Goethes »Die Wahlverwandtschaften« sehr frei am Staatstheater Darmstadt

Die Wahlverwandtschaften ~ Staatstheater Darmstadt ~ Charlotte (Marie Bonnet), Otto (Mathias Znidarec) ~ © Benjamin Weber

Der Abend in den Kammerspielen des Staatstheaters Darmstadt beginnt sehr vielversprechend. Jeder Zuschauer erhält vor Beginn einen Kopfhörer, das allein lässt vermuten, dass den Zuschauern etwas Besonderes geboten werden soll.

Schon beim Betreten der Kammerspiele werden die Kopfhörer bespielt. Ein sanftes Klirren, wie von Windspielen, ist zu hören. Dazu mischen sich dezent Stimmen. Am linken Bühnenrand liegt lässig der Hauptmann Otto (tiefenentspannt: Mathias Znidarec) im Adamskostüm auf einem Sofa und sagt „Hallo“ zu den Eintretenden. Seitlich vor einer Säule sitzt Charlotte (nervös: Marie Bonnet) in einem Ballonrock und mit schwarzem Pulli auf einem kleineren Sofa. Auch sie begrüßt die Zuschauer, zum Teil sogar persönlich. Dazu gibt sie kurze Bemerkungen ab (wie „ach, so viel Publikum“, „schön, schön“ und „was für eine tolle Brille“). Baron und Hausherr Eduard (den Abend über unterfordert: Daniel Scholz) steht hingegen mit dem Rücken zum Publikum in einer Ecke und Ottilie steht in einem blauen Tüllkleid entfernt im Garten, schiebt bereits einen Kinderwagen.
Durch die Kopfhörer wird die Vielfalt an Klangeindrücken verstärkt. So wird die Stimme der Darsteller:innen während der Aufführung immer wieder kurz verfremdet und intensiviert, neben Geräuschen und Tönen werden auch House-Beats eingespielt (Musik & Komposition: Fabian Kalker).

Die Wahlverwandtschaften
Staatstheater Darmstadt
Charlotte (Marie Bonnet), Eduard (Daniel Scholz), Ottilie (Edda Wiersch)
© Benjamin Weber

Apropos Verfremdung. Das in einem Landhaus lebende Paar Eduard und Charlotte trägt hier eine speziell nach ihrem Gesicht geformte Gesichtsmaske mit ausgehöhlten Augenpartien. Dadurch wirken auch sie künstlich und verfremdet.
Regisseurin, Bühnen- und Kostümbildnerin Heike M. Goetze erzählt in der von ihr erstellten Fassung die Wahlverwandschaften in einer Leseart, wie Goethes Frau möglicherweise einst den Roman gelesen hat: als schockierende Beichte ihres Mannes. Entsprechend ist die Figur der Charlotte angelegt, die den Abend dominiert. Hierin gibt sich Marie Bonnet mal sehr charmant, mal echauffiert. Ihre Dominanz zieht sich durch den ganzen Abend, eigentlich könnte dieses Stück auch gleich „Charlotte“ heißen. Die anderen sind fast nur zu Stichwortgebern degradiert (insbesondere der die ganze Aufführung über von der Badewanne aus gebannt ins Publikum blickende Otto des Mathias Znidarec). Ihre Bühne deutet vorne den Wohnbereich von Eduard und Charlotte an (mit Blumenmotiven als Sofabezug und einem Strauss Wiesenblumen) und hinter einer Plexiglasscheibenfront den Außenbereich (mit Felsbrocken und bläulichen Farbtönen während der Baby-Todesszene am See). Blumen wie Felsen als Anspielung auf Eduards geplante landschaftsgärtnerische Umgestaltung seines Anwesens.

Innerhalb der ersten Minuten wird sich noch an Goethes Text gehalten. Schon bald kommt aber auch direkte Rede dazu, in zeitgemäßer Sprache („hau rein“, „come on“…). Nun handelt es sich bei der Vorlage ja um einen vieldeutigen Roman. Die szenische Umsetzung Goetzes ist sehr bemüht, aber nach der ersten Stunde setzen dann doch Ermüdungserscheinungen ein, ist es zunehmend schwer, den ausgetragenen Disputen zu folgen. Neue Paarbindungen werden nur kurz skizziert. Auch eine zwischen Nichte und Tante wird mit einem Kuss und einem gemeinsamen Tanz angedeutet, aber keine zwischen dem Baron und dem Hauptmann. In der besuchten zweiten Vorstellung verließen 20 Zuschauer:innen vorzeitig die Kammerspiele (überwiegend ältere).

Zum Ende finden sich alle noch sehr lebendig im Außenbereich wieder zusammen, als Einheit, die nüchtern konstatiert „alles vergebens“.
Freundlicher Applaus.

Markus Gründig, Mai 22


Die Wahlverwandtschaften

Roman von: Johann Wolfgang von Goethe
Fassung von: Heike M. Goetze

Premiere am Staatstheater Darmstadt: 20. Mai 22 (Kammerspiele)
Besuchte Vorstellung: 27. Mai 22

Regie, Bühne & Kostüm: Heike M. Goetze
Musik & Komposition: Fabian Kalker
Dramaturgie: Maximilian Löwenstein

Besetzung:

Ottilie: Edda Wiersch
Eduard: Daniel Scholz
Otto: Mathias Znidarec
Charlotte: Marie Bonnet

staatstheater-darmstadt.de