kulturfreak.de Besprechungsarchiv Theater, Teil 21

© Auri Fotolia

Golden Girls “Wir können noch”

Bäppis Theatrallalla Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
29. Juni 13 (Premiere)

“Auch jenseits der 50 kann man ohne Küche ein Haus zum Kochen bringen”

„Golden Girls“ im Theatrallalla, moment emal, das gab es doch schon. Genau! Vor einem Jahr spielten dies dort Ute Ehrenfels, Monika Hessenberg, Anette Krämer, Barbara Pierson und Verena Wüstkamp (als Gastspiel des Die Schauspieler e.V. & der Stadt Hanau, Fachbereich Kultur). Jetzt steht das Stück von Marc Ermisch, das als Hommage an die kultige TV-Serie zu verstehen ist, erneut auf dem Spielplan von Bäppis Theatrallalla, dem kleinen Volkstheater im Frankfurter Nordend. Diesmal allerdings als eigene Produktion und mit dem Hausherrn auf der Bühne. Und diese Produktion ist beinahe besser als das Original. Denn diesmal spielen vier Herren die vier Damen, was den Unterhaltungswert in die Höhe treibt. Dabei ist es für die Herren eine besondere Herausforderung, die festgelegten Charaktere zwar individuell und mit Würde in der bekannten Art und Weise zu geben, ohne dabei in eine einfache Travestieklamotte zu verfallen. Was nicht zuletzt Verdienst der Regisseurin Corinna Maria Lechler ist, die bereits bei der Produktion 2012 Regie führte und nun mit Männern und mit dem gleichen Fingerspitzengefühl für szenische Wirkung die Geschichte vom verspielten Vermögen und der Notwendigkeit, das Haus der Wohngemeinschaft für eine Woche zum TV-Großereignis werden zu lassen, damit wieder Geld in die Kasse kommt, spielen lässt.

Golden Girls “Wir können noch”
Bäppis Theatrallalla Frankfurt
Bärbel (Thomas Bäppler-Wolf), Senta (Reinhard Lila), Nicki (Iris Reinhardt Hassenzahl), Rosi (Bastian Korff), Dorothea (Steffen Wilhelm) (beim Schlussapplaus mit Rosa Bock Apfelwein anstelle Blumen)
© Markus Gründig

Alle vier tragen von Beginn an Frauenkleider (wobei die auf dem Bild gezeigten kurzen Glitzerkleider nur im letzten Bild des Stücks getragen werden; Kostüme: Theatrallalla) und entsprechende Perücken. Sie geben sich als mehr oder weniger harmonische Wohngemeinschaft, als wären sie schon ihr Leben lang zusammen gewesen. Die Serie und auch das Stück bestechen nicht zuletzt durch die vielen bissigen Kommentare, die die Damen übereinander loslassen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Weltmeisterin im Lästern ist die schrullige, gebürtige Italienerin, Senta, die Reinhard Lila im engen schwarzen Kleid liebenswert und voller Verve verkörpert. Als die gescheite, aber viel zu sehr Kopf gesteuerte Tochter Dorothea, die nach sechs Jahren die Trennung von ihrem Mann noch immer nicht überwunden hat, glänzt Steffen Wilhelm, der vielen noch vom ehemaligen Volkstheater Frankfurt bekannt ist (so war es auch kein Wunder dass unter den Premierengästen auch seine Kollegen Sabine Isabell Roller und Wolff von Lindenau waren). Wilhelm, der bei der „La Cage aux Folles“- Produktion im Volkstheater Frankfurt die Rolle des erzkonservativen Parteivorsitzenden Heinz Bembel/Edouard Dindon verkörperte, ist hier einmal selbst im Fummel. Aber nicht als Fummeltrine, sondern als ernster Schauspieler, der die Figur der Dorothea mit Hingabe spielt. Hausherr Bäppi (alias Thomas Bäppler-Wolf) erweitert sein schauspielerisches Engagement mit der Rolle der Nymphomanin Bärbel (im passend schrägen rosa T-Shirt über einer rosa Leggins). Bastian Korff gibt mit pfälzischem Dialekt hinreißend die glücksbeseelte und liebenswerte Rosie, die den anderen durch ihre naive Art auch schrecklich auf die Nerven gehen kann (im Oktober 13 ist Bastian Korff mit seinem Programm „Liebeslied“ zu Gast im Theatrallalla). Iris Reinhardt Hassenzahl ist  als gestresste und quotengeile Fernsehmacherin Nicki dabei und das macht sie richtig gut (alternierend: Verena Wüstkamp).

Wie es sich für  Bäppis Theatrallalla, dem kleinen Volkstheater im Nordend gehört, wird diese Fassung natürlich auch mit viel hessischem Dialekt gegeben. Diese Alten-WG zeigt, dass das Leben in gereiften Jahren noch mindestens genauso viel Spaß macht wie bisher.

Markus Gründig, Juni 13


Making of :: Marilyn

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
23. Juni 13

Der Duft von Rosen, Oleander und Jasmin

“Theater für einen Besucher“ heißt es in der Ankündigung. Wobei dies nur die halbe Wahrheit ist. Gespielt wird nämlich nicht auf einer klassischen Bühne vor der nur ein Zuschauer sitzt. Das würde nicht der Idee der Initiatoren Bernhard Mikeska, Lothar Kittstein und Alexandra Athoff entsprechen. Bei ihrem Projekt „Making of Marylin“ wird der Zuschauer gewissermaßen Teil der Inszenierung, ist Besucher und Schauspieler gleichermaßen. Oder auch nicht, denn jeder wird diesen Abend ein Stück anders erleben, je nachdem mit wie viel Offenheit man sich einbringt. Wie den Eintragungen in dem im Foyer ausliegenden Besucherbüchern zu entnehmen ist, sind die Besucher stark angetan, ja überwältigt, auch wenn dort zu lesen ist: „Verwirrung auf vielen Ebenen“, „großartig und verstörend“, „ergreifend, und man ist auch froh wenn´s vorbei ist“. Vorherrschend bei den Eintragungen sind emotionale Bemerkungen, die von tiefem Dank geprägt sind, solch eine ungewöhnliche „Vorstellung“ erlebt zu haben.
“Vorstellung“ ist hier das falsche Wort, dafür ist der Zuschauer viel zu sehr gefordert (auch wenn keiner etwas sagen muss, wenn er nicht will, also durchaus ganz passiv bleiben kann). 20 Besucher können pro Veranstaltungstag teilnehmen, wobei alle 12 Minuten ein Besucher startet (jeder hat seinen individuellen Beginn vorher mitgeteilt bekommen). Für die Darsteller bedeutet dies, sie müssen innerhalb von fünf Stunden ihren Teil 20-mal geben.

Schon der Anfang verlangt eine völlige Hingabe. Start ist im Foyer der Kammerspiele. Hier erhält jeder Besucher einen drahtlosen Kopfhörer und wird in eine aufrecht stehende helle Holzbox gebeten. Geräusche einer entfernten Partygesellschaft sind zu hören, Strassen- und Großstadtlärm. Und die betörend sinnliche Stimme der einmaligen Valery Tscheplanowa, die einem sofort unter die Haut geht. Besänftigend spricht sie einem zu, dass man Zuhause angekommen sei, in der großen Villa mit Pool, wo der Duft von Rosen, Oleander und Jasmin wahrzunehmen ist. Sodann wird man gebeten, eine bereitliegende weiße Augenmaske aufzusetzen und die Tür zu öffnen. Dort steht eine Mitarbeiterin des Schauspiel Frankfurt bereit und führt den Besucher eine längere Wegstrecke. Anfangs ist noch die Große Mainzer Landstrasse zu erahnen, doch spätestens mit dem Wiedereintritt ins Schauspiel Frankfurt ist es mit der Orientierung dahin, zumal auch noch eine Aufzugsfahrt inkludiert ist. Gestoppt wird da, wo alles anfing, vermeintlich. Denn beim Abnehmen der Maske sitzt der Besucher in einer ähnlichen Holzbox wie kurz zuvor. Beim Heraustreten ist er dann tatsächlich in Marilyns Villa im Stadtteil Brentwood/Los Angeles (wo heute Stars wie Arnold Schwarzenegger, Heidi Klum, Seal, Gisele Bündchen und Robert Downey Jr. leben) angekommen. Mitten in ihrem legendären Todeszimmer, am Sonntag, den 5. August 1962. Ein Bett mit zerwühlten Kissen, darauf ein Telefon aus dieser Zeit. Ein Plattenspieler läuft und aus zwei Fenstern scheint fahles Licht herein (Bühne: Dominic Huber). Der Zuschauer ist allein. Das Telefon klingt. Er hebt ab und hört die Frage, wer er sei. Diese Frage wird im Laufe des Abends öfter gestellt (Text: Lothar Kittstein).

Making of :: Marilyn
Schauspiel Frankfurt


© Birgit Hupfeld

Das Zimmer ist der eigentliche Ausgangspunkt des Projekts. Marilyn Monroes Tod, der letzte große Auftritt des Megastars, dient als Anlass, über ihr Leben, ihr Scheitern und wie sie heute wahrgenommen wird, zu reflektieren. Dies passiert in einer kunstvollen Form, in der die Übergänge zwischen Spiel und Realität fließend sind, wo Fragen und Antworten sich nicht immer bedingen. Der Zuschauer bewegt sich durch Marilyns Villa fast wie in einer Geisterbahn oder wie in einem geheimnisvollen Labyrinth in einem Freizeitpark. Türen gehen auf und weisen den Weg, manchmal sind sie nur geöffnet zu erkennen. Es sind sechs Räume, die eine Auseinandersetzung der anderen Art bieten. Der zweite Raum gleicht einem privaten Kinoraum, mit einem roten Sitzpolster und einem großen Bildschirm, auf dem eine strahlend schöne Marilyn zu sehen ist. Und plötzlich steht sie neben einem, setzt sich neben den Besucher und betört ihn mit zärtlichen Worten. Franziska Junge füllt die Rolle der verführerischen Marilyn Monroe singend, tänzelnd und voller Hingabe aus. Dabei fragt sich der Zuschauer, wie weit er gehen soll. Kurze Antworten geben ist ja okay, aber soll man sie jetzt, wie man es ja gerne tun wollte, in die Arme nehmen und wärmen, wo ihr doch so kalt ist? Oder geht das dann doch zu weit, schließlich ist ja immer noch alles Theater und vielleicht gelten ja die Regeln wie in einem Tanzlokal im benachbarten Bahnhofsviertel, wo die Damen bestimmen, wo es lang geht, die Herren sich zurückhalten müssen. Und überhaupt, wer bin ich? Zuschauer, Gast bei Marilyn oder gar ihr Psychotherapeut? Als Zuschauer ist man fasziniert wie irritiert.
Und eh man sich´s versieht, ist die Zeit abgelaufen und ein weiterer Raum ist zu betreten. Dieser ist dunkel. Einzig eine kleine Deckenlampe fokussiert das Licht auf eine Chaiselongue, hinter der mit prüfenden Blick Monroes letzter Psychoanalytiker, der Arzt Ralph Greenson steht. Schon wieder ist sie zu spät gekommen, das kleine Dummerchen. Jetzt aber marsch Platz nehmen. Nun ist der Zuschauer Marilyn und wird von Greenson befragt, was los sei und ob man sich seiner Methode anvertrauen wolle, um Träume zu verhindern. Martin Rentzsch gibt den Greenson als ein beflissener und von sich überzeugter Schüler Freuds.

Making of :: Marilyn
Schauspiel Frankfurt
Marilyn (Esther Hausmann)
© Birgit Hupfeld

In einer Art Lichthof mit hellen weiß gekalkten Wänden wartet dann eine bereits geknickte Marilyn Monroe. Drei Ehen, drei Fehlgeburten, die mangelnde Anerkennung als Charakterdarstellerin und das Altern haben Spuren an dem gefeierten Star hinterlassen. Mantel und Schuhe landen bald in der Ecke, sie streckt die Hände aus und lädt zum Tanz und bleibt doch allein. Esther Hausmann gibt ihr ein großes tragisches Profil.
Dann erwartet den Zuschauer eine melancholische Marilyn Monroe. Wieder ein dunkler Raum mit Analysecouch und einer Deckenlampe. Marilyn Monroe räkelt sich, setzt sich auf und fragt den neben ihr Sitzenden mit einem tiefen, lang anhaltenden Blick in die Augen: „wirst du geliebt, gibt es jemanden, der sich nach dir verzehrt, der von dir träumt,…?“. Valery Tscheplanowa beweist sich auch hier wieder als große empathische Darstellerin.
Das letzte Zimmer ist ein Spiegelbild des ersten, in das der Zuschauer hineinschaut und auch wieder einen Kopfhörer aufsetzt. Nur ist das Bett noch aufgeräumt und dann kommt Marilyn Monroe, legt sich ins Bett, greift nach dem Telefonhörer und findet ihre letzte Ruhe. Ende (eine freundliche Mitarbeiterin begleitet einen dann auch wieder zum Ausgang).

Making of :: Marilyn
Schauspiel Frankfurt
Marilyn (Valery Tscheplanowa)
© Birgit Hupfeld

Ein derartiger Besuch in Marilyns Villa ist ohne Frage ein einmaliges Erlebnis und ein Geschenk. Neben den Darstellern (denen leider kein Applaus gegeben werden kann) die sich auch in ungeahnter Weise mit ihrem Publikum auseinandersetzen müssen, sind auch die beteiligten Mitarbeiter zu loben, die die präzisen Zeitabläufe souverän und mit viel Ruhe regeln (an manchen Abenden spielen auch Sandra Gerling und Henrike Johanna Jörissen). Ein grandioser Abend für alle Beteiligte. Das sich Anvertrauen hat sich gelohnt, der Duft von Rosen, Oleander und Jasmin ist noch immer in der Nase.

