchtketten eingefasster roter Teppich liegt s-förmig auf einem angedeuteten Parkettboden. Er führt ins Nichts bzw. nur zu einem Fenster oder einer Vitrine und einer Klappe. Wie vieles nur der Andeutung dient, die Bühnenwände sich bewegen und die Spielfläche neu gestalten, die Lampen hoch und runter fahren, ein ausgestopfter Wolfskopf seine Pfote hin und her bewegt und schließlich gar weißen Rauch aus seinem Mund bläst. Zu und Abtritte erfolgen, noch mehr als Georges Feydeau, nicht durch eine Vielzahl von Türen, sondern aus Schränken, Betten und Klappen. Die Darsteller präsentieren sich erst in sozialistischer Ordnungstracht, später dann ganz kapitalistisch in Abendkleid und Anzug (Kostüme: Tabea Braun). Mitunter wird die Kleidung auch beim Durchschreiten der Drehtür gewechselt. Also eine optisch gefällige Gestaltung, die ins Auge fällt (werden doch oft die großen Klassiker dagegen sehr viel nüchterner szenisch umgesetzt). Dazu gibt es reichlich gute Laune-Musik und Videoeinspielungen (wie eine Straßenecke New Yorks oder die Start-/Landebahn eines Flughafens, mit schauspielerischer Interaktion). Aber um was geht es hinter dieser Fassade, was will Pollesch, der sich gerne mit Themen wie Geschlechterforschung (Gender-Studies ), Globalisierungs- und Kapitalismuskritik und der Unterhaltungsindustrie beschäftigt, mit seinen Metatexten auf Metaebene sagen? Die sechs voller Engagement spielenden Darsteller (Constanze Becker, Michael Goldberg, Traute Hoess, Nils Kahnwald, Oliver Kraushaar und Valery Tscheplanowa) haben, wie bei Pollesch üblich, keine Rollenidentität. Im Gegenteil. Jeder spielt jeden. Sie ist er und er ist sie. Das Individuum im Kollektiv, das Kollektiv im Individuum. Polleschs Text wird dabei chorisch und solistisch gesprochen (Chorleitung: Christine Groß). Im Schnitt weder besonders laut (ursprünglich war Schreien ein von Pollesch gern eingesetztes Mittel als Ausdruck der Entfremdung), noch besonders leise, auch im Tempo im Schnitt „normal“. Die Texte handeln flüchtig vom Elend der Sexualität, des Verlorenseins in der Beziehung, der Unfähigkeit zu Beziehung, von Untreue und Lebenslust, von Liebe und Tod und davon, in alledem seinen eigenen Weg zu finden, als Individuum in der Masse. So ist das Stück eine Einladung, mit den Darstellern diesen literarischen Kurzmarathon gemeinsam zu erkunden, wobei ob der gescheiten Texte und gleichzeitiger Szenischer Ablenkung durchaus auch ein zweiter Vorstellungsbesuch angebracht ist.

Markus Gründig, Oktober 10


Naxos-Benefiz-Gala

Theater Willy Praml, Frankfurt
Samstag, 2. Oktober 10

„Flügel dem Geiste! Schwimmflügel der Kunst!“

Das hat es in Frankfurt in dieser Form noch nicht gegeben: Einen Abend der Theatersolidarität von sechzehn Bühnen zugunsten einer Bühne. Ein Querschnitt durch die lebendige Theaterszene, die so vielfältig ist wie die ganze Stadt. Fast alle waren der Einladung von Hausimpressario Willy Praml gefolgt. Von den großen Häusern, wie der Oper Frankfurt und dem Schauspiel Frankfurt, bis hin zu den kleineren Häusern, wie dem Frankfurter Autorentheater oder dem Theater Landungsbrücken. Und so war es auch für die Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth kein Thema, die Schirmherrschaft für diese Gala zu übernehmen, wenn sie auch selber nicht daran teilnehmen konnte, da sie an diesem Abend (dem Vorabend zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit) mit Michael Gorbatschow zum Essen verabredet war. Für sie richtete stellvertretend Frankfurts 2. Bürgermeisterin, Jutta Ebeling, den Dank der Stadt gegenüber dem Theater Willy Praml aus: Willy Praml sei zwar ein Magier, aber kein Zauberer. Auch er könne aus Schmirgel (= Bezug zur ehemaligen Naxos-Union) kein Geld machen und so freue es sie ganz besonders, dass die Stadt Frankfurt nunmehr endgültig beschlossen habe, die Naxoshalle als Theaterspielstätte zu erhalten. Künftig wird es hier also weiterhin Elektra oder Hyperion zu sehen geben und kein Umbau zu einem Supermarkt für Lidl oder Rewe erfolgen. Willy Praml wies darauf hin, dass in den vergangenen Monaten etliche dringend notwendige Verkehrssicherungsmaßnahmen durchgeführt wurden, auch gibt es jetzt großzügige Lichttraversen (nebst Steiger), eine Brandmeldezentrale, ein neues Technikpult und Toilettenanlagen. Doch noch immer ist die Spielstätte nicht winterfest. Das soll sich ändern, daher die Benefiz-Gala.

