Das Licht im Inneren verändert sich – Tim Plegges Ballett »memento« am Staatstheater Wiesbaden

memento ~ Hessisches Staatsballett ~ Isidora Markovic, Jorge Moro Argote ~ Foto: Regina Brock Ballett von Tim Plegge Musikalische Leitung: GMD Patrick Lange Choreografie: Tim Plegge Musik: M. Richter, R. Baudoux, P. Baierlein, A. Vivaldi Bühne: Andreas Auerbach Kostüme: Judith Adam Licht: Tanja Rühl Projektionen: Frieder Weiss Luftobjekt: Frank Fierke Dramaturgie: Lucas Herrmann Auf dem Bild Hessisches Staatsballett, Isidora Markovic, Jorge Moro Argote Foto: Regina Brocke

Das Hessische Staatsballett wurde seit seiner Gründung im Jahre 2014 bis zum vergangen Jahr von Tim Plegge als Ballettdirektor und Chefchoreograf geleitet. Als Hauschoreograph ist er ihm weiterhin eng verbunden. Nachdem Tim Plegge in der Vergangenheit Handlungsballette wie Dornröschen, Winterreise oder Der Nussknacker erarbeitete, schuf er während des 2. und 3. Corona-Lockdowns erstmals ein Ballett ohne stringente Handlung: memento. Uraufgeführt wurde es im Oktober 2021 am Staatstheater Darmstadt, jetzt erfolgte die Premiere am Staatstheater Wiesbaden.

Erinnerung, Abschied, Partikel

Zu Beginn ist der schwarze Bühnenvorhang nur zu einem Viertel hochgezogen, eine Frau liegt nah an der Rampe, ist dabei kaum zu erkennen. Die vorherrschende Dunkelheit wird von gezielten Projektionen auf die Frau erhellt und lassen diese wie verpixelt erscheinen. Als ein unbestimmtes Etwas, das entsteht, sich auflöst und dann doch eine Form annimmt (vergleichbar mit der Materialisierung beim Beamen in den Star Trek Filmen).
Erst nach diesem mehrminütigen Intro setzt das Spiel des Orchesters ein und das Tanzensemble erscheint. Zunächst als gesichtslose, uniforme schwarze Gruppe, sogenannte „Partikel“. Teile eines großen Ganzen. Sie führen keinen Totentanz auf, der bei ihrem Anblick denkbar wäre. Sie umkreisen vielmehr die Spielfläche, nehmen sie ein, bilden dabei kleinere und größere Gruppen und Formationen, die sich schnell wieder auflösen. Es folgen zahlreiche einzelne Nummern, als kurze Soli, Duette oder Gruppennummern.

Mit „memento“ wurde ein Thema gewählt, das für „sich erinnern“ steht, aber auch für „Abschied und Wiedersehen, Neuanfang und Ende, Erinnerung und Ausblick“ (Programmheft). Im Weitesten handelt es vom Leben und vom Tod.

memento
Hessisches Staatsballett
Ensemble
Foto: Regina Brocke

Im Mittelpunkt stehen sechs Paare (darunter auch ein Männer-Paar), die nicht nur mit den schwarzen Partikel-Figuren interagieren, sondern auch mit „Hautfarbenen“, also Tänzern in klassischen Ballettkostümen. Die Hautfarbenen stehen gewissermaßen als Antipoden zu den Partikeln und für das Leben.
Bei dieser Reise durch Lebensstationen voller Ängste, Trauer, Freude und Zweisamkeit gibt es zusätzlich die Figur der Klärchen (Greta Dato). Sie begleitet das Geschehen als eine Art Spiegel unseres Selbst. Und trägt als einzige Figur Ausgefallenes. Zu Beginn einen weiten Mantel mit riesiger Schleppe, später dann einen Art Käfig (Kostüme: Judith Adam).

Licht und Schwärze

Indirekter Star des Abends ist die Bühne von Andreas Auerbach. Sie ist vollkommen frei von Requisite. Allerdings schwebt über ihr eine große Installation. Geschickt ausgeleuchtete Vorhänge deuten fünf ineinander gestapelte Rechtecke an. Sie können individuell an Seilzügen herabgelassen werden, wodurch sich ständig neue Räume ergeben. Als Kontrast zu diesem hellen, lebensbejahenden Bereich, folgt später ein monströses Luftobjekt (von Frank Fierke). Ein schwarzes, aufgeblasenes ballonähnliches Gebilde, das immer mehr in den Bühnenraum eindringt und eine Tänzerin magisch anzieht, bis sie schließlich darin auf- bzw. untergeht. Ein beeindruckendes Bild! Ihr Partner will folgen, doch das Luftobjekt will ihn nicht, spuckt ihn, nunmehr von herrlich hartem Metalrock begleitet, mehrfach aus.