Markus Gründig, Juni 13


Die Möwe

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
22. Mai 13

Die Popularität, die Tschechows 1895 erschienene und 1896 in Sankt Petersburg uraufgeführte vier-aktige Komödie „Die Möwe“ allerorten erfährt, ist nicht allein rational zu erklären. Schließlich ist es nur im übertragenen Sinne eine Komödie. Die an sich handlungsarme Geschichte ist mehr eine Momentaufnahme einer schwermütig veranlagten russischen gutbürgerlichen Gesellschaft in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die Charaktere des Stückes demontieren und zerstören sich im Laufe des Stückes jeweils selbst. Aus unglücklicher Lieber und/oder aus beruflichem Misserfolg heraus, aus mangelndem Selbstvertrauen oder Missgunst und den Schmerz über ein vertanes Leben.
Der Zauber, der von dem Stück ausgeht, ist die Verbindung des eigenen Traums vom Glück, das Nachdenken über das, was im Leben hätte anders sein können, wenn nur das Wörtchen wenn nicht wäre: im Beruf, mit der Karriere und natürlich in Sachen Liebe. Und natürlich irgendwo auch die versteckte Freude, das Leid anderer zu sehen und dabei das eigene Leben als vielleicht gar nicht so schlecht zu beurteilen.

Die Möwe
Schauspiel Frankfurt
Medwedenko (Nico Holonics), Jewgeni (Till Weinheimer), Sorin (Felix von Manteuffel), Nina (Lisa Steigler), Polina (Stephanie Eidt)
© Birgit Hupfeld

Regisseur und Bühnenbildner in Personalunion Andreas Kriegenburg hat auch bei seiner dritten Arbeit am Schauspiel Frankfurt auf eine zeitgemäße Aktualisierung verzichtet. Seine „Möwe“ könnte auch vor 50 Jahren herausgekommen sein. Insoweit ist die Inszenierung formal schon traditionell und etwas altbacken. Dennoch bezaubert sie und selbst bei der gut 210-minütigen Spieldauer (inklusive einer Pause) kommt keine Langeweile auf. Hauptgrund dafür ist neben den großartigen Darstellern das geniale wie schlichte Einheitsbühnenbild für Sorins Landsitz, dem Handlungsort des Stücks.
Umrahmt von einem hohen weißen Vorhang stehen zahlreiche einfache helle Holztische in einem großen Kreis. Im inneren hinteren Bereich dieses Rundes steht ein Podest, über das eine Vorhangkonstruktion baumelt, die sich später als abstrakte Bühne und Sonnensegel entpuppt. Die Tische stehen auf der sich nahezu ständig entgegen dem Uhrzeigersinn drehenden Drehbühne. Alles ist ständig im Fluss, selbst die schönste melancholische Stimmung, wenn etwa der verträumt auf einem Stuhl sitzende Sonderling Trigorin des Marc Oliver Schulze angelnd vorüberzieht. Doch keiner kommt irgendwo an, man lebt und ist da und wieder weg. Eine schöne, poetisch anmutende Umsetzung von Tschechows Grundstimmung.
Mit wechselnder, meist warmer Ausleuchtung (Licht: Jan Walther) herrscht äußerlich eine helle, freundliche und sommerliche Atmosphäre. Dazu passen auch die überwiegend in hellen Farbtönen gehaltenen, meist weit geschnittenen Kleider (Kostüme: Katharina Kownatzki). Wo im ersten Akt noch neun dreiarmige Kerzenleuchter auf den Tischen, im zweiten Akt 13 Blumensträuße für zusätzliche Stimmung sorgen, ist im dritten Akt nach der Pause die Ordnung, das Leben, zerstört. Die Tische stehen umgeworfen und wie durcheinander gewürfelt auf der Bühne. Im vierten herrscht wieder eine gewisse Ordnung, dann stehen die Tische aneinandergereiht um das Bühnenpodest.
Hier vertreibt sich die träge Gesellschaft die Zeit, musiziert und isst gelangweilt Obst. Die Welt dreht sich derweil weiter, aber keiner hat ein Ziel, auf das er sich zubewegt.

Die Möwe
Schauspiel Frankfurt
Nina (Lisa Stiegler), Arkadina (Bettina Hoppe), Trigorin (Marc Oliver Schulze)
© Birgit Hupfeld

Bettina Hoppe verleiht der Irina Nikolajewna Arkadina ein erhabenes Äußeres. Sie ist am elegantesten gekleidet (mit schlichten aber edlen Kleidern, veredelt mit einer ausgefallenen Kette aus Obst und Gemüse und mit einer Perlenkette, die sie in einem Anflug von Sentimentalität beinahe verschenkt hätte). Zudem sind ihre Haare stets topp gestylt. Doch entpuppt sich die sich freundlich gebende populäre Schauspielerin Adkadina als egozentrische, geizige, harte und starke Frau, die mit dem Wesen ihres unglücklich verliebten Sohnes Konstantin Gawrilowitsch Treplew gar nicht klar kommt, geschweige denn ihn in seiner Not aufrichten kann. Diesen armen Tropf, der kein Geld für ein paar kleine Freuden oder neue Kleidung hat, dafür umso mehr Begehren, gibt mit Verve und innigem Ausdruck Mathis Reinhardt .

Voller Elan ist zunächst auch der Gutsbesitzer Pjotr Nikolajewitsch Sorin des Felix von Manteuffel, bis er schließlich nur noch schwer krank daliegt. Ein Vertreter der guten alten Zeit ist auch der nostalgisch veranlagte, weitgehend gutmütige und nur wenn es um den Gebrauch seiner Pferde geht jähzornig reagierende Ilija Afanasjewitsch Schamrajew des Michael Benthin. In seinen Erinnerungen denkt er so manchmal „so etwas gibt es heute gar nicht mehr“. Seine Frau Polina Andrejewna verkörpert Stephanie Eidt als anmutige, sehnsuchtsvolle und vom Leben gezeichnete Frau. Sie spricht mit ihren Blicken, die die Belastungen der vielen Ehejahre plastisch vermitteln.
Die Mascha der Katharina Bach erinnert mitunter an Sandra Gerlings Rolle der Vicki in „Der nackte Wahnsinn“, so wunderbar dem realen Leben entrückt gibt sie die trinkfreudig junge Frau (die mal so nebenbei mit viel Körperspannung horizontal auf einer Leiter über den Dingen schwebt). Am Ende ist sie zwar trocken, aber ob des sie langweilenden Ehemanns, der Kinder und der unerfüllten Liebe dafür noch unglücklicher als zuvor. Und so trägt sie, wie zu Beginn, als einzige wieder schwarz. Katharina Bach ist eine viel versprechende Nachwuchsdarstellerin, ist sie doch noch Mitglied im Schauspiel Studio Frankfurt.
Unprätentiös, mit schlichtem Gemüt und künstlerischem Outfit (wobei die Hose so groß ist, das sie bis über den Bauchnabel reicht) ist der Semjon Semjonowitsch Medwedenko des Nico Holonics. Mit stylischen Haaren, schwarzer Hornbrille und engen hellem Jackett vermittelt er einen unbekümmerten Schriftsteller, der am Ende ob der Last (und Kosten) für die Ernährung von sechs Mäulern überfordert ist. Der Arzt Jewgeni Sergejewitsch Dorn des Till Weinheimer kokettiert mit der Andrejewna, hält sich letztlich aus allem raus und fährt damit gar nicht so schlecht, auch wenn er sein Vermögen im Ausland verspielt hat.
Die wohl größte und anspruchvollste Rolle hat Lisa Stiegler inne. Sie, die bis letztes Jahr noch Mitglied im Schauspiel Studio Frankfurt war, gibt die Nina Michailowna Saretschnaja anfangs engelhaft leicht und herzerfrischend, wie ein von einem anderen Planet eingeflogenes Wesen, leichtfüßig bewegt sie sich durch die Szenerie und legt nebenbei noch fast ein Spagat hin. Später, nachdem zwei Jahre vergangen sind, trägt sie nicht nur ihr kurzes Originalhaar (zuvor lange Haare), auch ihre Illusionen sind der nüchternen Realität gewichen und die Liebe schmerzt noch stärker als zuvor.

Großer Schlussapplaus vom begeisterten Publikum.

Markus Gründig, Mai 13


Good People

English Theatre Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
10. Mai 13 (Premiere)

Hugh Whitemores “Breaking the Code” eröffnete die Saison 2012/2013 am English Theatre Frankfurt. Der Regisseur dieser Produktion, Michael Howcroft, zeichnet auch für das letzte Stück in der Spielzeit 2012/2013 verantwortlich. Anders als bei „Breaking the Code“ geht es in diesem nicht um das Schicksal einer historischen Persönlichkeit, sondern um das einer einfachen, alleinerziehenden Mutter. Dennoch ist es auch hochbrisant, thematisiert es doch das harte Überleben und irgendwie durchkommen müssen einer Frau aus einfachen sozialen Verhältnissen, der schon der Genuss eines Bonbons zum Verhängnis wird, weil ihr in Folge ein Zahn abbricht, ein Arztbesuch aber mangels Krankenversicherung so lange aufgeschoben wird, bis sich ein Abszess gebildet hat und schließlich die teure Arztrechnung verhindert, dass sie die Steuer für das Auto bezahlen kann und sie daraufhin zu spät zur Arbeit kommt und wieder einmal ihren Job verliert. Ein Teufelskreislauf, aus dem es kein Entkommen gibt. Oder vielleicht doch? Genau darüber nachzudenken macht das Stück Mut.

David Lindsay-Abaires „Good People“ wurde erst im Mai 2011 in New York uraufgeführt und erhielt gleich zwei Nominierungen für den wichtigsten US-amerikanischen Theaterpreis, dem Tony-Award („“Bestes Stück“ und „Beste Darstellerin“, Frances McDormand). Die Aufführung im English Theatre Frankfurt ist zugleich die erste Aufführung dieses Stücks in Deutschland.
Michael Howcroft hat es, ganz in Tradition des Hauses, freundlich bodenständig inszeniert, das Bühnenbild könnte auch in der nicht weit entfernten Frankfurter Komödie oder dem Fritz Rémond Theater im Zoo stehen. Beim Schauspiel Frankfurt wäre die Umsetzung wahrscheinlich einiges kantiger und radikaler angegangen worden. Wobei das kein Muss ist. Denn das Stück bietet an sich genügend harten Stoff. Wobei es freilich nicht nur um die arbeitslose Hauptfigur Margie geht, sondern um die Kernfrage, was kann jemand für sein Schicksal, ist es vorherbestimmt oder ist ein Ausbrechen möglich?

Good People
English Theatre Frankfurt
Margie (Janet Greaves)
© Christian Muth

Die Bühne von Morgan Lane (auch Kostüme) zeigt auf einer Drehscheibe die verschiedenen Handlungsorte in abgeschlossenen kleinen Einheiten. Zunächst nur ausschnittsweise einen schnöden Hinterraum eines 1-Dollar-Shop. Daneben auch Margies einfache Wohnküche, sowie einen Raum im Gemeindesaal (an dessen Decke von vorherigen Feiern noch luftleere Luftballons hängen) für das im englischen Sprachraum populäre Bingo-Spiel. Nur das Wohnzimmer des aus ärmlichen Verhältnissen entflohenen Arztes Mike ist großzügig, luftig und elegant eingerichtet (mit freundlichen Leihgaben des Frankfurter Möbelhauses Leptien3). Hier kommt es im zweiten Akt zum großen Konflikt zwischen den drei Hauptprotagonisten Margie, Mike und Kate. Dieser wird nicht gelöst, sondern wirft viele neue Frage auf. Was für eine Person ist Margie? Lügt sie, macht sie nur Spaß?
In dieser großen Rolle (das Stück könnte auch „Margie life“ heißen) glänzt die britische Schauspielerin Janet Greaves, gerne mal austeilend, selber aber doch hochempfindlich. Und ganz besonders emotional, wenn ihr Gastgeschenk zerstört wird, wofür sie ihre letzten Kröten geopfert hat.
Als aus „gutem Hause“ stammend gibt sich das Paar Mike (Kevin McGowan) und Kate (Gracy Goldman). Schon vor Margies Erscheinen hatten sie ihre Eheprobleme, danach sind sie noch größer. Sowohl McGowan als auch Goldman spielen mit leidenschaftlichem Einsatz. Dies tun auch in den kleineren Rollen Louise Yates als Unheil stiftende Jean, Fiz Marcus als bastelfreudige Hausbesitzerin Dottie und Will Close als Bingo begeisterter Stevie.

Große Betroffenheit am Ende, aber doch ein positiver Ausblick, denn Margie erfährt, dass es durchaus „Good People“ gibt, auch wenn die Hilfe aus einer vollkommen unerwarteten Richtung kommt…
Großer Zuspruch.

Markus Gründig, Mai 13


Was zu sagen wäre warum

(Fassung des Schauspiel Frankfurt)
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstllung:
8. Mai 13 (Premiere/Uraufführung)

Eigentlich ist die Uraufführung eines Stückes für den Autor ja eine tolle Sache. Endlich das in vielen Stunden, Tagen und Monaten entstandene Stück auf der Bühne umgesetzt zu sehen. Manchmal kann es dann aber auch eine unangenehme Überraschung geben, wenn die Umsetzung eine ganz andere ist und der Autor sein Stück kaum oder gar nicht mehr wieder erkennt. So ging es dem Autor Oliver Kluck (Jahrgang 1980), allerdings schon im Vorfeld der Uraufführung. Gemäß dem Blog auf seiner Webseite war er mit der Fassung des Schauspiel Frankfurt so gar nicht einverstanden und bedauerte, dass es für ihn als Autor kein nachträgliches Kündigungsrecht gäbe. Immerhin handelt es sich hier aber um ein Auftragswerk des Schauspiel Frankfurt, das über Klucks Verlag, dem renommierten Rowohlt Theaterverlag, geschlossen wurde. Wobei das insoweit überholt ist, als Kluck seinen Verlagsvertrag Ende April 2013 gekündigt hat und nun die Rechte seiner Stücke selbst wahrnehmen will. Kluck zeigte sich über die Kürzung des Stücks um rund 1/5 verärgert, da es sich dabei um zentrale Inhalte handelte (zusätzlich über Figuren- und Chronologieumstellungen). Hierzu kann sich jeder ein eigenes Bild machen, denn Kluck bietet auf seiner Webseite beide Fassungen als PDF-Dokument zum Lesen an (dazu Informationen zum Autorenvertrag inklusive Vergütung).