Naxos-Benefiz-Gala
Willy Praml
Foto: Seweryn Zelazny

Die Veranstaltung stand unter dem Motto „Flügel dem Geiste! Schwimmflügel der Kunst!“. Ab 40 Euro Eintritt, nach oben waren freilich keine Grenzen gesetzt, war man bei diesem Event dabei. Und sehr viele waren gekommen. Unter den Gästen der ehemalige, langjährige Frankfurter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann, Bernd Fülle (Geschäftsführer der Städtische Bühnen Frankfurt am Main GmbH) und die Ortsvorsteherin des Ortsbeirates Bornheim, Hedi Tschierschke. Nach einer herzlichen Begrüßung mit einem kleinen Ouzo im Foyer (die Geschichte der Firma Naxos-Union, die die Halle errichtete, hängt eng mit der griechischen Insel Naxos zusammen), eröffnete das Antagon Theater (Leitung: Bernhard Bub) dann mit einer bildgewaltigen Performance den grandiosen Abend. Zunächst vor dem Theater, was leider nicht alle Zuschauer mitbekamen. In der Halle zeigten dann drei TänzerInnen auf hohen Stelzen in archaisch anmutenden Fabelwesenkostümen und eine Tänzerin mit mächtigem Kopfschmuck Ausschnitte aus den Straßenspektakelproduktionen „Time Out“ und „H²O“ (es spielten Bernhard Bub, Barbara Luci Carvalho, Daniela Maria Christ, Victor Alfonso Cuevas, Michael Eckstein, Joscha Erker, Luciana Borger Fazan, Johannes Hagel, Janina Neugebauer, Seppl Josef Niemeyer, Isabelle Rosin, Jakob Rullhusen und Matthias Ulfeng). „Die Vision in einer entrückten Welt, die Suche nach der verloren gegangenen Spiritualität und die Jagd nach dem Glück, all das umschreibt „Time Out“ in Form eines expressiven Körpertheaters u.a. mit eigens komponierter Live Musik, Stelzen und Elementen des „Butho-Tanzes“ (Antagon Theater). Ein passender Auftakt also für einen so vielseitigen und vergnüglichen Theaterabend. Kontrastreich und sehr irdisch ging es dann weiter. Mit ganz offensichtlichen Problemen zwischen den Geschlechtern beschäftigte sich die Kammeroper Frankfurt (Leitung Rainer Pudenz). Kristin Graham sang mit starker Präsenz und schönem Klang die Arie der Frau Fluth „Nun eilt herbei, Witz, heit’re Laune“ aus Nicolais „Die lustigen Weiber von Windsor“. Dzuna Kalnina präsentierte eine besinnliche Version von Brecht/Weills „Surabaya Johnny“ (aus „Happy End“). Beide wurden von der jungen Britta Elschner mit versiertem Spiel am Klavier begleitet.
Die Dramatische Bühne war von ihrem Chef höchstpersönlich vertreten. Unter rauer Oberfläche zeigte Thorsten Morawietz („Der Molière von Frankfurt“, Michael Weber) sein großes Herz für das Theater und bot mit seinem Solo einen amüsierenden Schnellkurs über die Grundlagen der Schauspielkunst. Für das Volkstheater Frankfurt Liesel Christ gaben Wolfgang Kaus und Hans Zürn Neues von Friedrich Stoltze zum Besten, eingerahmt in dessen „Wie kann nor e Mensch net von Frankfort sei!“.
Oliver Kraushaar, seit der Spielzeit 2002/03 festes Ensemblemitglied des Schauspiel Frankfurt, sprach eindrucksvoll ohne Punkt und Komma Heiner Müllers Prosa-Segement „Herakles 2 oder die Hydra“ aus dem Jahr 1972 (wie auch aktuell in der Inszenierung „Die Marquise von O.“), indem der Wald für die hundertköpfige Schlange steht, in dessen Mitte sich der Held befindet.

Eigens für diesen Abend hatten sich die Musiker Sepp´l Niemeyer (Percussion), Gregor Praml (Baßgitarre) und Jakob Rullhausen (Gitarre) zum „Frankfurter Musiktrio“ zusammengefunden und spielten als Uraufführung (Komposition: Gregor Praml) rein akkustisch zwei vertonte Gedichte von Arthur Rimbaud („Empfindung“ und „Der Rabe“).
Vom Stahlburgtheater grüßte Hausherr Michi Herl und beantwortete häufig gestellte Fragen rund um den „Stoffel“ (Stalburg Theater offen Luft im Günthersburgpark).

Alexander Brills theaterperipherie zeigte den Querschnitt „Ganz von allein“. 12 junge Darsteller/Musiker mit Migrationshintergrund spielten und tanzten überzeugend vom Traum zur Freiheit davonzufliegen, von der Sehnsucht nach grenzenloser Freiheit (Jonas Abbood, Fatih Cihan Aykilic, Hatice Bayval, Hadi El-Harake, Philipp Haines, Adil Khadri, Fatima Kamboua, Alem Manuel, Sergey Neumann, Tanja Ronaghi, Natalie Schramm, Abeba Tsegave).

