Aus dem Rahmen fallender Musical-Thriller »Sweeney Todd« am Staatstheater Mainz

Sweeney Todd ~ Staatstheater Mainz ~ Sweeney Todd (Derrick Ballard) ~ © Andreas Etter
kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Glanz, Glitzer und große Showeffekte gab es am Staatstheater Mainz zuletzt bei den Musicalproduktionen Victor und Victoria (2021), The Producers (2019) und La Cage aux Folles (2017). Die jetzt erfolgte erstmalige Inszenierung des Musical-Thrillers Sweeney Todd hebt sich von diesen Produktionen deutlich ab und fällt sprichwörtlich aus dem Rahmen. Musikalisch bleiben keine Wünsche offen.

Bild der Brüchigkeit

Regisseur K. D. Schmidt verlegte die im London des 19. Jahrhunderts spielende Handlung vor die Bühne, ganz nah an das Publikum heran. Im Bereich des Orchestergrabens verlaufen fünf Stege in unterschiedlichen Höhen. Keiner dieser Stegen verläuft gerade, jeder hat einen Knick. Entweder steigen sie an oder ab. Einige haben zusätzlich ein einfaches Geländer mit Dellen. Aus dem Untergrund steigt immer wieder Rauch auf, wie sich auch Teile der Bevölkerung Londons aus dem Untergrund den Weg nach oben suchen. So ist für den Hafen, die Fleet-Street und ihre Umgebung ein einprägsames Bild der Brüchigkeit entstanden, frei von Backstube, Barbiersalon, Marktplatz oder Irrenanstalt (Bühne: Thomas Drescher).

Sweeney Todd
Staatstheater Mainz
Sweeney Todd (Derrick Ballard), Mrs. Lovett (Verena Toenjes)
© Andreas Etter

Das Orchester sitzt gut einsehbar im eigentlichen Bühnenbereich. Die mit Mikroports ausgestatteten Sänger:innnen haben somit lediglich über Bildschirme Kontakt zum Dirigenten. Auf die Bühnenrückwand werden die Handlung untermauernde Bilder projiziert (abstrakte Zeichnungen, gemalte Fratzen und Tiere, aber auch Bilder von Pasteten, mitsamt verbliebener Körperteile wie Gedärm, Zähne oder einem Penis; Zeichnungen und Video: Andreas „Ivo“ Ivancsics). Wenn Sweeney Tod mit seinem scharfen Rasiermesser eine Kehle durchschneidet, spritzt und läuft Blut nur auf der Projektionswand, die Toten bahnen sich selbst den Weg in den Untergrund. Im Gesamteindruck entstehen eindrucksvolle Bilder. Ein großen Anteil daran hat die Personenführung (Choreografie & Movement Director: Paulina Alpen) und die punktuelle Ausleuchtung der jeweiligen Spielszenen (Licht: Ulrich Schneider).

Sweeney Todd
Staatstheater Mainz
Johanna (Alexandra Samouilidou), Anthony Hope (Collin-Andre-Schoening)
© Andreas Etter

Spielfreudiges Opernensemble und groß besetztes Orchester

Durch den operettenhaften Charakter wird Sweeney Todd auch gerne auf Opernbühnen inszeniert. So an der Staatsoper Hannover im vergangenen November, aber auch schon 1997 an der Oper Köln und 2004 an der Komischen Oper Berlin (mit Dagmar Manzel als Mrs. Lovett). Bei der Koproduktion des Civic Opera House Chicago und dem Royal Opera House Covent Garden London spielte 2003 Bassbariton Bryn Terfel die Titelrolle.
Am Staatstheater Mainz ist bei Sweeney Todd das Opernensemble mit großer Spielfreude dabei. Bassbariton Derrick Ballard gibt dabei die manisch nach Rache strebende Titelfigur. Schon seine abstehenden Haare zeigen unmissverständlich, hier ist jemand auf Krawall gebürstet. Stimmlich kann der versierte Verdi und Wagner Sänger stark auftrumpfen, ohne dabei in einen opernhaften Klang zu verfallen. Dies trifft auch auf die Mezzosopranistin Verena Tönjes als agile, geschäftstüchtige, listige und in Todd verliebte Mrs. Lovett zu. Dabei zeigt sie eine sehr starke szenische Präsenz. Tenor Collin André Schöning wirbt als Matrose Anthony Hope um Todds Tochter Johanna (liebreizend: Alexandra Samouilidou).