Was zu sagen wäre warum
(Fassung des Schauspiel Frankfurt)
Schauspiel Frankfurt
Jürgen (Oliver Kraushaar), Rowenta (Heidi Ecks), Ich (Vincent Glander), Väter (Thomas Huber), Heinz (Viktor Tremmel)
© Birgit Hupfeld

Dass es sich das Schauspiel Frankfurt für die szenische Umsetzung leicht gemacht hat, kann jedenfalls nicht konstatiert werden. Das Stück über Erinnerung an „Die Väter“ kam passend am Abend vor dem Vatertag in den Kammerspielen heraus. Die Bühne von Cora Saller ist eine leere schwarze, nach hinten ansteigende Fläche, deren Ränder von großen Glasvitrinen mit Holzrahmen umschlossen sind. Diese dienen den Figuren als Zuhause, bzw. als Schlafstätte, zumindest werden sie hier quasi wie in einem Absurditätenarchiv ausgestellt. Alleine diese schräge Optik, wie beispielsweise der „Väter“ (genial roh und attitüdenfrei: Thomas Huber) mit Glatze und nur mit einer Windel bekleidet darin kauert, ist ein Hingucker. Oder der ob seines Erfolgs als Versicherungsmakler aufgeblähte Jürgen (erst genervt, sich dann aber vollkommen von allem befreiend: Oliver Kraushaar), es grade noch so schafft, sich durch diese Vitrinenanlage zu ziehen. Oder das Gruppenbild: wie ein Panoptikum verlorener Existenzen, auf das das stets das Schöne, Gute wollende Bildungsbürgerpublikum schaut. Neben den Menschen stehen noch zahlreiche Glasbehälter mit Plastikdeckel in diesen Vitrinen, sie enthalten Haushaltsutensilien. Das Leben des verstorbenen Vaters, der in Erinnerung des erfolgreichen Autors „Ich“ (charmant und ausdrucksstark: Vincent Glander) auflebt, findet sich darin wieder.

Alice Buddenberg, die bereits Klucks Stück „Warteraum Zukunft“ 2010 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg zur Uraufführung gebracht hat, stellte sich am Schauspiel Frankfurt bereits mit ihren Inszenierungen von Ibsens „Hedda Gabler“, Goethes „Clavigo“ und Buddenbergs/Hubers „Das Scarlett-O-´Hara-Syndrom“ vor. Entsprechend gut kennt sie die Schauspieler und weiß, was sie ihnen zumuten kann. Und das ist im Fall von Huber und Kraushaar nicht wenig. Huber gibt den Väter, der wohl einer gutbürgerlichen Familie entstammt, denn er kennt Texte von Schlegel und Heine. Doch das Leben hat ihn aus der Bahn geworfen und so ist er ein Haufen Elend, Alkoholiker und einsam in seiner Wohnung dahinvegetierend. Huber spielt ihn schmerzfrei und schonungslos. Der bei Frauen und im Beruf erfolgsverwöhnte Jürgen ist trotz seiner äußeren dicken Hülle, herrlich in sich selbst verliebt. Kraushaar zeigt das ganz plastisch, indem er die Hülle seines dicken Körpers verlässt und sich, zunächst in goldener Badehose, dann ganz im Adamskostüm, mit goldener Farbe veredelt.
Heidi Ecks zeigt sich hier wandelbar als nonchalante Ehebrecherin Rowenta, Viktor Tremmel als der Veteran und Nachbar Heinz. Vincent Glander überzeugt in der großen Rolle des tragischen „Ich“, dem Zweifler und sich selbst Abschaffenden. Die Unsicherheit und Unbequemlichkeit bei der Preisverleihung unter Anwesenheit des Bundespräsidenten, wie die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, dem Leben der Väter, führt bei ihm zu einem kreativen Stau. Trotz redlichen Bemühens, fast schon als wäre er ADS-gestört, kommt er bei seinem ständigen Schreiben auf Boden und Wände nicht über das  1. Kapitel hinaus.

Ein unterhaltsamer Abend mit leidenschaftlichen Darstellern. Dank des Texts von Oliver Kluck, der nach seiner Aussage „nicht für den schnellen Zugriff eignet, gelesen und gesprochen werden muss“, noch genügend Anregungen zum Nachdenken, nicht nur über die Väter. Viel Applaus. Im Gegensatz zur umstrittenen „Tannhäuser“-Inszenierung der Rheinoper Düsseldorf, die nach einer Vorstellung nur noch konzertant gegeben wird, bleibt „Was zu sagen wäre warum“ im Spielplan des Schauspiel Frankfurt. Also Gelegenheit zu prüfen, ob es nun ein „semikritisches Kapitalismusstückchen zur Unterhaltung eines durch und durch verfressenen Publikums“ (Kluck) ist oder mehr.

Markus Gründig, Mai 13


Fegefeuer in Ingolstadt

Schauspiel Frankfurt (Kooperation mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main und der Hessischen Theaterakademie)
Besuchte Vorstellung: 20. April 13

Ingolstadt ist Deutschlands jüngste Großstadt. Im Jahr 1989 wurde die Einwohnerzahl von 100.000 überschritten (derzeit zählt sie rund 128.000 Einwohner). Die an der Donau gelegene kreisfreie Stadt ist vor allem als Sitz und größter Produktionsstandort des Automobilherstellers Audi bekannt. Nicht nur der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer wurde in Ingolstadt geboren, auch die Schriftstellerin Marieluise Fleißer erblickte 1901 dort das Licht der Welt (und starb daselbst 1974). In ihren Werken schrieb sie stets über „etwas zwischen Männern und Frauen“ (Fleißer). Geprägt von ihrer eigenen Lebenserfahrung beschäftigte sie sich mit von der Gesellschaft Ausgestoßenen und davon, seine persönliche Freiheit in einer engen, kleinbürgerlichen Welt mit festen Moralvorstellungen zu behaupten. Dass sie ab den späten 60-iger Jahren verstärkt als Autorin sozialkritischer Volksstücke wahrgenommen wurde (ohne sich selbst als eine solche zu sehen), verdankte sie jungen Stückeschreibern wie Franz Xaver Kroetz, Peter Turrini und Rainer Werner Fassbinder.

Ihr Drama „Fegefeuer in Ingolstadt“ entstand ab 1924 und wurde auf Drängen Bertolt Brechts im Februar 1926 in der „Jungen Bühne“ in Berlin uraufgeführt. Es erzählt die Geschichte der jungen Außenseiter Olga und Roelle. Sie ist schwanger, doch ihr Geliebter Peps hat längst eine neue Freundin und will von ihr, geschweige von dem Kind, nichts wissen. Und Roelle ist ein Sonderling, der durch seine Erziehung, seine Umwelt und seine Selbstkasteiung längst kein gesundes Mittelmaß mehr hat, hin und hergerissen ist, nach Anerkennung giert und von seiner herrschsüchtigen Mutter zum Abgott idealisiert wird. Zudem ist er extrem wasserscheu und äußerlich durch einen großen Kropf am Hals stigmatisiert.

Fegefeuer in Ingolstadt
Schauspiel Frankfurt
Olga (Sidonie von Krosigk), Roelle (Philipp Quest)
© Birgit Hupfeld

Die Neuinszenierung dieses Stücks am Schauspiel Frankfurt weist zwei Besonderheiten auf. Erstens ist es eine Kooperation mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main (HfMDK) und der Hessischen Theaterakademie. Es spielen keine Ensemblemitglieder des Schauspiel Frankfurt, sondern Studenten aus dem dritten Lehrjahr der HfMDK. Zweitens wird es inszeniert von der Schauspielerin Constanze Becker, die hiermit ihr Regiedebüt gibt. Glückliche Umstände für diese seit langem geplante Produktion sind, dass das Schauspiel Frankfurt für seine letztjährige „Medea“-Inszenierung zu den diesjährigen Berliner Theatertreffen eingeladen wurde und Constanze Becker hierin die Titelrolle spielt. Zusätzlich wurde Becker im letzten Monat für diese herausragende schauspielerische Leistung mit dem Gertrud-Eysoldt-Ring geehrt. So ist es kein Wunder, dass sämtliche Vorstellungen ausverkauft sind und nicht nur Hochschulpublikum die Aufführung besucht.

Die sechs Bilder des Stücks spielen in und um Ingolstadt. Das Bühnenbild von Sascha Gross beschränkt sich bei offenen Seitenwänden der Kammerspiele auf vier helle Kirchenbänke (zudem illustrieren eine kreisförmige Neonröhre an einer Säule temporär Roelles Heiligenschein und von der, einer Kanzel gleichenden, Notausgangsempore hängt ein Dürer-Bild mit zum Gebet gefalteten Händen). Die Kostüme (auch Sascha Gross) nehmen lose Bezug zu den 70iger Jahren. Wie bei dem bieder wirkenden Geschwisterpaar Clementine Berotter (zunehmend aufbrausend: Regine Vogel), mit grauem Rock und weißer Jacke und ebensolchen Kniestrümpfen und dem angepassten wie spöttischen Christian Berotter (Markus Gläser), in dreiviertellangen Shorts und ebenfalls mit langen Kniestrümpfen. Frech und herrlich vulgär gibt sich die Hermine Seitz der Sabrina Frank in Hotpants und Trägershirt. Mit kräftiger Stimme wartet der im Auftrag seines Doktor Hähnle nach Roelle suchende Protasius des Damjan Bastistic auf und gibt sich hierbei schmierig und undurchsichtig. Dass Roelle ein seelisches Problem hat, wundert bei der Mutter, die er hat, nicht. Carina Zichner gibt sie mit viel Energie und starker Vehemenz. Den Frauenschwarm und Haudegen Peps zeichnet Stephan Weber glaubwürdig und leidenschaftlich. Die Olga der Sidonie von Krosigk (bekannt durch ihre Rolle der Hexe Bibi Blocksberg im gleichnamigen Film) wandelt sich berührend von anfänglicher Stärke zur Not leidenden, verzweifelten Gefallenen. Den größten Eindruck hinterlässt Philipp Quest in der Rolle des von seiner Umwelt geschundenen Roelle. Nach studentischer Leistung sieht hier nichts mehr aus (er kann allerdings auch schon auf viele Rollen im Film aufbauen). Von den ersten heiteren Momenten, wenn er auf einer Kirchenbank sitzt, über seine Leidenszeit (mit einer zu einem Dornenkranz stilisierten Kopfbinde) bis hin zur finalen Suizidsehnsuchtsszene (den Suizid kann er als Katholik ja nicht verüben und ist deshalb auf Olgas Unterstützung angewiesen), zeigt er eine imposante Präsenz und Feinfühligkeit im Ausgestalten der Rolle.

Constanze Beckers Inszenierungsstil ist temporeich und bedingungslos. Die jungen Darsteller haben viele Möglichkeiten zur Entfaltung, dennoch wirkt die Aufführung als eine geschlossene Ensembleleistung. Insbesondere Fleißers eigenwilliger, komprimierter Sprachstil kommt sehr gut zur Geltung. Die Vorlage wurde geringfügig gekürzt (wie um die Rolle des Vaters) und um eine musikalische Einlage für die Dult-Szene (Jahrmarktszene), bei der Festzeltstimmung mit Ziehharmonika und Gitarre heraufbeschwört wird, erweitert. Eingefügt hat sie auch gleich zu Beginn eine Adam-und-Eva-Szene, die mit dem nackten Paar Olga und Peps auf den Verlust der Unschuld anspielt.

Als Fegefeuer wird das Zwischenreich zwischen Tod und endgültigem Jenseitszustand bezeichnet, ein Ort der Sühne für die Seelen derjenigen, die der göttlichen Gerechtigkeit nicht vollständig Genugtuung geleistet haben (in der Bibel wird das Fegefeuer übrigens gar nicht erwähnt). Für die jungen Menschen in Constanze Beckers Inszenierung ist es die Hölle im Alltag einer gnadenlosen Gesellschaft. Sich nach Anerkennung, Liebe und Wärme sehnend, sind sie isoliert und werden verachtet. Die Wucht, mit der hier gespielt wird, lässt niemanden kalt.

Markus Gründig, April 13


John Gabriel Borkman

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
12. April 13 (Premiere)

Gefangen in der Eiswüste

Als bei der vergangenen Jahrespressekonferenz des Schauspiel Frankfurt im April 2012 bekannt gegeben wurde, dass die Regisseurin Andrea Breth erstmals in Frankfurt inszenieren wird, war schon klar, dass dies ein Saisonhighlight werden wird. Gerhard Stadelmaier (FAZ) nannte Breth in seiner Würdigung zu ihrem 60. Geburtstag im Oktober 2012 als „Die Wunderlampe einer Ausgräberin“, als „Regisseurin der tieferen Blicke“ und als die „große, schwierige, geniale Regisseurin“. Das Frankfurter Publikum konnte sich bereits in 2006 ein Bild von ihrem Arbeitsstil machen. Damals gastierte im Schauspiel Frankfurt ihre Burgtheater-Inszenierung von Albert Ostermaiers „Nach den Klippen“. Am Burgtheater war die Wahl-Wienerin von 1999 bis 2006 als Hausregisseurin tätig und inszeniert dort auch heute noch. Und egal ob Wien, Salzburg oder Berlin, Breth zählt zu den wichtigsten Theaterschaffenden der Gegenwart. Dabei beschränkt sie sich nicht nur auf das Theater, sie ist auch erfolgreich im Bereich der Oper tätig (2012 inszenierte sie in Brüssel Verdis „La Traviata“).

