Janáček-Doppel »Die Sache Makropulos« und »Aus einem Totenhaus« zur Eröffnung der Internationalen Maifestspiele Wiesbaden 2023

Die Sache Makropolus ~ Staatstheter Wiesbaden ~ Emilia Marty (Bühnenmitte: Elissa Huber), Dr. Kolenatý (Darcy Carroll), Vítek (Erik Biegel), Jaroslav Prus (Jiří Sulženko), Krista (Fleuranne Brockway), Albert Gregor (Aaron Cawley) ~ Foto: Karl und Monika Forster

Eine große Oper steht stets zur Eröffnung der Internationalen Maifestspiele am Hessischen Staatstheater Wiesbaden auf dem Programm. So eröffnete die Uraufführung von Jörg Widmanns Babylon im vergangenen Jahr die Festspiele. Die diesjährigen Festspiele stehen unter dem Motto ››Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen« (Zitat aus dem Gefangenen-Chor der Oper Nabucco) und sind allen politisch Gefangen weltweit gewidmet.
Zur Eröffnung gab es dieses Jahr sogar erstmals zwei abendfüllende Werke: Die Sache Makropulos und Aus einem Totenhaus. Beide behandeln, wenn auch sehr unterschiedlich, das Leben und Sterben. Sie sind späte Werke des tschechischen Komponisten Leo Janáček (1854-1928). Sie an einem Tag zu spielen ist ein Novum und zugleich eine außergewöhnliche Gelegenheit (und für das Haus, insbesondere die Sänger:innen und das Orchester, eine große Herausforderung). Am 14. Mai wird dieser Doppelabend (der am Nachmittag beginnt), wiederholt. Ansonsten werden die Opern an getrennte Terminen gespielt. Es lohnt sich, beide an einem Abend zu erleben, um ihre Intensität ganz besonders zu erfahren und um ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede leichter zu entdecken. Im Rahmen des „Fokus Janáček“ der Maifestspiele wird zudem Startenor Pavol Breslik Janáčeks Liederzyklus »Tagebuch eines Verschollenen« inszenieren und singen (Montag, 15. Mai 23). Janáčeks »Sinfonietta« erklingt im Rahmen des 7. Sinfoniekonzerts (Freitag, 12. Mai 23, im Kurhaus).

Überdimensionierte Büroordnung für Die Sache Makropulos

Zu Beginn von Die Sache Makropulos ist ein überdimensional großer Ventilator im Bühnenhintergrund zu sehen, aus dem eine Schar schwarz gekleideter Tänzer:innen fallen. Sie umgeben die Figur der Emilia Marty wie Schatten ihrer Vergangenheit. Schließlich ist sie schon fast 337 Jahre alt (und noch immer äußerst attraktiv). Zu den Klängen von Trompete und Hörnern laufen jeweils im schnellen Schritt drei Musiker quer über die Bühne (Choreografie: Valentí Rocamora i Torà). Der Ventilator als Sinnbild für Gleichlauf, aber auch für frischen Wind, Bewegung und Veränderung…

Noch während der Ouvertüre schieben sich hohe Büroschränke unterschiedlicher Größe ballettförmig über die Bühne und verwandeln diese in die Registratur einer Rechtsanwaltskanzlei. Die Szenerie mutet bedrohlich und grotesk an, eine gewisse Nähe zu Franz Kafka ist sicher nicht unbeabsichtigt. Für die Backstageszene des zweiten Aktes werden eine kleine Garderobe, ein Bett und eine große Echse auf die Bühne geschoben. Vielleicht ein Verweis auf das Thema Alter, denn große Reptilien können sehr alt werden. Im Dritten Akt mischen sich beide Bilder. Die Aktenschränke gleichen nun Türmen, aus denen alle auf Emilia Marty hinausblicken (Bühne: Raimund Bauer).
Von der äußeren Geschichte, einem Erbstreit und der Suche nach einem geheimnisvollen Dokument abgesehen, geht es um die Begrenztheit des Lebens. Nur durch sie sind auch große Gefühle möglich. Kann es ein erfülltes Leben geben, wenn das Leben schier endlos ist?