Text und Töne

Das Kommen und Gehen des Lebens spiegelt sich im Laufe eines Jahres wieder, aber auch wunderbar in Antonio Vivaldis Violinkonzerten Die vier Jahreszeiten. Hier wird die Recomposition von Max Richter aus dem Jahr 2012 verwendet. Diese ist teilweise sehr radikal, dann auch wieder nah am Original. Unter GMD Patrick Lange spielt das verkleinerte Hessische Staatsorchester Wiesbaden sehr anspornend. Dazu gibt es auch intime, zärtliche Momente, beispielsweise beim Solo der Geige (Solo-Violine: Karl-Heinz Schultz).

memento
Hessisches Staatsballett
Ensemble
Foto: Regina Brocke

Vivaldis Musik gleichgestellt ist ein von der Schauspielerin Jana Schulz (am Schauspiel Frankfurt zuletzt in den Titelrollen von Woyzeck, Rose Bernd und Siddharta) eingespielter Text. Ihre geheimnisvoll, mystisch anmutende Stimme gibt der Szenerie eine intensive Spannung. Sie erzählt von „Das Licht im Inneren verändert sich…“, von der Nähe zu einer Person, von deren Körper und den Erinnerungen daran. Die Textszenen sind mit dezenten Soundflächen (von Peer Baierlein, Roald Baudoux) untermalt. Zudem gibt es weitere Projektionen (Frieder Weiss, Matthias Härtig) für zusätzliche optische Vielfalt.

Der Abend endet deutlich mit einer Desillusinionierung. Die Deckeninstallation fährt herab , es herrscht kaltes Arbeitslicht. Die Tänzer.Innen gehen nach und nach ab, die ersten Bühnenarbeiter kommen und beginnen mit dem Aufräumen. Das Publikum wird in die Realität zurück entlassen, der Vorhang fällt.

Großer Jubel und Standing Ovations für diese pausenlosen 75-minütigen besonderen Momente des Innehaltens.

Markus Gründig, Februar 22


memento

Ballett

Von: Tim Plegge
Uraufführung: 16. Oktober 2021 (Darmstadt, Staatstheater Darmstadt)

Premiere am Staatstheater Wiesbaden: 26. Februar 22 (Großes Haus)

Musikalische Leitung Staatstheater Wiesbaden: GMD Patrick Lange
Musikalische Leitung Staatstheater Darmstadt: Johannes Zahn)

Choreografie: Tim Plegge
Musik: M. Richter, R. Baudoux, P. Baierlein, A. Vivaldi
Bühne: Andreas Auerbach
Kostüme: Judith Adam
Licht: Tanja Rühl
Projektionen: Frieder Weiss, Matthias Härtig
Luftobjekt: Frank Fierke
Soundflächen: Peer Baierlein, Roald Baudoux
Stimme: Jana Schulz
Dramaturgie: Lucas Herrmann

Hessisches Staatsballett

Besetzung am 26. Februar 22:

Klärchen: Greta Dato
Paar 1: Meilyn Kennedy, Jorge Moro Argote
Paar 2: Rita Winder, Ramon John
Paar 3: Kristin Marja Ómarsdótttir
Paar 4: Francesc Nello Deakin, Alessio Damiani
Paar 5: Manon Andral, Matthias Vaucher
Paar 6: Jiyoung Lee, Alessio Pirrone

Partikel: Manon Andral, Daniela Castro, Margaret Howard, Sayaka Kado, Ludmilla Komkova, Meilyn Kenendy, Jiyoung Lee, Isidora Markovic, Kristin Marja Ómarsdótttir, Marie Ramet, Rita Winder

Kiran Bonnema, Alessio Damiani, Ramon John, Masayoshi Katori, Daniel Myers, Jorge Moro Argote, Francesc Nello Deakin, Marcos Novais, Alessio Pirrone, Taulant Shehu, Tatsuki Takada, Matthias Vaucher

Hessisches Staatsorchester Wiesbaden, Solo-Violine: Karl-Heinz Schultz
Staatsorchester Darmstadt

staatstheater-wiesbaden.de / hessisches-staatsballett.de / staatstheater-darmstadt.de