Am Schauspiel Frankfurt erarbeitete Andrea Breth jetzt ein Stück von Henrik Ibsen, aber keines seiner bekannten Stücke wie „Nora“, „Hedda Gabler“, „Gespenster“ oder „Die Wildente“, sondern sein zweitletztes Stück „John Gabriel Borkman“, das am alten Stadttheater Frankfurt am 16. Januar 1897 sogar seine deutschsprachige Erstaufführung hatte (danach schrieb er nur noch den dramatischen Epilog „Wenn wir Toten erwachen“).
Das tief pessimistische Stück zeigt in vier Akten die Geschichte einer ehemals sehr reichen Familie, die durch windige Finanzgeschäfte des Familienoberhauptes, eines Bankdirektors, nicht nur bankrott ist, sondern auch jegliche gesellschaftliche Akzeptanz verloren hat. In Anbetracht heutiger Dreistigkeit und Schmerzlosigkeit von so manchen Wirtschaftsführern und Politikern mutet das von Ibsen beschriebene Ehrverhalten und das von der eigenen Schande tief betroffen sein, fast schon unglaubwürdig an.

John Gabriel Borkman
Schauspiel Frankfurt
Gunhild Borkman (Corinna Kirchhoff), Ella Rentheim (Josefin Platt)
© Birgit Hupfeld

Die Handlung der auf vier Akte aufgeteilten Geschichte spielt an nur einem Winterabend. In und vor einem Familiengut, außerhalb einer (norwegischen) Stadt. Die Kälte wurde von Andrea Breth zum Ausgangspunkt ihres Regieansatzes. Äußerlich ist es die Kälte des Nordens und des langen Winters, doch sie hat auch die Herzen der Protagonisten in Ibsens Stück erfasst und sie einsam und hart gemacht.
Von Eiseskälte kündet bereits das Inszenierungs-Vorabbild des Schauspiel Frankfurt, das Wolfgang Michaels Portrait in eisiger Umgebung zeigt (gäbe es beim Deutschen Theaterpreis „Der Faust“ eine Rubrik für das beste Vorankündigungsbild, Fotografin Birgit Hupfeld hätte sicher sehr gute Chancen für dieses Bild ausgezeichnet zu werden). Bilder von gewaltigen Eislandschaften zieren auch das Programmheft (die sonst üblichen Produktionsfotos fehlen dafür darin gänzlich). Friedvoll und hübsch anmutende Eislandschaften wandeln sich zu ungestüm, hart auseinander gebrochenen Eisschichten, zu dunkel und geheimnisvoll anmutenden Gegenden, bis hin zur die Ewigkeit, den Tod andeutendem letzten Bild, mit schwarzer See und grell weißem Übergang zum Himmel.

Eisig ist es auch im riesigen „Wohnzimmer“, das Bühnenbildnerin Annerre Murschetz gestaltete. Es ist ein Festsaal vergangener glanzvoller Tage. Die Wände sind nackt und leer, die Fensterläden sind geschlossen, kein Sonnenstrahl von außen kann eindringen. Hier fristen die Gefallenen, die sich Schämenden, ein gnadenloses Siechtum in Selbstmitleid und Verachtung der Anderen. Dazu passen die schwarzen Kleider, wie das, das Corinna Kirchhoff in der Rolle der Gunhild Borkman trägt. Mit langen Ärmeln und kurzer Schleppe wird ihre schlanke Figur betont und ihr eine gewisse Todesengel-Attitüde verliehen. Gestorben ist zu diesem Zeitpunkt ja noch keiner, doch als Leben kann man ihr Dasein auch nicht bezeichnen (Kostüme: Moidele Bickel).
Die Wände des Saals wirken wie eingefroren, als würde eine Patina aus Eis auf ihnen liegen. Farbtupfer geben lediglich eine große grüne Couch und zwei Stühle mit grünem Bezug. Nach kurzer Umbaupause dient dieser Raum auch für John Gabriel Borkmans Wohnraum in der ersten Etage, dem alten großen Prunksaal des Rentheimschen Hauses. Hier finden sich Klavier, Schreibtisch, viele Bücher und Papiere, wie von Ibsen vorgegeben.

John Gabriel Borkman
Schauspiel Frankfurt
John Gabriel Borkman (Wolfgang Michael), Gunhild Borkman (Corinna Kirchhoff), Fanny Wilton (Claude De Demo), Erhart Borkman (Christian Erdt), Ella Rentheim (Josefin Platt)
© Birgit Hupfeld

Breths Inszenierung bietet großes Theater, lässt den Darstellern viel Zeit, sodass die Aufführung selbst mit dem stark gekürzten vierten Akt und mit einer Pause 2 ¾-Stunden geht. Doch möchte man keine Minute missen, so fesselt die Inszenierung. In den ersten beiden Akten wird das traurige Dasein von Gunhild und John Gabriel Borkman gezeigt, das durch den unerwarteten Besuch von Gunhilds Zwillingsschwester unerwartet auf den Kopf gestellt wird und alte Wunden aufreißt. Denn nicht schlimm genug ist der gesellschaftliche Skandal mit all seinen Folgen, auch die Verwicklungen untereinander, wer mit wem, warum etc. wird von Ibsen sehr schön erzählt. Im dritten Akt nach der Pause wird es dann lebhafter, schließlich kommt dann auch stärker die Jugend in Form des jungen Erhard und seiner Freundin Fanny ins Spiel.
Breth bleibt sehr nah am Original. Unterschiede gibt es nur im Detail, wie bei der körperlichen Nähe zwischen den Zwillingsschwestern. In dieser Inszenierung stehen sie sich nicht ganz so fern wie bei Ibsen, wo sie sich erstmals ganz um Schluss über dem toten John Gabriel die Hände reichen.
Breth verzichtet auf moderne Bezüge, die sich in einer Bankenstadt wie Frankfurt ja durchaus anböten. Sie zeigt „schlichtes“ Theater, mit großartigen Darstellern. Allen voran mit der erstmals am Schauspiel Frankfurt auftretenden Wahl-Berlinerin Corinna Kirchhoff (Berliner Ensemble), die neben ihren regelmäßigen Engagements am Burgtheater auch viel für das Fernsehen und das Kino arbeitet. Die Figur der vornehmen, steifen und harten Gunhild verkörpert sie mit einer unter die Haut gehenden Intensität. Insbesondere bei ihren großen Ausbrüchen im dritten Akt, wo sie bis an die Grenze der physischen Möglichkeiten geht und sich für die Rolle fast schon aufopfert. Wolfgang Michael gibt die Titelfigur als erfahrungsreichen, gestrauchelten aber immer noch strammen und unerbittlichen Geschäftsmann, auch wenn er 14 Jahre des Leidens, des Ausgegrenztseins hinter sich hat (3 Jahre U-Haft, 5 Jahre Gefängnis und 8 Jahre selbst auferlegte Einsamkeit im inzwischen der Schwägerin und ehemaligen Geliebten gehörenden Landgut). Die bekümmerte, todkranke Ella Rentheim der Josefin Platt besticht durch eine starke Präsenz. Dem als mitten im Dreifrontenkrieg stehender vermeintlicher Problemlöser Erhard Borkman gibt Christian Erdt (u.a. „Krabat“) ein überzeugendes Porträt des Überforderten und sich nach Freiheit Sehnenden. Die Fanny Wilton der Claude De Demo ist ein bunter Paradiesvogel, äußerlich in ihrem plüschigen Überwurf wie auch von ihrer lebendigen und praktischen Lebenseinstellung her. Als Einzige kann sie sich mit den jeweiligen Gegebenheiten arrangieren. Peter Schröder gibt den sparsamen und unter der Missachtung seiner künstlerischen Ader leidenden Wilhelm Foldal mit Hingabe, Wiebke Mollenhauer gefällt als putzig süße Frida Foldal und Corinna Schnabel fügt sich gut als geplagtes Stubenmädchen Lene ein.

Jeder der vier Akte wird mit Musik von Bert Wrede eingeleitet. Die ruhigen Klänge erinnern teilweise an die Anfangstöne von Camille Saint-Saëns´ „Dance macabre“ (das im Drama erwähnt wird). Für den finalen vierten Akt wurde sogar eine Außenwelt voll Eisbergen auf die Bühne gestellt. Allerdings hat Breth diesen vierten Akt extrem verkürzt bzw. quasi gestrichen. Gesprochen wird in diesem Akt nicht ein Wort, wie auch kein Foldal mehr erscheint. Im Halbdunkel sind nur die drei Hauptprotagonisten (Ehepaar Borkman und Ella Rentheim) als Schattenbild zu sehen, wie sie qualvoll im Eis stehen bzw. liegen. Fünf eindrucksvolle Minuten der Einsamkeit, der Reflexion, des Stillstandes, des Todes.

Starker und langer Applaus und definitiv ein neues Highlight am Schauspiel Frankfurt.

Markus Gründig, April 13


Kiebich und Dutz

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
9. März 13 (Premiere)

Wenn nur zwei Schauspieler im großen Schauspielhaus Kinder ab fünf Jahren für über eine Stunde fesseln wollen, müssen sie einiges tun. Der lautstarke und lang anhaltende Zuspruch am Ende der Premiere von „Kiebich und Dutz“ zeigte, dass Isaak Dentler und Sascha Nathan alles richtig gemacht haben. Kleine wie große Zuschauer jubelten ob der turbulenten wie einnehmenden Aufführung. Das Stück des Frankfurter Cartoonisten und Autoren Friedrich Karl Waechter hatte im Jahr 1979 seine Uraufführung im Schauspiel Frankfurt (es inszenierte Karl Waechter mit Brigitte Landes, Heiner Goebbels schrieb die Musik).
Die aktuelle Inszenierung stammt von Lily Sykes, die zuletzt in der Box Georges Simenon „Betty“ sehr sinnlich dramatisierte. Dazu ist die Geschichte von „Kiebich und Dutz“ schon ein gewisser Kontrast.
Die Vielschichtigkeit des Stücks wird durch kurze Lieder, sowie von Geräuschen und der Musik von Olaf Pyras (am Marimbaphon und Mischpult) verstärkt. Das Stück wird leicht gekürzt in amüsanten 70 Minuten gespielt.

Kiebich und Dutz
Schauspiel Frankfurt
Dutz (Sascha Nathan), Kiebich (Isaak Dentler)
© Birgit Hupfeld

Zusammen mit Ausstatterin Nele Wangorsch wird die Geschichte des in seiner begrenzten Welt lebenden Dutz nicht nur turbulent, sondern auch visuell vermittelnd und äußerst unterhaltsam präsentiert. Damit das Spiel nicht in der Tiefe der riesigen Schauspielbühne zu einer abstrakten Angelegenheit verkommt, wurde es gleich ganz in den Zuschauerraum verlegt. Dies kostet zwar nicht wenige Sitzplätze (die deshalb nicht genutzt werden können), aber von der gewonnenen Nähe profitieren alle Zuschauer. Vor dem herabgelassenen Eisernen Vorhang steht ein großes Podest als Bühne, auf dem wiederum zunächst eine Wand und eine kaum zu erkennende kleine Box stehen. Von der rechten Eingangstür kommt im Bär-Kostüm der „Durchblicker“ (Olaf Pyras), der die kleine Box findet und sie mit zu seinem seitlich positionierten Musikpult nimmt. „In dieser Box lebt Kiebich“ sagt er und erklärt, dass dieser nur von Comics lebt, statt nach draußen zu gehen und die Welt zu erkunden. Ein Comic (F.K. Waechters „Rakis Reise in die Welt“ wird per Video vorgestellt, die Geschichte des mutigen Raki, der dem grässlichen Monster Krallunke seinen Zauberzahn entreißt, die zu Tieren verwandelten Menschen zurückverwandelt und dann auch noch von einem Mädchen geküsst wird). Lautstark klappt die Wand auf der Spielfläche nach vorne und seitlich auf und da ist dann auch das bunte und kuschelige Zuhause von Kiebich, in dessen Welt durch ein Schlupfloch Dutz (Sascha Nathan) hereinpurzelt. Dentler und Nathan spielen nicht nur mit großer Hingabe und viel körperlichem Einsatz, sondern auch mit einer unglaublichen Leichtigkeit. Es gibt viele spaßige Szenen, etwa wenn Dutz auf dem Boden liegend mit seinen Beinen „verhandelt“ oder Kiebich in einem überdimensionalen Hamburger nicht nur Augen und Ohren, sondern gleich den ganzen Kopf verliert. Gemeinsam meistern Kiebich und Dutz Gefahren und ziehen am Ende gut gelaunt singend davon, hinaus in die spannende weite Welt…

Markus Gründig, März 13


Nora

Staatstheater Mainz
Besuchte Vorstellung:
2. März 13 (Premiere)

Ibsens Emanzipationsgeschichte von 1879 war ein gesellschaftspolitischer Meilenstein. Verlässt am Ende doch eine dreifache Mutter Mann und Kinder um ihren eigenen Weg zu finden. Da auch wir in der heutigen Zeit nicht vor Irrwegen geschützt sind, hat das Stück noch immer einen hohen Aktualitätsgehalt. Das sieht auch Matthias Fontheim, Intendant des Staatstheater Mainz, so. Er zeigt das Kammerspiel im großen Haus. Ganz zeitgemäß, mit heutigen Texten und untermalt mit heutiger Musik.
Auch im Bühnenbild von Michael Rütz gibt es keinerlei verstaubte Altertümlichkeiten. Es greift nicht nur den Puppenhauscharakter auf, in dem sich die titelgebende Protagonistin befindet, mit seinem modernen Einrichtungsstil könnte es auch glatt als Ikea-Musterwohnung durchgehen. Es zeigt einen großzügigen, offenen Wohnbereich mit großem Esstisch in der Mitte, Bücherwand und Couch-/TV-Ecke an den Seiten. Im Hintergrund nicht nur eine Küchenzeile, sondern auch tiefer gelegte Türen, für Helmers Zimmer und ein WC. Eine in der Mitte platzierte Treppe führt in eine Galerie, von der aus die weiteren Zimmer (Kinder- und Schlafzimmer sowie Bad) zugänglich sind. Die zu Beginn überall herumliegenden Gegenstände zeigen deutlich, hier lebt eine Familie, das ist kein toter Raum.