Eine große Anerkennung erwies auch die Oper Frankfurt, die nicht nur den Konzertflügel zur Verfügung gestellt hatte. Zunächst spielte Konstantin Arro klangsinnlich einen der (insgesamt 21) Ungarischen Tänze von Johannes Brahms. Und dann gab sich zur großen Überraschung Sebastian Weigle, Generalmusikdirektor des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters höchstpersönlich die Ehre und spielte mit Arro zusammen brillant vierhändig (den ersten Tanz der Ungarischen Tänze, in allegro molto).
In der Pause grüßte Michael Quast und Ensemble von der Fliegenden Volksbühne per Videobotschaft. Die Nachbarspielstätte Künstlerhaus Mousonturm (Leitung Dieter Buroch) beteiligte sich mit einer eigens für diesen Abend von Allison Brown entworfenen Choreografie, anmutig getanzt von Kristina Velt und Norbert Pape. Das Theater in Frankfurt, dass sich intensiv schon um die allerjüngsten Theaterbesucher kümmert (aber nicht nur), präsentierte einen lustigen Auszug aus seinem Stück „An der Arche um Acht“ (mit Günter Henne, Michael Meyer und Susanne Schyns als Pinguine und Uta Nawrath als Taube).

Erst kommende Woche hat „Dantons Tod“ (nach Büchner) in der Regie von Torge Kübler Premiere beim Theater Landungsbrücken (Leitung: Linus König). Maja Hofmann, Tim Stegemann und Bijörn Wellems präsentierten schon jetzt einen vielversprechenden Auszug.

Für die Komödie/das Fritz Rémond Theater pärsentierte die mit Krücken laufende Stefanie Schäfer leidenschaftlich “Nur kein Mann“ aus cole Porters Musical “Kiss me, Kate” und “Meine Lippen, sie küssen so heiss” aus Franz Lehas Operette “Giuditta”.

Das man auch noch mit 85 Jahren auf der Bühne andere Menschen berühren und bewegen kann (und vielleicht doch Zeit für die Lust haben sollte, wenn sie sich denn mal zeigt), bewiesen Hertha Georg und Iris Reinhardt Hassenzahl, mit einem Ausschnitt aus der Erfolgsproduktion „Robert, weil die Welt uns gern hat“ (Regie: Martina Ebert) vom Frankfurter Autorentheater (Leitung Wolfgang Spielvogel).

Und wie es sich für eine internationale Stadt wie Frankfurt gehört, beendeten internationale Gastschauspieler diese Theatergala der Vielfalt. Vom English Theatre Frankfurt kam Intendant Daniel Nicolai mit dem Ensemble der aktuellen Produktion „Who´s Afraid of Virginia Wolf“ herüber, die bis vor wenigen Minuten in ihrem Haus an der Taunusanlage gespielt hatten und boten mit leidenschaftlichen Spiel einen Auszug aus dem 2. Akt (Michael Cullen, Robert Eli, Ginny Myers Lee, Deirdre Madigan).
Durch den Abend führten charmant Birgit Heuser und Michael Weber, die ja sonst immer im Mittelpunkt dieser Bühne stehen. Frankfurts Theater halten zusammen und das ist gut so. Am Ende ein Dank, an alle auf und hinter der Bühne, im Foyer und im Publikum. Gemeinsam wurde dann das Kirchenlied „Danke für diesen Tag“ eingestimmt. Danke an alle, für einen grandiosen Abend!

Markus Gründig, Oktober 10


Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
23. September 10 (Premiere)

Die Auseinandersetzung mit Klassikern bildet einen Schwerpunkt des Schauspiel Frankfurt in der Saison 2010/11. Zur Goethe Festwoche 2010 zeigte das Haus bereits drei Mal Goethe: „Wilhelm Meister“, „Clavigo“ und „Werthers Leiden“. Die Klassiker werden mit Porträts über starke Frauen fortgesetzt: „Stella“, „Minna von Barnhelm“ und „Maria Stuart“. Zudem gibt es eine eigene, kostenlose Klassiker-Vortragsreihe, die am 31. Oktober 2010 in der PanoramaBar startet (an diesem Tag mit Prof. Dr. Monika Fick vom Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft der RWTH Aachen).
Nachdem die ersten Premieren im Bockenheimer Depot und in den Kammerspielen stattfanden, eröffnete nun Lessings Lustspiel „Minna von Barnhelm“ die neue Saison im Schauspielhaus. Regisseurin Jorinde Dröse verzichtet bei Lessings, im Jahr 1767 uraufgeführtem, Stück auf einen direkten Bezug zum gesellschaftlichen Leben im 21. Jahrhundert. Sie zeigt es publikumsfreundlich, mit boulevardtheaterhaften Zügen. Eingefügt wurden ein paar sprachliche Aktualisierungen und etliche Textpassagen wurden gekürzt. Gespielt wird 1 ¾ Stunden, ohne Pause. Neuzeitlich ist vor allem die zeitgemäße Alltagskleidung der Protagonisten (Kostüme: Barbara Drosihn).

Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück
Schauspiel Fankfurt
Major von Tellheim (Marc Oliver Schulze), Minna von Barnhelm (Claude De Demo)
©: Birgit Hupfeld

Der Titel deutet es schon an, es geht nicht nur um Minna, sondern auch um einen Soldaten. Den hat der Frieden arbeitslos gemacht. Verleumded und der Ehre beraubt, findet sein Herz nur schwer zur Angebetenen zurück. Mit seinem Diener hat er Quartier in einem Wirtshaus nahe Berlin bezogen, wo die Verwirrspiele um getauschte Ringe und die Liebe ihren Lauf nehmen. 
Julia Scholz hat mit Hilfe der Drehbühne für fast jeden Akt ein eigenes Bühnenbild geschaffen, wobei die einzelnen Bilder die gleiche Grundstruktur haben. Im Anfangs-und Schlussbild stehen 29 raumhohe, schmale Türen, aufgereiht in einem großen Halbrund. Die Türgriffe sind kaum zu erreichen, so hoch sind sie angebracht. Es ist ein großzügiger, heller Raum mit nobler Atmosphäre. Aber ein Entfliehen aus diesem Raum ist nicht so einfach. Er zudem auch einen gewissen klaustrophobischen Charakter, was zum bedrängten Major von Tellheim passt. Unter Einsatz der Drehbühne kommen weitere Räume zum Vorschein. Ein dem ersten ähnlicher, nur kleiner und einer mit einer grünen Wand. Hier sitzt hoffnungsvoll die Minna auf ihren Koffern. Später wuchern aus dieser Wand unzählige Farne und tauchen den Raum in eine gespenstische Stimmung. In bester Komödientradition gehen Türen auf und fliegen heftig zu, huscht das Personal rein, raus und durch. An der Bühnenseite untermalt Roderik Vanderstraeten mit sphärischen Klängen seiner E-Gitarre das Geschehen.
Claude De Demo gibt in einem blassen Kleid (Kostüme: Barbara Drosihn) ein um ihr Liebesglück kämpfeendes sächsisches  Edelfräulein Minna. Marc Oliver Schulze als der seines Berufs und der Ehre beraubte Major von Tellheim ist dementsprechend ein Gebrochener, einer, der sich als Versager fühlt („der Verabschiedete, der an seiner Ehre gekränkte, der Krüppel, der Bettler“). Er ist sehr viel weniger durch den Siebenjährigen Krieg verletzt, als durch die Umstände. 
Die Show stehlen den beiden ihr eigenes Personal: Sowohl Sascha Natha als herzallerliebst um seinen Herrn besorgter Kammerdiener Just, als auch Sandra Gerling als zungenfertige Zofe Franziska, die stets mehr tun will als ihr zusteht. Beide bestechen mit komödiantischem Spitzenspiel. Doch auch der angetrunkene Wirt des Michael Benthin überzeugt mit seiner eigenwilligen Art. Till Weinheimer gibt einen energiegeladenen Wachtmeister Paul Werner (und mysteriöse Dame in Trauer). Michael Abendroth versprüht als Glücksritter und Falschspieler Riccaut de la Marliniére französischen Charme.
Wie es sich für eine anständige Komödie gehört, lösen sich am Ende auch hier alle Probleme ganz schnell auf und Friede und Freude herrschen. Dem Publikum hat die auf knapp zwei Stunden zusammengestutzte Umsetzung bestens gefallen: langer Applaus.

Markus Gründig, September 10


Die Marquise von O.

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
23. September 10 (Premiere)

Allein der Titel klingt schon leicht frivol. Die Geschichte der, ohne es mitbekommen zu haben, schwanger gewordenen Marquise von O. ist dann umso kurioser. Gleichwohl handelt es sich um eine Erzählung von Heinrich von Kleist. Und das heißt: viel eigenwilliger Text und schwerere Kost als vielleicht zunächst angenommen.

Die Marquise von O.
Schauspiel Frankfurt
Marquise von O. (Henrike Johanna Jörissen), Graf F. (Oliver Kraushaar)
Foto: Alexander Paul Englert ~ englert-fotografie.de

Vor drei Jahren brachte das Frankfurter Theater Willy Praml das Stück in der Naxoshalle auf die Bühne. Genauer gesagt war es die brillante Birgit Heuser in der Rolle der Marquise von O., die das Stück mit Leib und Seele nahezu als Solo gab. Die jetzige Inszenierung des Schauspiel Frankfurt unterscheidet sich wesentlich von der Praml-Version. Erstere entstand in Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen, wo sie am 2. Juni dieses Jahres Premiere hatte. Diese Dramatisierung wurde von Kevin Rittberger und Nora Khuon nach Kleists Erzählung geschrieben. Ihn haben sie höchstpersönlich quasi als Erzähler und Mitspieler in die Geschichte eingebaut (dementsprechend redet er, von Andreas Uhse facettenreich, verschroben und stets gehetzt und ruhelos gespielt, mal in der ersten und mal in der dritten Person). Ist das nun eine Komödie oder Tragödie? Ein Klassiker oder nur eine Farce? Nun, es ist von jedem etwas. Kevin Rittberger, der nicht nur Regisseur sondern u.a. auch erfolgreicher Dramatiker ist, hat die Personenführung fast schon durchchoreografiert, derart exakt finden Auf- und Abtritte statt. Nicht nur von/zur Seite, auch nach oben und unten, nach innen und nach außen. Denn die Bühne von Christoph Ebener gibt dazu viele Gelegenheiten. Die Zitadelle des Obristen ist hier ein Hausfragment, mit einem größeren Raum im Hochparterre und Stallungen im Souterrain. Grau außen und grau innen (die Wände kahl und kalt). Es gibt nur wenig Licht, stets nur da, wo gerade die Handlung passiert. Außenrum viel schwarz. Doch düster ist die Inszenierung keineswegs. Dafür sorgt schon die schillernde Figur der Obristin von G., die Franziska Junge mit herrschaftlicher Größe und herzhaften Lachern gibt. In ihrem kräftig strahlenden türkisfarbenen Festkleid und breit geformter roter Lockenpracht (Kostüme: Janina Brinkmann) erfüllt sie prächtig die Szene. In strammen Schritten und militärisch anmutender Ledertracht schreitet Graf F (Oliver Kraushaar) immer wieder um das Haus herum, bis er schließlich sein Ziel, die Marquise von O., umzingelt und erreicht hat. Er gibt aber auch im Vortragsstil eindrucksvoll den langen Heiner Müller Text „Herakles 2 oder die Hydra“ zum Besten, demnach wir selbst die Maschine sind, die wir zu bekämpfen glauben. Henrike Johanna Jörissen ist eine sensible Marquise von O., der man ihre Unwissenheit durchaus abnimmt. Als Vater streitet Thomas Huber leidenschaftlich und mit leiser Ironie um Anstand und Ansehen, Lily Sykes berät als Hebamme die Marquise von O..
Musikalische Akzente setzt der Musiker Hauschka aka Volker Bertelmann, gleich an drei an verschiedenen Orten aufgestellten Klavieren. Er entlockt ihnen nicht nur romantisch anmutende Traummelodien, sondern auch akustische Spitzfindigkeiten durch Zupfen und Streicheln der Saiten.
Das Ende greift Kleists Biografie auf, er erschießt erst die Marquise von O. (die er durch herabnehmen ihrer Perücke ihrer Rolle enthob) und dann sich selbst.  Bei der Premiere gab es viel Applaus für Rittbergers lebendige Umsetzung von Kleists nüchterner Sachlichkeit, seiner Widersprüche und Doppeldeutigkeiten, aber auch für seine einzigartige Sprache (die mit bester Diktion zu hören war).