Gesanglich wird groß aufgefahren, wobei Gesang bei Janacek natürlich eine ganz eigene Sprache hat (Melodie und Rhythmus entstammen bei ihm aus der Umgangssprache). Die herausfordernde und große Partie der Operndiva Emilia Marty meistert Sopranistin Elissa Huber ganz hervorragend. Auch ihre szenische Präsenz ist sehr stark. Am Ende fällt sie nicht nur leblos zusammen, sie versinkt gar im Bühnenboden.
Stimmstark präsentieren sich die weiteren Figuren, allen voran Tenor Aaron Cawley als hoch verschuldeter Albert Gregor. Aristokratische Attitüde verleiht Bassbariton Darcy Carroll dem Rechtsanwalt Dr. Kolenatý. Den „geschäftstüchtigen“ Grafen Jaroslav Prus gibt Jiří Sulženko leidenschaftlich. Selbstbewusstsein verkörpert seine Tochter Krista (Mezzosopranistin Fleuranne Brockway), Tragik sein Sohn Janek (Gustavo Quaresma). Neben Tenor Erik Biegel als gewissenhafter Angestellter (Sollizitator) Vitek, runden Bassbariton Mikhail Biryukov (Theatermaschinist), Tenor Ralf Rachbauer (Hauk-Šendorf) und Mezzosopranistin und Kontra-Altistin Romina Boscolo (Kammerzofe / Aufräumfrau) die schöne Ensembleleistung ab.

Aus einem Totenhaus
Staatstheter Wiesbaden
Ensemble
Foto: Karl und Monika Forster

Nähergerückte Bedrohung bei Aus einem Totenhaus

Für die zweite Oper zeichnet das selbe Inszenierungsteam verantwortlich, wie auch viele Sänger in beiden Opern mitwirken. Die Bühne zeigt während der Ouvertüre von Aus einem Totenhaus zunächst die selben Aktenschränke wie bei Makropulos. Angestellte schwirren herum, schreiben ein Protestplakat und verstecken eilig Unterlagen. Polizisten kommen und schlagen einen, der nicht schnell genug fliehen kann, brutal zusammen und führen ihn ab. Dann rücken die Akten zur Seite und machen Platz für den aus dem Hintergrund vorrückenden Ventilator. Er dreht sich langsam und wirkt bedrohlich und nun auch militärisch, schließlich könnte es sich auch um einen Propeller eines herankommenden Flugzeugs handeln. Zusammen mit neun Holzkisten, in denen sich einzelne Gefangenen immer wieder Schutz suchend verstecken, reicht das als Handlungsort, einer russischen Gefangenenstation in Sibirien. Dazu kommt noch ein großes aufwendig nachgebildetes Walskelett (der Wal als Sinnbild für die Hölle?) und eine Personifizierung des im Stück aufgeführten flügellahmen Adlers (Sopranistin Stella An). Porträts von Gefangenen zieren jetzt die Rückseite der Aktenschränke und es gibt dezente Videoprojektionen (Video: Stefano Di Buduo). Ist die Stimmung im Lager auch getrübt, gibt es durch die überzeugend dargebotenen Theateraufführungen durch die Gefangenen auch heitere Momente.

Aus einem Totenhaus
Staatstheter Wiesbaden
Aljeja (Julian Habermann), Gorjantschikow (Christopher Bolduc), Tscherewin (Ján Rusko), Statisterie
Foto: Karl und Monika Forster

Aus der großen Zahl der Gefangenen ragen natürlich einige ganz besonders hervor. Tenor Aaron Cawley als Kusmitsch (Filka Morrosow) und ganz besonders Bassbariton Claudio Otelli, als seine tragische Geschichte vortragender Schischkow. Aber auch die sich persönlich näher kommenden Gorjantschikow und Aljeja (Bariton Christopher Bolduc und Tenor Julian Habermann) gefallen, wie auch der von Albert Horne einstudierte Chor des Staatstheaters Wiesbaden.