Und in der Regie von Fontheim geben sich auch alle sehr lebendig und vergnüglich. Doch unter dem scheinbaren äußeren Glück brodelt es ordentlich. Welche Art von Ehe wird da geführt, wo alle nur ihre Rollen spielen und eine wirkliche Kommunikation zwischen dem Paar nicht stattfindet. Hier ist es keine eingeschlichene Routine, sondern von Anfang an so gewesen. Was für Nora früher der Vater war, ist nun ihr Mann: Vorbild, Gebieter und Geldgeber. Sie selbst ist in all den Jahren Kind geblieben, was kann sie also schon groß ihren Kindern mitgeben?
Pascale Pfeuti gibt die Bankdirektorsgattin in spe vielschichtig, von liebevoll, naiv verspielt, verstört bis hin zur exzessiven Tänzerin und nah am Nervenzusammenbruch stehende Verzweifelte. Ihren ersten wirklich großen Moment hat sie mit der Tanzszene, wo sie freilich keinen süditalienischen Tarantella-Tanz vorführt, sondern mit starkem körperlichen Einsatz eine heiße Revue-Nummer im schwarzen Korsettkleid und in Strapsen (Kostüme Valerie Hirschmann) zum Disco-Funk-Song „Lady Marmalade“ hinlegt. Ekstatisch und wild bewegt sie sich von den Tragstangen der Treppenanlage hin zum Tisch, wirft alles was darauf liegt herunter und präsentiert sich der ganzen Familie als im Tanz um ihr Leben kämpfende Frau. Unbewusst deutet Nora damit schon auf das hin, was ihr später (im 3. Akt) klar wird: In gewisser Weise prostituiert sie sich. Später gibt Pfeuti ein berührendes Bild als langsam reifende Frau, der bewusst wird, was in ihrem Leben so alles nicht stimmt. Große Momente hat auch Stefan Walz als Thorvald Helmer, dem egozentrischen Ehemann Noras. Insbesondere im dritten Akt, im heftigen Streit mit Nora.
Marcus Mislin gibt den todkranken aber nicht minder lebensfrohen Hausfreund Dr. Rank mit viel guter Laune. Karoline Reinke ist eine zuverlässige Freundin Christine Linde. Zlatko Maltar gibt den um seine gesellschaftliche Rehabilitierung kämpfenden Lars Krogstad als armer Tropf, den die Umstände zu dem gemacht haben, der er heute ist.

Fontheim vermittelt das Stück in knapp drei Stunden (inklusive einer Pause) berührend wie lebendig und vor allem erzählt er die Geschichte authentisch nachvollziehbar. Einhelliger Zuspruch.

Markus Gründig, März 13


Master Class

English Theatre Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
1. März 13 (Premiere)

“Rise and find your place in the world”

“Jahrhundertsopranistin“, “beste Sopranistin der Welt”, „Primadonna assoluta“ und „Märtyrerin des Belcanto“, die Liste der Titel über die 1923 geborene und bereits 1977 mit noch nicht einmal 54 Jahren gestorbenen Maria Callas ist lang. Sie ist eine Legende (und für manche auch ein Mythos). Auch ohne die heutigen medialen Mittel war sie bereits zu ihrer Zeit ein weltweit gefeierter Megastar. Dabei dauerte ihre eigentliche Karriere nur gute 13 Jahre (in der Spielzeit 1953/1954 fastete sie sich von 92 auf 64 Kilo herunter, für manch kritischen Beobachter markiert dies bereits den Beginn ihrer späteren Stimmkrise). Ein großer Fan der Callas ist der US-amerikanische Dramatiker Terrence Mc Nally (*. 1939), der u.a. auch das Buch zum Musical „The Full Monty“ geschrieben hat, das in der Saison 2009/2010 im English Theatre Frankfurt zu sehen war. Er besuchte Anfang der 70er Jahre die öffentlichen „Meisterklassen“, die Maria Callas in der renommierten New Yorker Juilliard School of Music gegeben hat. Beeindruckt von ihrer Persönlichkeit schrieb er Jahre später dann das Stück „Master Class“, das Erlebnisse und Eindrücke dieser Stunden wiedergibt. 1995 am Broadway uraufgeführt, gewann es in 1996 drei Tony Awards (darunter als „Best Play“) und wurde in der Kategorie „Outstanding New Play“ mit dem Drama Desk Award ausgezeichnet, also die bedeutendsten US-Theaterpreise.

Master Class
English Theatre Frankfurt
Maria Callas (Karen Mann)
© Anna Meuer

Im English Theatre Frankfurt ist die Bühne für dieses Stück schlicht gehalten. Dies liegt daran, dass die Handlung einzig auf dem Podium eines großen Schulsaals spielt. Auf dem Podium stehen lediglich links ein Flügel und rechts ein Hocker nebst Tisch für die Callas. In der Mitte ist ausreichend Platz, hier präsentieren sich die Gesangsschüler. Im Hintergrund hängen dünne Vorhänge, die in den unterschiedlichsten Farben angestrahlt werden und dadurch intime Momente verstärken (Lichtdesign: Ben Cracknell).

Dreh- und Angelpunkt des Stücks ist Maria Callas, auch wenn es eigentlich um die Schüler geht, die zu ihr kommen. Als Callas besticht und bezaubert die englische Schauspielerin Karen Mann. Mit starker Präsenz, starkem Ausdruck und brennender Leidenschaft für die Musik, für die Welt der Oper vermittelt sie eine Diva, die schon ihre kleinen Eigenheiten hat (die echte Maria Callas soll ja auch nicht gerade ein selbstloser Kommunikationsprofi gewesen sein), aber doch gerne unterrichtet. Dabei kommt die Callas der Mann unter der Regie von Hannah Chissick sehr menschlich rüber. Schüler, wie wohl teilweise auch Kollegen und selbst das Publikum, betitelt sie öfters mit „Feinde“. Ohne sie und deren Applaus kann sie aber nun einmal auch nicht. Und Karen Mann ist eine Vollblutdarstellerin. Mit eindringlicher Gestik und Mimik vermittelt sie Callas’ Schmerz, wenn sie sieht, wie unvorbereitet und sorglos der Sängernachwuchs zu ihren Stunden erscheint (was sie sich früher nie erlaubt hat). Sei es das falsche Outfit in einem zu kurzen Rock (sodass die Personen in den vorderen Reihen zu viel Einblick nehmen könnten) oder ein overdressing für die Masterclass im zu schicken Ballkleid („Wir sind nicht bei einem Cinderella-Ball“). Es ihr recht zu machen fällt keinem leicht. Dabei sagt sie selbst, dass sie zwar bellt, aber nicht beißt. Ihr Credo an die Schüler ist, eine Sängerpersönlichkeit zu sein (“It’s not a opera, its your life“). Singen können schließlich alle. Doch es gehört viel mehr dazu und es beginnt schon mit dem richtigen Auftreten und dem Zeigen von Selbstbewusstsein. Ihre Empfehlungen an die Schüler sind dann auch eher allgemeiner Natur (wie „Rise and find your place in the world“, „Feel“, „Be“ und „you need a look“).
Das Tragische ist, dass sich an der ungenügenden Vorbereitung (insbesondere über den Hintergrund zum gesungenen Text) bis heute nicht viel geändert hat. Um den Sängernachwuchs ist es nicht gut bestellt. Davon berichtete auch kürzlich Bernd Loebe (Intendant der Oper Frankfurt) bei seinem Gespräch mit Anja Silja. Ohne ausländische Sänger wäre es beispielsweise kaum noch möglich, einen Opernchor im benötigten Umfang zu führen. Sängerpersönlichkeiten sind auch heute rar gesät.

In Callas’ Unterricht kommen die Schüler oftmals nicht einmal bis zum ersten Ton. So wie die Sophie de Palma der Jennifer Rhodes, die gerne Amiras große Arie „As non credea mirarti“ aus Bellinis „La Sonnambula“ singen würde, aber gar nicht weiß, was sie da eigentlich singt. Dabei ist für Callas alles in der Musik ausgedrückt („It’s all in the music“).

Ciarán O’Leary gibt mit der Rolle des coolen Tenors Tony Candolino das Klischeebild eines solchen gut ab. An Selbstbewusstsein mangelt es dem, sich in blauer Hose und orange-schwarzem Blümchenhemd (Kostüme: Melanie Schöberl) Präsentierenden, nicht, im Gegenteil. Mit Schmiss präsentiert er Cavaradossis „Recondita armonia“ aus Giaccomo Puccinis „Tosca“ und findet schließlich sogar einen gewissen Zugang zur Callas und bekommt sein gewünschtes „Feedback“.

Das gelingt der an sich ganz gut vorbereiteten Sopranistin Sharon Graham im glanzvollen Ballkleid zunächst nicht. Von Callas direkter Kritik tief getroffen, bricht sie die Unterrichtseinheit ab, kommt aber später dann doch wieder zurück. Robine Landi gibt sie mit innerlicher Größe und präsentiert die Briefszene aus Giuseppe Verdis „Macbeth“ („Nel di della vittoria“). Sie ist die einzige, die der Callas auch Kritik entgegenbringt (und am Ende wutentbrannt davon stürmt). Musikalisch begleitet werden die Gesangsschüler von Manny Weinstock. David Randall gibt ihn, viel Ruhe ausstrahlend, mit souveränem Lächeln. Keinerlei Zugang zu dem was hier geschieht hat der Bühnenarbeiter, den Oliver Meredith passend mit stoischem Gleichmut gibt.

In zwei langen Monologen der Callas erfährt der Zuschauer auch Details aus Callas’ Leben, insbesondere des Liebeslebens (aus ihrer Ehe mit dem italienischen Unternehmer Giovanni Battista Meneghini und über die Affäre mit dem griechischen Öl-Milliardär Aristoteles Onassis), wie sie aber auch gerne jede Gelegenheit nutzt, aus ihrem großen Erfahrungsschatz zu berichten. Das geschieht stets mit viel Charme, so dass man es bedauert, dass der Abend nach fast 2 1/2 –Stunden vorüber ist. Einsam, aber stark verlässt sie das Auditorium. Großer Applaus.

Das von Maureen Engelhardt und Igor Trkulja gut aufgemachte Programmheft bietet viele Hintergrundinfos über die Callas. Schirmherrin dieser Produktion ist die gebürtige Südafrikanerin Elza van den Heever, die nicht nur von Kindheit an ein enges Verhältnis zu dem Stück hat, sondern an der New Yorker Met auch die Bekanntschaft mit Terrence McNally machen durfte. Zur Premiere wurde sie, wie auch die Konsule von Ägypten, Indien, Japan und wie US-Generalkonsul Kevin C. Milas, von Intendant Daniel Nicolai besonders herzlich begrüßt. Sie berichtete zudem kurz von Ihrem Verhältnis zu dem Stück. Schon in wenigen Wochen wird die Sopranistin in der Rolle der Elektra in der Neuproduktion von Mozart „Idomeneo“ in der Oper Frankfurt zu erleben sein.

Markus Gründig, März 13


Meine dicke Freundin

Bäppis Theatrallalla, Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
27. Februar 13

Im vergangenen Sommer präsentierte Thomas Bäppler-Wolf in seinem kleinen Theater im Frankfurter Nordend erstmals die Theatrallalla Sommerwochen. In Kooperation mit Die Schauspieler e.V. wurden die Stücke „Ladies Night“ und „Golden Girls“ aufgeführt. Im Jahr 2013 startet Thomas Bäppler-Wolf theatermäßig nun voll durch. Das angekündigte Ende des Frankfurter Volkstheater vor Augen und das unerwartete plötzliche Aus für das 2014 geplante Theater im Paradieshof (das für Michael Quasts Fliegende Volksbühne vorgesehen war), hebt Bäppler-Wolfs Engagement für volksnahes Theater auf eine besondere Stufe. Neben seinen Wochenendshows, bei denen er als Diva Bäppi la Belle auftritt, zeigt sein Haus jetzt ein ausgesprochenes Herz für das Mundarttheater und produziert nun selbst Theaterstücke. Frei nach Wolfgang Kaus’ Buchtitel „Menschen gibt’s, all sin se anners“ reiht sich das Theatrallalla als ein etwas anderes Theater in die bunte und starke Theatervielfalt Frankfurts ein (Bäppler-Wolf: „Theater gibt’s, all sin se anners“).