Markus Gründig, September 10


Die Sehnsucht der Veronika Voss

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
18. September 10

Der amerikanische Regisseur Billy Wilder hat sich 1950 mit der Traumfabrik Hollywood beschäftigt: In seinem Film Sunset Boulevard (Deutscher Titel: „Boulevard der Dämmerung“) blickt er zurück auf die alternde Stummfilmdiva Norma Desmond, die im Wahn ihren jungen Liebhaber erschossen hat. Andrew Lloyd Webber hat daraus 1993 sein Musical gemacht (das im November 2010 am Theater Magdeburg seine erste Aufführung an einem Stadttheater haben wird). Mit einer ähnlichen Thematik setzte sich 1982 Rainer Werner Fassbinder, neben Werner Herzog, Alexander Kluge, Volker Schlöndorff und Wim Wenders einer der wichtigsten Vertreter des Neuen Deutschen Films, auseinander. Sein Film „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ porträtiert eine Schauspielerin, die ihren Karrierehöhepunkt überschritten hat und nun einsam, hilflos und morphiumabhängig in einen ausweglosen Strudel des Leidens gerät. Als Vorlage diente ihm die Biografie der von ihm sehr geschätzten Schauspielerin Sybille Schmitz (1909-1955). Der Film ist aber keine Dokumentation oder Biografie, eher ein Collage aus der Nachkriegszeit und ein Porträt der Schattenseite des Wirtschaftswunderlands Deutschland.

Die Sehnsucht der Veronika Voss
Schauspiel Frankfurt
Veronika Voss (Stephanie Eidt)
© Birgit Hupfeld

Das Schauspiel Frankfurt zeigt erstmals eine Dramatisierung des Films, Hausregisseurin Bettina Bruinier inszeniert die Geschichte um Verführung, gescheiterte Träumen und Profitgier. Herausgekommen ist eine leichtgängige und peppige Aufführung, die die Schattenseiten der Zeit und vor allem Veronikas Scheitern nicht ausspart. Für sie, die in der Zeit des Nationalsozialismus ein großer Star war, ist in der neuen Republik kein Platz, genausowenig wie für die ehemaligen Treblinka Insassen Treibel (die hier nur mahnend hinter einem Gazevorhang erscheinen). Zweigeteilt auch das Bühnenbild von Markus Karner. Einerseits gleicht der Boden der Kammerspielbühne einem abgetretenen Rasen, mit nur wenigen Grashalmen, verdorrtem Gebüsch und einer 50er-Jahre-Couch. Das ist der Ort für diejenigen, die nicht vom raschen Aufstieg profitieren. Auf der rechten Seite andererseits gibt es eine mondäne, quadratisch abgerundete weiße Fläche mit Treppe und gläserner Seitenwand für die Praxis von Frau Dr. Katz. Überwiegend warm ausgeleuchtet herrscht eine friedliche Atmosphäre. Doch der Schein trügt. Die Voss ist nun einmal am Ende. Stephanie Eidt spielt sie intensiv, vor allem mit ihrer starken Präsenz, selbst wenn sie nur stumm in die Ferne schaut und vor sich hin träumt. Facettenreicher und leidenschaftlicher Torben Kessler als der ihr verfallene Sportjournalist Robert Krohn. Mit Sarkasmus spielt Henrike Johanna Jörissen die ihn ertragende und dennoch liebende Freundin Henriette Hasberg. Die geschäftstüchtige und eiskalte Ärztin Dr. Marianne Katz verkörpert Heidi Ecks mit vornehmer Haltung. Musikalisch begleitet Sebastian Deufel am Schlagzeug. In weiteren, mehrfach besetzten Rollen: Martin Rentzsch, Christian Bo Salle und Lisa Stiegler. Der Abend ist eine sehr gut gemachte Collage, die mit Tiefgang gut unterhält.

