Die neue Spielzeit am Staatstheater Wiesbaden steht unter dem Motto „Was ist unser Erbe“. Das neue Leitungsteam Dorothea Hartmann und Beate Heine blickt dabei zurück und stellt Fragen zur Zukunft. Damit verbunden ist auch eine künstlerische Neuausrichtung, die explizit den Dialog mit dem Publikum und der Stadt sucht (nebenbei wurde auch die Webseite neu gestaltet). Zum Eröffnungswochenende wurde nicht gekleckert, sondern mit sieben Premieren geklotzt.
Habitat / Wiesbaden: Plädoyer für Body Positivity
Gleich mit der ersten Premiere Habitat / Wiesbaden wurde ein Ausrufezeichen für einen offenen Blick auf menschliche Körper gelegt. Knapp 40 Wiesbadener:innen hatten sich bei der Nackt-Performance der österreichischen Doris Uhlich beteiligt. Die Körperforscherin und Choreografin sucht bei ihren Habitat Programmen, die sie u. a. schon in Frankfurt/M und Wien erarbeitete, nach der Kraft und Schönheit, die in jedem Körper zu finden ist. Dabei setzten weder das Alter, das Geschlecht noch körperliche Einschränkungen eine Grenze. Und so war die Schar der Wiesbadener Performer:innen ein überaus diverser Querschnitt.
In gut 100 Minuten ging es von den Kolonnaden des Staatstheaters über die Rasenanlage „Bowling Green“ in das Foyer des Kurhauses, von dort in den Kurpark, um schließlich im Foyer des Staatstheaters zu enden. Das Publikum zog jeweils mit, stand anfangs eher distanziert beobachtend an der Seite. Doch spätestens im Foyer des Kurhauses kam es zu einer lebhaften Mischung zwischen Performer:innen und Publikum. Zu deftigen Elektro-Beats (Sound: DJ Boris Kopeinig) und leisen Tönen wurden Formationen auf dem Boden und an den Wänden gebildet und die Galerie erobert.
Für Anhänger der Freikörperkultur ist eine solch ungezwungene Feier der Einheit in Nacktheit (es wurden lediglich Schuhe und teilweise Knieschoner getragen) selbstverständlich. Allerdings gibt es ja gerade unter Jüngeren doch viele, die mit Nacktheit Probleme haben. Menschen zu sehen, die trotz ihrer Gebrechen oder Andersartigkeit (die nicht in allen Punkten gängige Schönheitsideale bedient), glücklich und stolz sind, tut gut. Und es macht nebenbei Mut, den eigenen Körper zu akzeptieren und Body Shaming zu überwinden.
Feierliche Spielzeiteröffnung: Kometeneinschlag in den Arkaden
Am Samstag (28.09.24) gab es dann vor den Abendvorstellungen (Le Grand Macabre im Großen Haus und Spiel der Illusionen im Kleinen Haus) eine feierliche Spielzeiteröffnung. Hierfür waren in den Kolonnaden Partygarnituren mit reichlich wunderbarer Tischdeko aufgestellt worden. Musiker des Staatsorchesters Wiesbaden spielt den markanten Beginn der Oper Le Grand Macabre (mit Pfeifen und Autohupen). Darsteller:innen aus der Produktion waren kostümiert vor Ort und wiesen auf den bevorstehenden Einschlag eines Kometen hin (inkl. Countdown). Das neue Intendantinnenduo Hartmann/Heine griff dann zu einer symbolischen Kettensäge und schnitt eine vierstöckige Torte an, die sodann, neben Donuts und Muffins (alles in ein kosmisches Blau gefärbt), an das Publikum verteilt wurde.
Spiel der Illusionen: Spiel, Illusionen und Travestie
Neue Regisseur:innen und ein verändertes Ensemble bringen zum Saisonstart frischen Wind in das Staatstheater. Das tut grundsätzlich gut, auch wenn das Stammpublikum in Teilen erst einmal skeptisch ist. Im Kleinen Haus eröffnete die Regisseurin Christina Rast die Spielzeit. Hierfür wählte sie ein Stück des französischen Dramatikers Piere Corneille (1606 – 1684): Spiel der Illusionen.