Meine dicke Freundin
Bäppis Theatrallalla, Frankfurt
Johannes (Iris Reinhardt Hassenzah), Vicky (Verena Wüstkamp), Herbert (Thomas Bäppler-Wolf)
© Bäppis Theatrallalla

Als Auftakt gibt es an ausgewählten Tagen noch bis zum 28. März Charles Laurences “ Meine dicke Freundin“ unter der Regie von Corinna Maria Lechler. Das Stück hatte vor 40 Jahren seine Uraufführung, von seinem Charme und Witz hat es indes nichts verloren. Zumindest nicht in der lebhaften Inszenierung von Corinna Maria Lechler. Die gelernte Schauspielerin ist auch Lach-Yoga und Stressmanagement-Trainerin. Vielleicht liegt es daran, dass hier vom Publikum viel und herzlich gelacht wird. Wobei auch Hausherr Thomas Bäppler-Wolf einen großen Anteil daran hat. Er verkörpert, mit langem blonden Zopf wie ein Altrocker, den besitzergreifenden Herbert, einen schwulen Spötter. Hier kann er seine große Erfahrung als „Bäppi la Belle“ eloquent einbringen, denn Bäppler-Wolf ist alles andere als auf den Mund gefallen. Hinter seinen erbarmungslos direkten und bissigen Kommentaren zu seinen Mitbewohnern (die er selbst als „Schocktherapie“ bezeichnet), verbirgt sich unter rauer Schale aber dann doch ein weicher Kern, der auch gerne Musicalsongs vor sich hinträllert.
Verena Wüstkamp gibt die Vicky, die Besitzerin der hypothekenfreien Wohnung im Frankfurter Nordend, in deren Wohnküche das Stück spielt. Von der „gut gepolsterten“ Frau im unvorteilhaften blauen Kleid, die Komplimenten grundsätzlich misstraut, vermittelt sie glaubhaft den durch harte Diät und viel Training geschafften Wandel zur schlanken Frau („Chiwawa“) mit gestärktem Selbstvertrauen. Iris Reinhardt Hassenzahl gibt mit Ziegenbärtchen und Schweitzer Akzent den einsiedlerischen Mitbewohner Johannes, dem es an so viel realen Lebenserfahrungen fehlt und der gerne ein erfolgreicher Romanautor wäre. Er flüchtet sich nur zu gerne in die Küche, um der Hausgemeinschaft eine Poularde zu kochen. Thomas Koob gibt den dynamischen, liebesbesessenen Tom.

Es gibt zwar kein Liebes Happy-End, aber ein schönes Plädoyer, zu sich zu stehen, auch oder gerade weil man von der Norm abweicht. Und wer tut das auf die eine oder andere Weise nicht?!

Als nächste Eigenproduktion des Theatrallalla folgt ab 16. April 2013 Lars Lienens „Zartbitter“ unter der Regie von Steffen Wilhelm.

Markus Gründig, Februar 13


Eine Teufeliade

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
26. Februar 13 (Premiere)

Im Dezember 2012 hatte „Der Meister und Margarita“ in der hervorragenden Umsetzung von Markus Bothe Premiere im Großen Haus des Schauspiel Frankfurt. Das Stück ist eine Dramatisierung des gleichnamigen Romans von Michail Bulgakow. Eine Geschichte über ein Liebespaar, aber noch viel mehr: eine beißende Zeitsatire, eine Parabel über das Wesen von Gut und Böse, über die Kunst und über Unterdrückung. Viele Teile davon finden sich auch in einer weiteren Dramatisierung Bulgakows, die jetzt Premiere in der Box des Schauspiel Frankfurt hatte: „Eine Teufeliade“. Erzählt wird die Geschichte des Genossen Schriftführer Warfolomej Petrowitsch Korotkow, der seine Brieftasche samt Ausweis verloren hat und nun an der russischen Bürokratie zu verzweifeln droht, weil es ihm unmöglich ist, ohne nachweisbaren Namen einen neuen Ausweis zu beantragen. Sein eigentliches Problem, weshalb er auch ein ominöses Beschwerdezimmer aufsucht, ist, dass er wegen „unglaublich schlampiger Einstellung zu seinen Obliegenheiten, die in wichtigen Geschäftspapieren einen schreienden Wirrwarr erzeugte…“ entlassen wurde.
Die Bühne von Victoria Philipp deutet ein kleines, dunkles Büro an, mit kleinem Schreibtisch und einer alten Schreibmaschine. Durch Einsatz von zwei freistehenden Scheinwerfern wird eine intime Stimmung hergestellt.

Eine Teufeliade
Schauspiel Frankfurt
Mario Fuchs, Matthias Becker
© Karolin Back

Mathias Becker und Mario Fuchs, beide Mitglieder des Schauspiel STUDIO Frankfurt, führten innerhalb einer Stunde mit großem Einsatz und intensiven Spiel durch die Wirrnisse von bürokratischer Engstirnigkeit und absurden, grotesk anmutenden Erlebnissen. Dabei wird die Figur des Korotkow von beiden gespielt. Zusammen, wenn einer des anderen Echo ist, und getrennt, wenn der andere eine Nebenfigur der Erzählung spielt. Bulgakow stupende Farce wird unter der Regie von Laura Linnenbaum von beiden ernsthaft und amüsant präsentiert. Viele Lacher gab es im Publikum (auch von den anwesenden „großen“ Kollegen Sascha Nathan, Viktor Tremmel und Valery Tscheplanowa).
Die Story bietet mit der Episode der Verwechslung des Genossen Unterhoser und dem auf einem Abreißzettel notierten Befehl, die Stenotypistinnen mit Armeeunterhosen zu bekleiden, schon Amüsement. Hierzu führt der Korotkow des Mario Fuchs in seinem braunen Anzug und roten Genossenstrümpfen (Kostüme Michaela Kratzer) einen nahezu ekstatischen Freudentanz auf. Amüsierend ist aber auch die ruhige Szene, wenn sich die elektrischen Leitungen als sinnlos erweisen, die Steckdosen zu Fernbedienungen mutieren und es dann plötzlich dunkel wird. Seine statt Geld erhaltenen Streichhölzer als Lohn (bezahlt wurde er mit Produkten aus der laufenden Produktion), kann Korotkow nur schlecht zünden, scheinen sie doch alle aus einer Fehlproduktionscharge zu stammen (erst recht lassen sie sich nicht verkaufen). Einfallsreich auch das Spiel Mathias Beckers mit einer Schreibtischlampe, die zum kleinen, aber mächtigen Mann mutiert. Am Ende scheint alles ein böse Traum gewesen zu sein. Die Tür geht auf und eine Frau ruft Korotkow zur Auszahlung seines Lohns.
Großer Zuspruch.

Markus Gründig, Februar 13


Black is Fair ~ Othello and the stranger in Shakespeare

English Theatre Frankfurt, DramaClub
Besuchte Vorstellung:
19. Februar 13 (Premiere)

Am vergangenen Sonntag war die letzte Vorstellung des Musicals „Sweet Charity“ im English Theatre Frankfurt, Samstag in einer Woche wird bereits das nächste Stück, Terrence McNallys „Master Class“, Premiere feiern. Dazwischen muss das Publikum aber nicht auf englischsprachiges Theater verzichten. In der Umbau- und Endprobenphase zeigt der von Michael Gonszar geleitete DramaClub des English Theatre Frankfurt eine so genannte „Bar Fringe“-Produktion, also ein Stück das zusätzlich zum Saisonprogramm gegeben wird.
In diesem Fall läuft es nicht im Theatersaal (wie die letzte DramaClub-Produktion „The Crucible), sondern in James The Bar, der angegliederten Bar des Hauses. Rund 60 Personen finden hier Platz.
Wie der Titel schon vermuten lässt, ist es keine klassische Inszenierung, die Shakespeares Text von Anfang bis Ende erzählt. Sie ist vielmehr eine Einladung an das Publikum, gemeinsam mit den Darstellern und dem Regieteam in die Welt von Shakespeare und seinem Theaterspiel einzutauchen und quasi eine offene Probe zu erleben. So werden nicht nur immer wieder Stichworte gegeben, weil bei einzelnen Darstellern der Text (scheinbar) noch nicht richtig sitzt, auch für die Szene wichtige Wörter werden benannt, selbst ein Textbuch liegt auf der Bühne. Die Darsteller stellen sich mit ihrem richtigen Namen vor und sagen kurz etwas zu der Bühnenfigur, die sie gleich spielen werden. Regisseur Michael Gonszar legt unmittelbar vor Beginn ein Kleid seitlich hinter die Bühne. Er unterbricht, wie auch Co-Regisseurin Lea Dunbar (gibt auch die Emilia), auch immer wieder das Spiel, um einzelne Szenen kurz zu erläutern und/oder sie wiederholen zu lassen. Dabei wird das Publikum direkt angesprochen. Ein zentraler Ausgangspunkt für seine Umsetzung war der Theaterfilm „Stage Beauty“ von Richard Eyre, aus dem Ausschnitte gezeigt werden. Er spielt in der Londoner Theaterwelt zur Mitte des 17. Jahrhunderts, also etwa zur gleichen Zeit, wie „Othello“. Auch Ausschnitte aus Verdis gleichnamiger Vertonung des Dramas werden eingespielt (die Oper wird übrigens am kommenden Samstag vis-a-vis an der Oper Frankfurt wiederaufgenommen).

Black is Fair ~ Othello and the stranger in Shakespeare
English Theatre Frankfurt, DramaClub
Desdemona (Maya Pinzolas), Othello (James Morgan)
© Anna Meuer

Auf der kleinen Spielfläche der Bühne in der James Bar dient ein Steg und ein großer goldener Rahmen als Spielfläche. Um dessen Unterseite wurde ein rotes Gestell eines Reifrocks platziert, womit das Thema Verführung lose angedeutet wird. An den Seiten hängen historische Uniformjacken, Hinweise auf die Handlungszeit.
In der Titelfigur spielt sich James Morgan in die Rolle seines Lebens, mit beeindruckender Hingabe und intensiven akkuraten Ausdruck, selbst bei den kleinsten Bewegungen, Blicken und Aktionen. Dabei ist er kein triebhafter Außenseiter (das Gesicht ist nur dezent geschminkt), zu der die Figur des Othello manchmal gemacht wird. Für Shakespeare und in der damaligen Zeit war es wohl an sich kein Problem, wenn ein Feldherr farbig war. Jedenfalls finden sich im Werk keine Hinweise auf rassistische Bemerkungen. Morgan gibt ihn ganz als tragische Figur, als einem, an dem die Eifersucht nagt und er schließlich von ihr so beherrscht wird, das er seine geliebte Desdemona ermordet (was hier sehr körperlich gezeigt wird, obwohl die beiden in diesem Moment nicht beisammen sind).
Den großen Widersacher, den Dämon Jago spielt Mario Mateluna. In machohafter Lederjacke und eleganter Lederweste intrigiert er als charmanter Wolf im Schafspelz. Maya Pinzolas gibt mit blonder Perücke und kurzem Höschen in schwarzen Netzstrumpfhosen eine laszive Desdemona, Mike Marklove einen noblen Cassio und Michael Ennis einen kämpferischen Roderigo. Jürgen Stockhausen erfüllt gleich drei Rollen, den Vater Brabantio, den Kommandanten Montano und Ludovico, den Senator aus Venedig. Lüstern gibt sich die Bianca der Melanie Schöberl, mit rötlichen Haaren und pink-lilafarbenen Federrock. Sie ist auch für die Kostüme dieser Produktion verantwortlich.

Die Inszenierung von Michael Gonszar ist in erster Linie für am Theaterspiel interessierte konzipiert. Durch den scheinbar unfertigen Zustand der Produktion wird der Zuschauer zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Inhalt und der Umsetzung konfrontiert. Dazu verwendet Gonszar geschickt moderne Stilmittel wie live Video, bei dem Nahaufnahmen großflächig projiziert werden.
Kurzer starker Beifall nach immerhin 2 ¾ Stunden (inkl. einer Pause), ganz in englischer Tradition. Alle geplanten Vorstellungen sind bereits Wochen vor der Premiere ausverkauft gewesen. Der English Theatre DramaClub hat daher zwei Zusatzvorstellungen im März 13 aufgenommen (So. 10.03., 11:30Uhr und Montag, 18.03., 19:30Uhr).

Markus Gründig, Februar 13


Der talentierte Mr. Ripley

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
13. Februar 13

Jeden Monat einen dicken Scheck und ausschließlich die süßen Seiten des Lebens genießen, davon träumen viele. Patricia Highsmith hat bereits im Jahr 1955, als sich Europa so langsam von den Folgen des 2. Weltkrieges erholt hatte und in Deutschland das Wirtschaftswunder begann, eine Romanfigur geschaffen, der dieses Glück vergönnt war. Tom Ripley heißt bei ihr der Glückspilz, der seinen Erfolg freilich mit krimineller Energie erworben hat.
Das Besondere an ihm ist, das er als Mensch vollkommen durchschnittlich ist. Also kein Verbrecher und Mörder, wie man sich ihn gemeinhin vorstellt, sondern einer wie du und ich.
Neben diversen Verfilmungen des Stoffes gibt es auch immer wieder Dramatisierungen dieses Romans. Für das Schauspiel Frankfurt hat Bastian Kraft den „talentierten Mr. Ripley“ erarbeitet, also nicht nur als Urherber einer Bühnenfassung, sondern auch als Regisseur.
Das Stück entstand in Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin, wird demnächst auch dort zu sehen sein. Interessanter Punkt hierbei: Schauspieler aus beiden Häusern sind bei dieser Produktion beteiligt.

Der talentierte Mr. Ripley
Schauspiel Frankfurt
Tom Ripley (Christoph Pütthoff)
© Birgit Hupfeld

Wie auch schon bei Krafts „Die Traumnovelle“-Inszenierung vom Dezember 2011 ist Ben Baur auch bei „Der talentierte Mr. Ripley“ für die Bühne (und die Kostüme) zuständig. Vom Land, wo die Zitronen blühen, ist auf seiner Bühne rein gar nichts zu sehen, dabei findet die Handlung größtenteils im sonnigen Italien statt. Im fiktiven Dorf Mongibello südlich von Neapel, in San Remo, Rom und Venedig. Statt Strand, Sonne oder blühenden Zitronen ist die Bühne weitestgehend schwarz gehalten. Schon der Vorhang ist schwarz. Seine Borde aus weißen Fäden, die mit silbernen Fäden umwickelt sind, weist im Vorfeld auf das Luxusleben der Figuren hin. Wobei die Bühne durchaus klug gestaltet wurde. Ein großer Rahmen nimmt beherrschend den Raum ein. Er ist gerade so breit, dass man sich auf ihm bewegen kann. Somit bewegt sich Tom Ripley stets auf einem schmalen Grad, mit der Gefahr jederzeit abzustürzen. Die Innenseiten leuchten wechselnd in Weiß oder farbig. Auf den oberen Rand werden kurze Orts- und Zeitangaben projiziert.
Rechts und links befinden sich jeweils Schminktische, an dem sich die Darsteller in andere Figuren verwandeln. Im Hintergrund befindet sich eine Sitzreihe Kinosessel, quasi als Hommage an die Verfilmung des Stoffes.