Markus Gründig, September 10


Who´s Afraif of Virginia Woolf?

English Theatre Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
10. September 10 (Premiere)

Nach einer Autopanne suchen Brad und Jenny Zuflucht in einem mysteriösen Anwesen. Und erleben dann eine mehr als abenteuerliche Nacht, mit ganz neuen Erfahrungen und schrägen Charakteren, die sie sonst nie getroffen hätten. Das passiert in Richard O’Briens „Rocky Horror Show“. In Edward Albees Klassiker „Who´s Afraid of Virginia Woolf?“ kommt auch ein junges Ehepaar zu später Stunde zu einem ihm bis dato unbekannten Haus. Statt gefälligem Small Talk zwischen Universitätskollegen werden die beiden nicht nur Zeugen eines Ehekrieges, sondern sehen sich im Laufe der Nacht auch mit ihren eigenen, noch jungen, Lebenslügen konfrontiert. In Frankfurt war das Stück zuletzt im März 2006 am Schauspiel Frankfurt neu inszeniert worden. Auf karger Bühne lieferten sich damals Sabine Waibel als Martha und Joachim Nimtz als George den grausamen Überlebenskampf nach 23 Ehejahren (unter der Regie von Martin Nimz).

Who´s Afraif of Virginia Woolf ?
English Theatre Frankfurt
Martha (Deirdre Madigan)
Foto: Anja Kühn

Im klassischen Inszenierungsstil eröffnet mit diesem Stück das English Theatre Frankfurt seine nunmehr 31. Saison  (abgesehen davon, dass als Teaser im August bereits die Drama-Club-Produktion „Anatevka“ gegeben wurde). Premieren im English Theatre Frankfurt sind immer etwas Besonderes. Sei es aufgrund der großen Herzlichkeit des gesamten  Teams, der Atmosphäre oder der vielen Ehrengäste (die dieses Mal imposant in exklusiven Limousinen der Marke Jaguar vorgefahren wurden). Im Kontrast dazu freilich das Geschehen auf der Bühne. Das Stück spielt während einer Samstagnacht im Wohnzimmer des Geschichtsprofessors George und seiner sechs Jahre älteren Frau Martha (die gleichsam die Tochter des Universitätspräsidenten ist). Neil Prince stellte hierfür einen gemütlichen Raum aus den 60ern (der Uraufführungszeit des Stücks) auf die Bühne (mit Couch, Schreibtisch, Kamin und reichlich Bücher). In eine der Bücherwände ist eine kleine Bar integriert, die ist hier ganz wichtig, wird doch in kaum einen Stück so viel Alkohol abgekippt, wie in diesem. Allerdings wird die Raumhöhe nur zur Hälfte genutzt. Der verwinkelte Raum mit seinen großen Erkerfenstern wird so künstlich klein gehalten und der Blick mehr auf die Protagonisten fokussiert, so als würde man in ein Puppenhaus schauen. Im Mittelpunkt des stark spielenden Quartetts steht Martha, die sich selbst als „Mutter Erde“ bezeichnet. Deirdre Madigan gibt sie mit einem schönen Mix aus sympathischer Lässigkeit und sich von Szenen zu Szene steigender Leidenschaft. Dank ihrer leicht rauchigen Stimme schwingt stets eine für die Rolle perfekt passende Derbheit mit. Ihre Gefährlichkeit einer Schlange, die unerwartet eine Bosheit erteilt, die Männer benutzt, um von ihrer eigenen Schwäche abzulenken, versteckt sich hinter lieblicher und schöner Optik, selbst im Nachtdress macht sie noch eine klasse Figur.
Michael Cullens George ist ein die Contenance wahrender, zurückhaltender Ehemann, der schließlich die Fäden in die Hand nimmt und das Geschehen zum finalen  Crashdown führt.  Testosteron, trotzt zugeknöpftem Hemd, versprüht Robert Eli als junger Nick, nicht nur in den Augen von Martha (die sich in der Küche von seiner Mannhaftigkeit zu überzeugen versucht). Als überzog wirkende Comicfigur kommt die Brandy trinkende Honey der Ginny Myers Lee daher, obwohl sie eigentlich keinen Schluck verträgt. Das macht sie überzeugend gut.

Am Ende des desillusionierenden „amerikanischen Traums“ steht ein zaghafter Neuanfang. Draußen ist es noch dunkel, der neue Tag hat noch nicht angefangen. Aber George kümmert sich erstmals aufrichtig um die am Boden zerstörte Martha und sie bekennt an sein Knie geklammert, dass sie Angst hat vor Virginia Woolf (was vorher nur lustig besungen wurde). Die Gefahr über das eigene Ich sitzt den beiden noch im Nacken und wirkt die dramatische, selbstzerstörerische Schlacht auch noch nach: Regisseur Jonathan Fox legt auch einen versöhnlichen Finger auf die schmerzende Wunde und lässt einen zarten Neubeginn zwischen Martha und George ahnen. Starker Applaus und Standing Ovations für ein außergewöhnlich leidenschaftliches Spiel. 