Es wird als ein großes Spektakel der Illusionen gezeigt. Mit zahlreichen surreal wirkenden Momenten und mit viel Travestie. Denn alle Rollen sind mit Frauen besetzt! Frauen machen also auf männlich und manche finden das tatsächlich lustig und unterhaltsam. Auf jeden Fall zieht es das Stück stark ins Groteske und Komische. Tragik wird hier zur übertriebenen Farce. Männer gibt es als tanzende Schwäne oder Todesengel, jeweils in Tutu-Röcken (Tänzer: Jan Diener, Charlie Jordan Friesenhahn, Joel Spinello, Dwayne GIlbert Besier; Choreografie: Myriam Lifka), zum Ende hin gar mit riesenhaften Vulven im Showformat. So ist der Abend als gut 100-minütige überdrehte Spaßveranstaltung mit punktuellem Tiefgang zu sehen. Weil alledem nicht reicht, gibt es auch noch drei Gesangseinlagen im Cabaret-Stil (Musik: Patrik Zeller).
In dem Stück geht es um einen Vater, der seinen vor 10 Jahren verstoßenen Sohn sucht. Ein Magier/Theaterdirektor führt dem Vater (Liebes-) Stationen des Sohnes vor. Die Handlung ist schon etwas verwirrend, zumal mit verschiedenen Realitätsebenen gespielt wird. Es kommen zwei Theaterebenen zum Einsatz: Die „reale“ Welt draußen und die Theaterwelt innen. Sie werden mittels Video verbunden (Video: Gérard Naziri, Live-Kamera / Video: Eduardo Mayorga). Innen ist die Bühne als klassische Guckkastenbühne der Barockzeit nachempfunden (Bühne: Franziska Rast). Ebenso sind dies die auffallenden und farbintensiven Kostüme von Sarah Borchardt.
Als der besorgte Vater Pridamant ist Evelyn Faber ein angenehm ruhender Pol in dieser aufgekratzten Umsetzung. Süheyla Ünlü gibt den zwischen zwei Frauen und zwischen Geld und Liebe, hin- und hergerissenen Sohn Clindor mit Engagement. Die deutsch-französische Sandrine Zenner bringt ihre Mehrsprachigkeit als Alcandre/Geronte lebhaft ein. Den Macho Matamore verkörpert Sybille Weiser mit eleganter Coolness (mitsamt einem Sack Brüste im Gepäck). Maria Wördemann gibt der Dienerin Lyse Erhabenheit. Trang Dông ist als „doppelte“ Isabelle zu erleben und und Lisa Freiberger in der Doppelrolle Eraste/Adtraste.
Eine weitere Besonderheit gibt es zum Schluss hin. Der fünfte (und letzte) Akt wurde von der Dramaturgin Sophie Steinbeck neu bearbeitet. Er bietet einen furiosen Abschluss. Intensiver Applaus für alle Beteiligte.
Markus Gründig, September 24
Spiel der Illusionen
(L’Illusion comique)
Theaterstück in fünf Akten
Von: Pierre Corneille (1606 – 1684)
Uraufführung: 1636 (Paris, Théâtre du Marais)
Premiere am Staatstheater Wiesbaden: 28. September 24 (Kleines Haus)
Mit einer Neubearbeitung des V. Aktes von: Sophie Steinbeck
Inszenierung: Christina Rast
Bühne: Franziska Rast
Kostüme: Sarah Borchardt
Musik: Patrik Zeller
Choreografie: Myriam Lifka
Video: Gérard Naziri
Live-Kamera / Video: Eduardo Mayorga
Dramaturgie: Sophie Steinbeck
Besetzung:
Pridamant: Evelyn Faber
Alcandre/Geronte: Sandrine Zenner
Clindor: Süheyla Ünlü
Isabelle: Trang Dông
Lyse: Maria Wördemann
Matamore: Sybille Weiser
Eraste/Adtraste: Lisa Freiberger
Tänzer: Jan Diener, Charlie Jordan Friesenhahn, Joel Spinello, Dwayne GIlbert Besier