Die fünf Darsteller sind fast die ganze Zeit über auf der Bühne. Sprechen sie nicht gerade aktiv, stehen oder sitzen sie als stumme Beobachter im Hintergrund, sind mahnende und kontrollierende Instanz des Tom Ripley. Diesen gibt mit Bravour Christoph Pütthoff. Seine Wandlung vom New Yorker Steuerbetrüger zum mehrfachen Mörder vollzieht sich langsam und unauffällig, ganz so, wie es Tom Ripleys Natur ist. In Grenzsituationen, wenn er droht, seine Kontrolle über sich zu verlieren oder entdeckt zu werden, ist er ganz Mensch, schreit und hat Panik. Doch meistens ist er ein großer Charmeur, selbst wenn er nur in Unterhose da steht. Als sein stummes Double agiert im Hintergrund Marcus Hosch. Er trägt den gleichen Anzug wie Ripley und filmt ihm freundlich lächelnd, dokumentiert seine Äußerungen, die großflächig auf die Bühnenrückwand projiziert werden, für ein imaginäres Tagebuch.
Maren Eggert; Daniel Hoevels und Stefan Schießleder spielen jeweils mehrere Rollen. Maren Eggert ist eine geheimnisvolle Clubsängerin, die Barklassiker präsentiert (Musik: Björn SC Deigner), gibt aber auch die in Dickie verliebte Marge. Daniel Hoevels spielt sowohl Greenleaf senior und junior. Als Senior Herbert entsprechend aristokratisch, als Junior Dickie passend locker. Schillernde Figuren gibt Stefan Schießleder, als Freddy im bunt gestreiften Jackett und als Polizeiermittler Roverini. Dazu gibt er einen coolen und verwegenen Privatdetektiv McCarron.

Regisseur Bastian Kraft vermittelt die Story über 100 Minuten in vielen kurzen Sequenzen. Dabei hält er sich streng an die literarische Vorlage, sodass trotz aller Abstraktion der Szenerie, sehr viele Stellen des Romans wiederzuerkennen sind. Auch bei der besuchten Repertoirevorstellung viel Applaus.

Markus Gründig, Februar 13


Woyzeck. Als ging die Welt in Feuer auf

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
8. Februar 13 (Premiere)

Poetische Spurensuche im Untersuchungsfall Woyzeck

Mit Plastikplanen verhangene Laborschränke stehen in einem Halbkreis auf der Bühne, die in ein fahles Licht getaucht ist und deren schwarze Mauern keine Illusion einer besseren Welt vorgeben. Wenn die Zuschauer auf ihre Plätze gehen, sind die Darsteller bereits auf der Bühne. Dort bewegen sie sich wie Passanten auf der Straße, bleiben stehen, laufen weiter, alleine und in kleinen Gruppen. Und schauen auch immer wieder interessiert und irritiert hoch zum Publikum, das über den Beginn hinaus einige Zeit im Licht sitzt. Wer wird hier wohl Gegenstand einer Untersuchung werden? Die Darsteller oder das Publikum?

Regisseur Christopher Rüping (inszenierte zuletzt an gleicher Stelle im November 2011 „Der große Gatsby“) erzählt Büchners legendäres Bühnenfragment so, wie es vorliegt: in fragmentarischer Anordnung. Dabei stellt er das Ende, Woyzecks Mord an seiner geliebten Marie, gleich zu Beginn in den Raum. Der Doktor spricht vom hinteren Bühnenrand (genauer gesagt von der Balustrade des hinteren Ausgangs) über den Fall „Woyzeck“, während sich Woyzeck im Halbrund vor den Laborschränken aufhält. Der Boden ist mit kleinen graubraunen Stofffetzen belegt, die wie Kieselsteine wirken und zunächst ein gewisses ländliches Idyll (bei Büchner heißt es: „Freies Feld. Die Stadt in der Ferne“) andeuten (Bühne: Ramona Rauschbach).
Während also das Ende bekannt gegeben wird, treffen Woyzeck (einfühlsam, später leidend, verzweifelt und nah am Wahnsinn: Nils Kahnwald) und Marie (lieb und sinnlich wie Henrike Johanna Jörissen: vom Schauspiel STUDIO Wiebke Mollenhauer) aufeinander. Zunächst berühren sich nur ihre Blicke, dann stehen sie sich ganz nahe und eine intensive Intimität entsteht zwischen den beiden. Dafür sind wenige Kontakte nötig. Besonders anrührend und ausdrucksstark wird es, wenn sie sich ihrer obersten Kleidungsstücke entledigen. Anders als man vielleicht zunächst vermutet, folgt keine wilde Liebesszene halbnackter oder nackter Körper, sondern die im Raum liegende poetische Stimmung wird weitergeführt. Aus Maries leichtem Jäckchen formt das Paar hingebungsvoll den Korpus eines Babys, das die beiden zärtlich liebkosen und mit Liebe umgeben. Ein ganz außergewöhnlicher Moment der Rührung, der von dezenter klassischer Musik untermalt wird (Musik: Christoph Hart).

Woyzeck. Als ging die Welt in Feuer auf
Schauspiel Frankfurt
Woyzeck (Nils Kahnwald)
© Birgit Hupfeld

Natürlich bricht auch hier die harte Realität in diese traute Zweisamkeit ein. In Form des Doktors (seine Macht ausspielend: Michael Goldberg), der Woyzeck in seinem Labor mit Erbsen und Regenwürmern quält und mit dem Hauptmann (undurchsichtig: Heidi Ecks), der Woyzeck vorführt. Regisseur Rüping belässt das Stück inhaltlich in seiner Entstehungszeit, dem frühen 19. Jahrhundert, auch wenn die schlichten Kostüme von Lene Schwind einen gewissen zeitlosen Charakter haben. Wobei er für die Umsetzung der nur handschriftlich und fragmentarisch vorliegenden Teile auf eine konstruierte Anordnung im Sinne eines dramaturgischen Handlungsablaufs absieht. Einzelne Abschnitte erzählen vom Leiden des Woyzeck, von seinen Demütigungen durch den Doktor, am meisten aber von seiner Ohnmacht gegenüber der Intimität zwischen Marie und dem Tambourmajor (dominant und verführerisch: Thorben Kessler), die ebenso sehr stilvoll dargestellt wird. Dazwischen gibt es Szenen, bei denen über den Fall Woyzeck berichtet wird. So verkündet der Tambourmajor über einen Telefonhörer Woyzecks Biografie, ganz so, als würde er im Gericht ein Gutachten abgeben (was wiederum Bezug zu Büchners Vorlage nimmt, dem realen Mord des Johann Christian Woyzeck am Abend des 21. Juni 1821 in Leipzig an seiner Geliebten Johanna Christiane Woost).

Büchners Woyzeck, als Vorbote des Expressionismus und des modernen Theaters, findet hier eine Umsetzung, die überwiegend mit unspektakulären und fast schon stillen Bildern groß von Woyzecks Konflikt und Nöten berichtet und mit Nils Kahnwald auch eine Umsetzung hat, die den Weg vom jugendlich Unbekümmerten zum Mörder aus Not aufzeigt (wobei hier selbst die Tötung Maries noch voller Poesie dargestellt wird). Das pralle Leben findet für Woyzeck nur in kurzen Momenten statt, wenn eine Partykanone mit Konfetti über ihm explodiert. Ansonsten leidet er aber nach des Doktors Meinung an einer Aberration, einer Abweichung. Woyzeck sieht das einfacher, wenn er von der „doppelten Natur“ spricht: „Wenn die Sonn in Mittag steht und es ist, als ging‘ die Welt in Feuer auf, hat schon eine fürchterliche Stimme zu mir geredt!“ (Zitat aus dem Dramenfragment). Für seine gesellschaftliche Außenseiterstellung dient das Volkslied „Ein Jäger aus Kurpfalz“, das mit seinen anzüglichen Strophen 3 bis 5 als Bezugnahme zur Liebeständelei zwischen Marie und dem Tambourmajor gesehen werden kann.
Ein stiller, wie gleichfalls sehr berührender Abend. Viel Beifall.

Markus Gründig, Februar 13


Kasimir und Karoline

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
3. Februar 13

Am 12. Januar 2013 hatte Hans Falladas Roman aus dem Jahr 1932 „Kleiner Mann, was nun?“ in einer Bühnenfassung von Michael Thalheimer und Sibylle Baschung Premiere am Schauspiel Frankfurt gefeiert. Drei Wochen später folgte jetzt Ödön von Horváths Volksstück „Kasimir und Karoline“, auch dieses stammt aus dem 1932 und thematisiert, wie bereits Falladas Roman, die Liebe in wirtschaftlich schweren Zeiten. Wie wirkt sich eine Arbeitslosigkeit im Privaten aus? Wo bleiben Ideale und Gefühle, wenn die Angst um das tägliche Brot dominiert.
Wo Michael Thalheimer Strukturen der alten griechischen Tragödien nutzte, arbeitet Hausregisseur Christoph Mehler bei seiner Umsetzung mit humorvollen, plakativen und repetierenden Formen. Ein desillusionierendes Ende geben beide Regisseure ihren Stücken.

Kasimir und Karoline
Schauspiel Frankfurt
Kasimir (Viktor Tremmel)
© Birgit Hupfeld

Wenn man nach der besuchten Aufführung von „Kasimir und Karoline“ den Stimmen manch konservativer Besucher folgte, konnte man deren Irritation über die unerwartete Umsetzung feststellen. Wobei das eigentlich als ein Lob für Mehler verstanden werden kann. Denn Ödön von Horváth wollte explizit, dass seine Stücke stilisiert inszeniert werden. Naturalismus und Realismus sollten sie nicht zu Milieubilder reduzieren. „Kasimir und Karoline“ sei „eine Ballade voll stiller Trauer, gemildert durch Humor“.
Entsprechend ist schon der Beginn, bei dem zu romantischer klassischer Musik die Portraits der beiden Liebenden großflächig auf den Eisernen Vorhang projiziert werden (Video: Konny Keller). Und wenn die bereits in der ersten Reihe sitzenden Darsteller einen vorüberziehenden Zeppelin sehen, sich umdrehen und zum Publikum schauend ihr Erstaunen ausdrücken, wird dieses bald auf selbiges überspringen.
Nachdem sich der Vorhang gehoben hat, zeigt die Bühne von Jochen Schmitt in kühlem Ambiente zarte Versatzstücke eines Jahrmarkts. An den Seiten stehen zwei turmähnliche Bauten, als Eingang zu Vergnügungsgeschäften, oder auch als Kartenverkaufs-, Getränkeausgabe- oder Verzehrausgabestelle. Nach hinten ist die Bühne durch einen Zaun aus Spanplatten begrenzt. Vorne liegen Metallplatten, so wie sie auch bei manchen Fahrgeschäften heutzutage als Untergrund Verwendung finden. Die bunten Kostüme von Lene Schwind weisen auf die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, was aber letztlich nicht entscheidend ist. Schließlich spielt das Stück im hier und heute. Ein „Hau den Lukas“, Bier-Maßkrüge und eine Sitzgarnitur sind dann auch schon die einzigen Reminiszenzen an das Münchner Oktoberfest, dem eigentlichen Ort des Geschehens.

Die Figuren chargieren zwischen überzeichneten Wesen und bekümmerten Menschen. Das steigt den Unterhaltungswert, gerade für ein jüngeres Publikum wird so das schon vom Titel her spröde Stück, sehr lebendig. Und die beteiligten Darsteller geben viel. Sandra Gerling gefällt als lebenslustige und naive Karoline, die sich freudig und mit praktischem Sinn den Männern gegenüber zeigt. Franziska Junge muss als lethargische Erna allerhand abkönnen. Mit stoischer Gleichmut trotzt sie Franz seinen frauenfeindlichen Äußerungen und selbst eine Ladung Bier im Gesicht bringt sie nicht von ihm ab. Ist es Liebe oder nur Selbsterhalt, was sie an ihn bindet? Auch zeigt Junge wieder einmal großen körperlichen Einsatz, hier u.a. beim eleganten langgestreckten Putzen des Bodens. Oliver Kraushaar gibt sich als an den Armen tätowierter Grobian Merkl Franz trinkfreudig und herrlich zotenhaft. Sascha Nathan in gelben Schuhen einen großkotzigen Kommerzienrat Rauch. Marlene Hoffmann gefällt als leichtfüßige Elli. Viktor Tremmel verleiht dem gekündigten Chauffeur Kasimir großes Format, seine Unsicherheit, seine Ausflüchte in den Alkohol, seine Fragen und Nöte spielt er mit ganzem Körpereinsatz aus. Isaak Dentler verblüfft als komischer Zuschneider Schürziger, eine glanzvolle schräge Person.

Das in pausenlosen 90 Minuten gespielte Stück wurde von Christoph Mehler von den zahlreichen Randfiguren befreit und auch inhaltlich gekürzt. Zusätzlich wird in Arbeitermanier gesungen. Zum Ende öffnet sich die Bühne und gibt den Blick frei auf einen mit bunten Schals eingekleideten Saal, einem imaginierter Parkplatz (hoch oben hängt ein Unfallauto).
Mehler lässt zum Schlussbild alle Darsteller in klassischer Manier zum Publikum gerichtet auf der Bühne stehen. Die Frage, ob die Menschen nun erst durch schlechte Umstände zu schlechten Menschen werden, wird somit an den Zuschauer weitergegeben. Ein spritziger und vergnüglicher Abend.