Markus Gründig, September 10


Wilhelm Meister. Eine theatralische Sendung

Schauspiel Frankfurt im Bockenheimer Depot
Besuchte Vorstellung:
29. August 10 (Premiere)

Theater einer anderen Art

Er gilt als der Bildungsroman schlechthin: Goethes „Wilhelm Meister“. Dabei ist er heute vielen Menschen unbekannt. Goethe selber hat sich lange Zeit immer wieder mit ihm beschäftigt. Zunächst entstand das unvollendet gebliebene Konzept „Wilhelm Meisters theatralische Sendung“ (1777-1785), später folgten „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1795/1796) und schließlich „Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden“ (ab 1807, erschienen 1821/1829).
Als Auftaktinszenierung der neuen Saison des Schauspiel Frankfurt (und gleichzeitigem Beitrag zur diesjährigen Goethe-Festwoche) hat sich das Haus Goethes „Urmeister“ vorgeknöpft, also „Wilhelm Meisters theatralische Sendung“.
Anders als die beiden Endfassungen, ist die „theatralische Sendung“ von starken autobiografischen Zügen geprägt, sind die sechs Bücher mehr Künstler- als Bildungsroman. Es wird weniger die Entwicklungsgeschichte eines jungen Menschen auf der Suche nach seinem Platz in der Gesellschaft beschrieben, als eine Utopie einer besseren Gesellschaft mit Hilfe des Theaters entworfen.

Wilhelm Meister. Eine theatralische Sendung
Schauspiel Frankfurt im Bockenheimer Depot
Wilhelm Meister (Bettina Hoppe), im Hintergrund: Werner (Joachim Nimtz)
© Birgit Hupfeld

Dramatisierungen von Romanen sind derzeit populär, allerdings wagen sich nur wenige Häuser an „Wilhelm Meister“ heran. In Frankfurt war es zuletzt das Theater Willy Praml, das im Sommer 2004 eine 13-stündige Fassung zeigte. Die Version des Schauspiel Frankfurt unter der Regie von Ulrich Rasche (auch verantwortlich für das Bühnenbild) kommt mit weniger als zwei Stunden aus. Allerdings können die einem auch ziemlich lange vorkommen, was dazu führen wird, dass diese Inszenierung das Publikum polarisieren wird. Denn Rasche zeigt keine Geschichte, es gibt keine Dialoge, dafür aber eine kunstvoll durchchoreografierte Performance, die sich zwischen Schauspiel und Oratorium bewegt. So kann man sich immer wieder fragen: „Bin ich jetzt in einer Veranstaltung der Oper oder des Schauspiels?“ Es gibt lediglich zwei Darsteller: Bettina Hoppe und Joachim Nimtz, die mehr Aufsager als Akteure sind. Hoppe gibt den Wilhelm in maskuliner Armeetracht. Das verwirrt jedoch nicht, schafft lediglich den Frauen eine Art Ausgleich (spricht Goethe ihnen doch, entsprechend der damaligen Zeit, nur eine untergeordnete Rolle zu). Beide treten immer wieder vor das Publikum und tragen wohl artikulierend und langsam ausgesprochen, Texte aus Wilhelm Meisters theatralischer Sendung vor. Dabei stehen sie frontal vor dem Publikum, fast so wie Castingteilnehmer bei einer TV-Show vor der Jury. Zusätzlich zu den Wilhelm Meister Texten, werden aber auch ein paar Fremdtexte vorgetragen, sozialkritische von Karl Marx, Adam Smith und aus dem Neuen Testament. Jochim Nimtz ist als erfahrener und lediglich auf seinen Profit gerichteter Geschäftsmann Werner zu erleben. Die beiden werden von einem Sprechchor (Einweisung: Jürgen Lehmann) unterstützt.
Den hart gesprochenen Worten wird eine Auswahl von 27 Liedern des Barock (von Johann Sebastian Bach) und der Romantik (vom großen Goethe-Vertoner Hugo Wolf) gegenübergestellt (Musik: Sir Henry). Dies schafft einen wohltuenden Ausgleich. Hierbei ist der von Joshard Daus wunderbar harmonisch einstudierte Gesangschor (aus 32 Sängern der Europachorakademie) unermüdlich im Einsatz.
Alle Protagonisten laufen mit langsamen, gleich zählenden Schritten die ganze Aufführung über in kleinen Gruppen und auch als großes Ensemble vom leicht erhöhten hinteren Bühnenteil nach vorne und dann über die Seite wieder nach hinten. Das Leben ist nun einmal ein ewiger Kreislauf. Dabei tragen sie historisch anmutende Kostüme (die Damen lange Kleider, die Herren schwarze Anzügen; Kostüme: Bernd Skodzig).
Die Bühne ist ansonsten leer. Allerdings suggerieren die sich ständig wechselnden Lichtschaltungen schwarz/weisse Bahnen, die Wilhelms Thema frei assoziiert aufnehmen: Welcher Weg ist vorgegeben, welchen soll man gehen, welcher Weg führt ans Ziel? Die Bahnen brechen vor dem Publikum seitlich aus: Ausgang offen. So wie das Ende bei Goethe und hier im Bockenheimer Depot.
Verantwortlich für die Umsetzung zeichnet Ulrich Rasche, der sich als Regisseur großer Chorszenen bereits einen Namen gemacht hat. Bei dieser Inszenierung sind es 50 Personen, die auf der Bühne beteiligt sind (neben den beiden Darstellern sind es 16 Mitglieder im Sprechchor und eine doppelt so umfangreiche Anzahl im Gesangschor).
Wilhelm Meisters theatralische Sendung gilt es hier als sehr sinnliches, visuelles und audiophiles Erlebnis zu entdecken, ein Theatererlebnis einer ganz anderen Art.