Sweeney Todd
Staatstheater Mainz
Mrs. Lovett (Verena Toenjes), Chor
© Andreas Etter

Mit schönem Klang glänzt Tenor Frederik Bak als richterlicher Gehilfe Büttel Bamford. Die Seite der selbstsüchtigen Bourgeoisie verkörpert der gnadenlose, nach jungen Frauen gierende Richter Turpin des Baritons Peter Felix Bauer (mit einer sein Geschlechtsteil betonenden Schärpe ausgestattet), den ein Wundermittel zum Haarwuchs anpreisenden Barbier Rodolfo Pirelli der Tenor Alexander Spemann. Mark Watson Williams gefällt als Pirellis trinkfreudiger Gehilfe Tobias. Die tragische Figur der ob ihres Schicksals irre gewordenen Bettlerin Lucy gibt die Mezzosopranistin Katja Ladentin mit großem Einsatz. Auch der grell geschminkte und divers gekleidete Chor des Staatstheaters Mainz (Chor: Sebastian Hernandez-Laverny, Kostüme: Maren Geers) ist mit viel Leidenschaft dabei. Die disparate Musik des im vergangenen November verstorbenen Stephen Sondheims entfaltet auf der Bühne mit dem groß besetzten Philharmonischen Staatsorchester Mainz unter der Leitung von Samuel Hogarth einen luxuriösen Klangeindruck.

Trotz einiger Längen der 190-Minütigen Aufführung (inklusive einer Pause) gab es am Ende der Premiere lang anhaltenden Applaus für die Ballade vom grausamen Barbier, auch für das Regieteam.

Markus Gründig, Oktober 22


Ergänzend zur Inszenierung gibt es ein passend thematisch gestaltetes gedrucktes „Extrablatt“ (Sonderausgabe der Theaterzeitung aufgrund aktueller Ereignisse) und im Foyer werden als Spezialität Blut und Fleisch in Form von Aperol Spitz, Petit Fours und vegetarische Pasteten angeboten.


Sweeney Todd

Der dämonische Barbier von Fleet Street
(Sweeney Todd – The Demon Barber of Fleet Street)
Ein Musical-Thriller

Musik und Gesangstexte: Stephen Sondheim
Buch: Hugh Wheeler

Broadway-Premiere: 1. März 1979 (New-York, Uris Theatre [heute: George Gershwin Theatre])
Deutschsprachige Erstaufführung: 11. April 1985 (Freiburg, Städtische Bühnen)
Österreichische Erstaufführung: 7. April 1991 (Linz, Landestheater Linz)

Deutsche Übersetzung: Markus Weber
Deutsche Übersetzung 2019: Wilfried Steiner / Roman Hinze

Premiere am Staatstheater Mainz: 22. Oktober 22 (Großes Haus)

Musikalische Leitung: Samuel Hogarth
Inszenierung: K.D. Schmidt
Bühne: Thomas Drescher
Kostüme: Maren Geers
Choreografie & Movement Director: Paulina Alpen
Video: Andreas „Ivo“ Ivancsics
Licht: Ulrich Schneider
Dramaturgie: Christin Hagemann
Chor: Sebastian Hernandez-Laverny

Besetzung:

Sweeney Todd: Derrick Ballard
Mrs. Lovett: Verena Tönjes
Anthony Hope: Collin André Schöning
Richter Turpin: Peter Felix Bauer
Johanna: Alexandra Samouilidou
Büttel Bamford: Frederik Bak
Die Bettlerin: Katja Ladentin
Pirelli: Alexander Spemann
Tobias: Mark Watson Williams
Mr. Fogg: Reiner Weimerich
Ein Vogelhändler: Gregor Loebel

Statisterie des Staatstheater Mainz
Chor des Staatstheater Mainz
Philharmonisches Staatsorchester Mainz

staatstheater-mainz.de