Markus Gründig, Februar 13


Kleiner Mann, was nun?

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
12. Januar 13 (Premiere)

Michael Thalheimer ist einer der angesagtesten Regisseure der Gegenwart. Seine Arbeiten wurden national und international ausgezeichnet und zu Festivals eingeladen (allein sechs seiner Produktionen erhielten Einladungen zu den Berliner Festspielen). Zudem kann eine Zusammenarbeit mit ihm für Darsteller auch fruchtbar für die Karriere sein. So erhielt Valery Tscheplanowa im Jahr 2011 für ihre „Maria Stuart“ in der Inszenierung des gleichnamigen Stücks von Michael Thalheimer am Schauspiel Frankfurt eine Nominierung als beste Darstellerin beim Deutschen Theaterpreis Der Faust. Und Constanze Becker wird im März diesen Jahres für ihre „Medea“ (im gleichnamigen Stück in der Inszenierung von Thalheimer am Schauspiel Frankfurt) sogar mit dem Gertrud-Eysoldt-Ring 2012 ausgezeichnet, dem bedeutendsten Theaterpreis im deutschsprachigen Raum.
Thalheimers Inszenierung von Falladas populärstem Roman „Kleiner Mann, was nun“ aus dem Jahre 1932 hat ohne Frage auch die Aussicht, über die Stadtgrenze Frankfurts hinaus aufzufallen. Eine klug gestaltete Umsetzung, die es dem Publikum zwar nicht unbedingt leicht macht, schließlich ist Thalheimer Spezialist für das Hervorkehren des Abgründigen. Dabei folgt Thalheimer der Neuen Sachlichkeit, jener Richtung in der Literatur aus der Mitte der 20-iger Jahre (des 20. Jahrhunderts), die sich mit erbarmungsloser Skepsis und desillusionierender Ironie vom ausgehenden und verblassenden Expressionismus abgrenzte. Und geht mit der Einbindung eines Chores (gebildet aus den Nebenrollen) sogar noch einen Schritt weiter, denn dieser wirkt wie ein Katalysator des gesprochenen Wortes.
Dass seine Inszenierung in einer Ausstattungsschlacht endet, brauchte man im Vorfeld bei Michael Thalheimer und Bühnenbildner Olaf Altmann nicht zu befürchten. Denn das Gegenteil ist meist der Fall (so bei seinen bisherigen Inszenierungen am Schauspiel Frankfurt: „Ödipus/Antigone“, „Maria Stuart“, „Medea“). Starke Reduktion und Beschränkung auf das Wesentliche, so auch hier. Gemeinsam mit der Dramaturgin Sibylle Baschung wurde eine eigene Fassung des Romans für die Bühne erstellt. Dabei wurde sich ganz auf die Figuren Lämmchen und Pinneberg konzentriert, die anderen Personen sind oftmals nur Stichwortgeber und haben nur sehr wenig Kontakt zu den beiden.

Kleiner Mann, was nun?
Schauspiel Frankfurt
Lämmchen (Henrike Johanna Jörissen), Pinneberg( Nico Holonics)
© Birgit Hupfeld

Die Bühne zeigt einen riesigen Rahmen, der ca. anderthalb bis zwei Meter breit ist und mit seiner hellbraunen Tönung eine gewisse Heimeligkeit vermittelt. Diese abstrakte Fläche dient als Zimmer für die verschiedenen Wohnungen des Paares Lämmchen und Pinneberg, so wie auch für Pinnebergs Arbeitsplätze. Das Ganze wirkt ein wenig wie ein Bilderrahmen. Dahinter befindet sich eine schwarze ansteigende Fläche, es könnte auch die aufgeklappte Rückseite eines Bilderrahmens sein. Auf jeden Fall ist es die Außenwelt, mit allen weiteren Figuren, die hoch oben über die ganze Spielzeit über im fast Dunklen stehen (und nur für ihre Auftritte kurz angeleuchtet werden oder zum Bühnenrand laufen). Die gesellschaftliche Ausgrenzung des jungen Paares wird so visuell gut getroffen, sind sie doch für die Anständigen, die Mitläufer und Erfolgreichen zu niederen Objekten verkommen.
Die von Fallada geschilderte grausame, kalte Lebenswelt des kleinen Mannes, der ohne Verschulden verkommt und alle Hoffnung verliert, erfährt hier also auch schon äußerlich einen adäquaten Rahmen. Verbunden mit den oftmals barschen Tönen des Chores (Einstudierung: Marcus Crome) wird die Gefühlskälte, die Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise mit sich bringen, gut umgesetzt. Moderne Floskeln der Mitarbeitermotivation wurden dezent in Falladas Text eingefügt.
Kontrastierend dazu gibt es romantisch klingende Sehnsuchtsmusik. Bert Wrede hat hierfür ein lieblich klingendes Motiv aus dem Stück „Le Vent, Le Cri“ von Ennio Morricone (aus dem Film „Der Profi“ mit Jean-Paul Belmondo aus dem Jahr 1981) variantenreich bearbeitet.

Zwar sind elf Darsteller bei dieser Inszenierung beteiligt, doch die meisten haben, trotz großer Namen, nur kurze Szenen. Wie Peter Schröder als barsche Mutter Mörschel und ausgefuchster Geschäftsmann Jänecke, Michael Benthin als Vater Mörschel mit starkem Arbeiterbewusstsein und als Lebemann Jachmann, Andreas Uhse als bekümmerte Witwe Scharrenhöfer und galanter Kessler, Thomas Huber als emotionsstarker Emil Kleinholz, Martin Rentzsch als Lauterbach und verständnisvoller Heilbutt (sowie Till Weinheimer als Schulz / Lehmann / Emil, Anne Schirmacher als Marie Kleinholz und Josefin Platt als Seifenfrau / Frau Rusch). Stephanie Eidt gibt der trinkfreudigen Mia Pinneberg großes Format. Doch im Mittelpunkt stehen Henrike Johanna Jörissen als Emma Mörschel, genannt Lämmchen und Nico Holonics als Johannes Pinneberg. Jörissen gibt die Figur des sanften Lämmchen willensstark und mit kraftvollem Emotionsfaktor. Diese Frau muss man einfach lieben. Nico Holonics, zuletzt als Graf vom Strahl an der Seite von Valery Tscheplanowa in Das Käthchen von Heilbronn zu erleben, hat hier seine bisher größte Rolle und nutzt die Chance, sich in das Herz der Zuschauer zu spielen. Den jugendlichen Träumer, der von den Lebensumständen überfordert ist, verkörpert er mit großer Leidenschaft und Spielfreude.
Ein Happy End gibt es bei Thalheimer nicht, das Paar steht am Ende einsam und hoffnungslos im Dunkeln. Ein packender Schluss.

Ungewöhnlich starker Applaus, auch für das Regieteam, obwohl es Thalheimer dem Publikum allein mit der Vorstellungsdauer von pausenlosen 140 Minuten nicht leicht gemacht hat. Und zwei glückliche Hauptdarsteller, die sich ob des Zuspruchs zu Recht ungemein freuten.

Markus Gründig, Januar 13


Swing Again

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
6. Januar 13 (Premiere)

„Wenn man jung ist, hat man keine Angst“

Das Vorabbild, das zu „Swing Again“ herausgegeben wurde, will zunächst so gar nicht zum Thema passen. Zeigte es doch ein junges Paar nicht beim ausgelassenen Tanz, wie man es vermuten würde, sondern in einer schäbigen Zelle stehend. Der Untertitel zum Stück („Eine Zusammenrottung zur Verübung gemeinschaftlichen Unfugs“) hilft zunächst auch nicht wirklich weiter, um zu wissen, wovon dieses Stück nun handelt. Wobei hier auch weniger von einem Stück, als von einem Projekt zu reden ist, wie es das Schauspiel Frankfurt auch offiziell bezeichnet. Die Theaterpädagogin Martina Droste hat hierfür zehn Jugendliche zwischen 15 und 23 Jahren gewonnen (Noémie Abu Shagra Fénart, Linda Lu An, Kristina Eckern, Lena Neckel, Sonia Skatchkov; Redouan Abdellaoui, Christoph Kugler, Danilo Müller, David Strecker, David Unger), die sich intensiv mit dem Thema „Swing in Zeiten des Nationalsozialismus und dessen Relevanz heute“ auseinandergesetzt haben. In Zusammenarbeit mit der Autorin Tina Müller ist keine Musikrevue, die Swing Standards huldigt, herausgekommen, sondern eine anschauliche Umsetzung der Auseinandersetzung der Jugendlichen von heute mit dem Swing-Phänomen der Jugend in der Zeit des Nationalsozialismus. Mit lokalem Bezug zur Stadt Frankfurt, wurden doch hier Zeitzeugen befragt und historische Quellen gesichtet. Orte, wie die ehemalige Frankfurter Gestapo-Zentrale im Westend (Lindenstrasse 27) werden ebenso erwähnt wie die Hauptwache.

Swing Again
Schauspiel Frankfurt, Junges Schauspiel
Ensemble
© Birgit Hupfeld

Die Gruppenarbeit der Jugendlichen beinhaltet die Auseinandersetzung mit Themen wie: wären sie damals gerne Teil der Swingbewegung gewesen, ob bzw. wovor sie Angst haben, von Feindbildern und Freiheit, sei sie nun politisch oder sexuell. Das Programmheft führt zusammenfassend treffend auf: „Unterstützt von den Musikern Tobias Escher und Jens Hilzensauer sowie der Choreografin Ajda Tomazin entstand so ein Crossover von Tanz und Performance, Musikstilen und Lebensgefühlen, Theater und Realität, das Bühnenbildner Daniel Wollenzin und Kostümbildnerin Berit Mohr in ihren Arbeiten zusätzlich aufgreifen.“.

Dem Zuschauer wird schon beim Betreten der Kammerspiele ein Grinsen entlockt. Denn die Bühne ist offen. In der Mitte eiert eine überdimensionale Langspielplatte (wie ein Podest) träge vor sich hin. Dahinter ist eine Installation platziert, die mit ihren 42 Fensterrahmen sowohl eine großstädtische Skyline andeutet, wie mit ihrer vorgelagerten und gefliesten Rampe einen leicht schäbigen Unort darstellt. Zunächst sind hinter den Fenstern nur die Porträts der 10 Jugendlichen zu sehen, die zum Publikum blicken, was dieses erheitert.
Im steten Wechsel von heutigen Gruppendiskussionen und Szenen zur Zeit des Nationalsozialismus wird ein lebhaftes Potpourri jugendlicher Freuden und Leiden vorgeführt. Wobei die Freuden im Vordergrund stehen, schließlich geht es ja um den Swing. Der ist an sich unpolitisch, entstand aus dem afroamerikanischen Jazz und dessen Anpassung an die Existenzbedingungen von Musik in der euroamerikanisch beherrschten Industriekultur in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Er vermittelte ein unbeschwertes Lebensgefühl des American Way of Life. In Deutschland war diese Musik zwar bei Teilen der Jugend populär (wofür es den Ausdruck „Swing Kids“ gibt), aber vom System natürlich unerwünscht. Und dies ist die Brücke für Droste, gesellschaftspolitische Themen mit persönlichen zu verbinden. Wie von drei ungemein coolen Jungs, die ihre Aktion der Zusammenlegung eines Strassenbahnstromabnehmers während des Fahrens als Spaßfaktor mit Nebeneffekt bezeichnen. Oder ein junges Mädchen, das sich in einen hübschen Kerl verliebt, dem Sie von ihren Swing-Freunden erzählt und der sich später als zur Gestapo zugehörig zu erkennen gibt. Musik befreit in vielerlei Hinsicht, und wenn Männer rar sind, wird halt genommen was da ist, wen interessiert dann, ob beim Liebesakt Gefühle dabei sind oder nicht. Die sexuelle Revolte der 60er Jahre hatte hier schon eine gewisse Vorstufe. Gleichsam waren die Swing-Clubs, zu denen sich die Jugendlichen nach offiziellen Berichten „zusammenrotteten“, auch Zufluchtsort für Minderheiten, wie für eine Halbjüdin, der die Zugehörigkeit zur Hitlerjugend verwehrt war. So wird nicht nur diskutiert, sondern auch viel und ausgelassen getanzt (wie zum Hit „Goody Goody“).
Die staatlichen Repressalien wurden immer intensiver, 1941 gab es größere Verhaftungen. Vorgetragen wird dann auch, erst solistisch und dann im kleinen Chor, Heinrich Himmlers Brief vom 2. Januar 1942 an Reinhard Heydrich, dem SS-Obergruppenführer und General der Polizei, der auch als maßgeblicher Organisator des Holocausts gilt. In diesem Brief wird das härteste nur mögliche Durchgreifen gegen diese Jugendlichen gefordert.
Bestrafungen wegen Hörens der Musik an sich erfolgten nicht, sondern wegen Bagatellen, wie Verstößen gegen die damals bestehende Verbrauchsordnung.
Der Abend zeichnet sich aus durch den großen Spaß, den die 10 Jugendlichen trotzt allem Ernstem vermitteln. Dank ihrer energiegeladenen Tanz- und Groove-Bewegungen (inklusive einem Trompetenspieler, Handstand und Radschlag) springt die gute Laune auch zum Publikum über. Auf dem Weg nach draußen trällert so mancher Besucher Duke Ellingtons „It Don’t Mean a Thing (If It Ain’t Got That Swing)“ nach, der zum Finale gespielt wird.

Markus Gründig, Januar 13