Markus Gründig, August 10


Hyperion

Theater Willy Praml, Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
7. August 10 (Premiere)

“Der Traum von einer schöneren Welt”

Theaterfremde Räume ästhetisch zu nutzen ist schon immer ein besonderes Anliegen der Compagnie Theater Willy Praml. So wurde schon in einer Underground-Discothek gespielt („Die Nibelungen“) und in einer Tiefgarage („Lolita-Park“). Seit nunmehr zehn Jahren dient regelmäßig die ehemalige Werkstatthalle der Frankfurter Naxos-Union als Spielstätte. Dort begann die Compagnie zum Jahrtausendwechsel im Sommer 2000 mit der beeindruckenden Produktion „TARZAN – Kein Weg zurück in den Urwald“ und begeisterte seitdem immer wieder aufs Neue mit aus dem Rahmen fallenden Inszenierungen. Bei „Tarzan“ ging es um den Verlust eines Glückzustands, den Verlust des Einklangs mit der Natur, ernüchternden Besuchen in den Hochburgen der Zivilisation und um den für immer verloren gegangenen Garten Eden. Hölderlins Briefroman „Hyperion oder Der Eremit in Griechenland“ schließt in gewisser Weise daran an. Denn auch hier geht es um den Verlust eines Idealzustands, um Liebe, Freiheit und Einheit. Wobei sich das Werk für eine Dramatisierung nicht unmittelbar anbietet. Schließlich sind es Erzählungen des, mit autobiografischen Zügen versehenen, Hyperions an einen idealen deutschen Leser, an Belarmin. Längst Vergangenes wird im Nachhinein reflektiert. So gibt es stets zwei Ebenen, das eigentliche Geschehen (um das antike Griechenland, um Götter und Kriege) und die Reflexion darüber. Obwohl Hölderlins Werke zu den erhabensten und anspruchsvollsten Dichtungen deutscher Sprache gehören, sind er und sein Œuvre weitestgehend vergessen. Für Willy Praml daher ein ganz besonderes Anliegen, Hölderlin, der ja in Frankfurt gelebt und geliebt hat, stärker ins öffentliche Bewusstsein zu bringen.

Hyperion
Theater Willy Praml
Diatoma I – III (v.l.n.r.: Nadja Dankers, Birgit Heuser und Gala Winter)
© Seweryn Zelazny

In den letzten Monaten wurden in der Naxos-Halle umfangreiche Sicherungsmaßnahmen durchgeführt, ihr einmaliger Charakter blieb dabei erhalten. Nun kann künftig mit verbesserten Heizmöglichkeiten im Winter gespielt werden, ohne dass das Publikum sich mit Decken einpacken muss (wobei das nie ein Problem war, dafür wurde man stets ob der großen Spielfreude und Schauspielkunst entschädigt).
 Für „Hyperion“ wird die gesamte große Halle genutzt, dank kleiner Funkmikrofone ist das kein Problem. Die titelstiftende Figur wird von fünf Darstellern (Reinhold Behling [auch Adamas], Jakob Gail, Sören Messing, Manuele Saccaro, Claudio Vilardo und Michael Weber [auch Alabanda]) verkörpert, schließlich umfassen die Erzählungen einen großen zeitlichen und geografischen Rahmen. Und auch die Figur seiner Geliebten, die der attraktiven Diotima, ist mehrfach besetzt. Dabei können sich Freunde des Schauspiel Frankfurts auf ein Wiedersehen mit Nadja Bankers freuen, die erstmals bei einer Produktion des Theater Willy Praml mitwirkt (unter der Leitung von Elisabeth Schweeger war sie von 2005 – 2009 auf allen Bühnen des Schauspiel Frankfurts zu erleben). Die weiteren Diotimas spielen Gala Winter und Birgit Heuser. In vertrauter Weise bringen Regisseur Willy Praml und Ausstatter Michael Weber auch bei „Hyperion“ den einmaligen Industriehallencharakter des Hauses zum Glänzen, genauso wie die sportlich agierenden Darsteller, die hier ob der Mehrfachbesetzungen ein harmonisches Kollektiv bilden. Egal, ob die Männer sich nun nackt am Meer waschen oder auf den Händen stehend lamentieren, die Frauen mit ihren griechischen Trachten sich einträchtig den häuslichen Pflichten hingeben: Praml und seinem Team gelingt es brillant, die blumigen Verse des deutschen Idealismus zu Gehör zu bringen und ihnen gleichzeitig ein optisches Äquivalent zu geben (wie den feuerspeienden Ätna, Gespielt wird gute 3,5 Stunden (mit einer Pause), doch kann das Publikum auch zweimal seine Sitzplätze verlassen und das Geschehen in anderen Teilen der weitläufigen Halle erkunden.
Am Ende sitzt der Eremit (Michael Rieth), der schon am Anfang aus seinem Buch vorlas, nun inmitten der Publikumstribüne und sein Traum eines mit Gott eins gewordenen Menschen ist zumindest für diesen kurzen Augenblick wahr geworden: Hyperion erscheint ganz in Gold gehüllt und mit Lorbeerkranz… 
Großer Beifall für einen außergewöhnlichen Theaterabend.

Markus Gründig, August 10