Aus einem Totenhaus
Staatstheter Wiesbaden
Schischkow (Claudio Otelli), Statisterie
Foto: Karl und Monika Forster

Nicht zuletzt im Angesicht des nach wie vor unbeendeten Ukraine-Krieges und anderer Konflikte weltweit, verweigert Regisseur Nicolas Brieger das von Janáček vorgesehene Ende. Der lahmende Adler kann zwar nun wieder fliegen, doch der in seine Freiheit entlassende Gorjantschikow wird hinterhältig vom Platzkommandanten (vehement: Jiří Sulženko) erschossen.

Zum Erlebnis werden diese beiden Opern ganz besonders durch das leidenschaftliche Dirigat von Johannes Klumpp. Er setzt kraftvolle Akzentuierungen und das Hessische Staatsorchester Wiesbaden, auch aus den Proszeniumslogen spielend, lässt das Zerklüftete, das Schwelgerischen und das Romantische der Musik unter die Haut gehend ertönen.

Bei beiden Opern gab es sehr viel Applaus für alle Beteiligte.

Markus Gründig, Mai 23


Die Internationale Maifestspiele 2024 werden am 1. Mai 2024 mit Verdis Spätwerk Falstaff in einer Inszenierung von Uwe Eric Laufenberg eröffnet.


Die Sache Makropulos

(Věc Makropulos)
Oper in drei Akten
Von: Leoš Janáček (1854 – 1928)
Libretto: vom Komponisten, nach dem gleichnamigen Schauspiel (1922) von Karel Capek
Uraufführung: 18. Dezember 1926 (Brünn, Nationaltheater)
Premiere am Staatstheater Wiesbaden: 30. April 23 (Großes Haus)

Musikalische Leitung: Johannes Klumpp
Inszenierung: Nicolas Brieger
Bühne: Raimund Bauer
Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer
Choreografie: Valentí Rocamora i Torà
Licht: Andreas Frank
Chor: Albert Horne
Dramaturgie: Constantin Mende

Besetzung:

Emilia Marty: Elissa Huber
Albert Gregor: Aaron Cawley
Jaroslav Prus: Jiří Sulženko
Krista: Fleuranne Brockway
Vítek: Erik Biegel
Janek Prus: Gustavo Quaresma
Dr. Kolenatý: Darcy Carroll
Theatermaschinist: Mikhail Biryukov
Hauk-Šendorf: Ralf Rachbauer
Kammerzofe / Aufräumfrau: Romina Boscolo

Tänzer:innen: Jasper H. Hanebuth, Felix Chang, Mar Sanchez Cisneros, Tamara Kurti, Gabriella Lemma, Nadine Werner, Gabriele Ascani, Joel Spinello

Chor & Statisterie des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Hessisches Staatsorchester Wiesbaden

Aus einem Totenhaus

(Z mrtvého domu)

Oper in drei Akten
Von: Leoš Janáček (1854 – 1928)
Uraufführung: 12. April 1930 (Brünn, Nationaltheater)

Premiere am Staatstheater Wiesbaden: 30. April 23 (Großes Haus)

Musikalische Leitung: Johannes Klumpp
Inszenierung: Nicolas Brieger
Bühne: Raimund Bauer
Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer
Choreografie: Valentí Rocamora i Torà
Licht: Andreas Frank
Video: Stefano Di Buduo
Chor: Albert Horne
Dramaturgie: Constantin Mende

Besetzung:

Alexander Petrowitsch Gorjantschikow: Christopher Bolduc
Schischkow: Claudio Otelli
Schapkin: Kristofer Lundin
Luka Kusmitsch: Aaron Cawley
Aljeja: Julian Habermann
Skuratow: Samuel Levine
Tscherewin: Ján Rusko
Platzkommandant: Jiří Sulženko
Tschekunow / Don Juan / Teufel: Mikhail Biryukov
Nikita Ralf: Rachbauer
Wassili: Darcy Carroll
Der Alte: Erik Biegel
Stimme aus der kirgisischen Steppe / Kedril / Junger Sträfling: Tianji Lin
Adler / Dirne: Stella An
Wache: Benjamin Hee

Chor & Chorsolisten des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Statisterie des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Hessisches Staatsorchester Wiesbaden

staatstheater-wiesbaden.de