Das Land hinter dem Schrank ~ Tim Plegges »Nussknacker« in Wiesbaden

Der Nussknacker ~ Hessisches Staatsballett ~ Marie (Vanessa Shield), Nussknacker (Daniel Myers) ~ Foto: Regina Brocke
kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Nachdem Ballettchef Tim Plegge und das Hessische Staatsballett in der vergangenen Spielzeit Sadeh21 und Liliom zeigten, eröffneten sie die aktuelle Spielzeit am Staatstheater Wiesbaden mit einem der größten Ballett-Klassiker: Der Nussknacker (Premiere am Staatstheater Darmstadt: 16. November 19). Das Libretto von Marius Petipa und Iwan Wsewoloschski basiert auf der Erzählung Nußknacker und Mausekönig von E. T. A. Hoffmann (in der von Alexandre Dumas überarbeiteten Version). 1892 uraufgeführt, stellte sich sein weltweiter Erfolg erst viele Jahre später ein. Heutzutage ist es insbesondere in den USA zur Weihnachtszeit überaus populär. Und auch das Wiesbadener Publikum zeigte schon vor der Premiere großes Interesse, sämtliche Vorstellungen bis Januar 20 sind bereits schon gut verkauft.

Tim Plegge und das Hessische Staatsballett haben für ihre Märchenerzählung aus der Vorlage ein neues Szenario entwickelt. Der Abend beginnt bei ihnen nicht mit der Ouvertüre, sondern damit, dass Marie (in großer Partie anmutig, bezaubernd und vielseitig: Vanessa Shield) mit ihren Puppen vor einem überdimensional großen schwarzen Schrank spielt. Bei den Puppen handelt es sich nicht um süß gekleidete Mädchenpuppen mit schönen Haaren, sondern um lebende und große Sorgenfresserchen. Die Mutter (Sayaka Kado) bringt dann eine ebensolche Puppe im üblichen Puppenformat, womit sich das Geschehen in das Wohnzimmer der Familie Silberhaus verlagert. Neben einer Couch steht darin, bei der ansonsten den ganzen Abend über ins Schwarze gehüllten Bühne, erneut ein schwarzer Schrank in der gleichen Art wie zuvor, nur nun auf ein übliches Maß reduziert. Und dieser eine Schrank erweitert sich zu einem ganzen Schrank-Ballett, bis hin zu einem Kabinett des Schreckens, wenn später jeder einen anderen überraschenden Inhalt zu Tage bringt (Bühne: Frank Philipp Schlößmann). So steht der Schrank als Übergang von der Realität in die Welt von Maries Träume.


Der Nussknacker
Hessisches Staatsballett
Marie (Vanessa Shield), Nussknacker (Daniel Myers) ~ Foto: Regina Brocke Oma Martha (Masayoshi Katori), Tante Cecile (Margaret Howard), Herr Silberhaus (Taulant Shehu), Marie (Vanessa Shield), Onkel Leopold (Nicolas Frau), Fritz (Jorge Moro Argote), Cousine Victoria (Jiyoung Lee), Frau Silberhaus (Sayaka Kado), Drosselmeier (Ramon John)
Foto: Regina Brocke

Dieses neue Szenario erfordert eine Umstellung mancher musikalischen Nummern. Wobei auch hier die Schneeflockenszene den Abschluss des ersten Akts bildet. Sie ist ganz klassisch gehalten und dürfte für alle den effektvollsten Erinnerungswert bieten. Unter zartem Schneefall zeigt diese große Ensemblenummer, bei der das Hessische Staatsballett vom Kinderballett der Ballettschule Michna Wiesbaden verstärkt wird, einen betörenden Tanz sich bewegender Schneeflocken (Kostüme: Judith Adam). Und Marie, die inzwischen ihren Nussknacker (unbeschwert und leichtfüßig: Daniel Myers) zum Leben erweckt hat, schwebt mit ihm, in einem offenen Schrank sitzend, über die Szenerie hinweg. Kurz bevor der Vorhang fällt, tritt noch die skurrile Großmutter Martha (Masayoshi Katori) aus den Schneeflocken mahnend hervor. Sie gehört, mit Tante Cecile (Margaret Howard), Onkel Leopold (Noicolas Frau) und Cousine Victoria (Jiyoung Lee) zu dem für diese Produktion erweiterten Kreis der Familie, zu derem Kern natürlich auch Vater Silberhaus (Taulant Shehu) zählt. Erweitert wurde auch die Figur des Rat Drosselmeier (mit graziösen Ausführungen: Ramon John), der Marie bei ihren Erlebnissen begleitet.


Der Nussknacker
Hessisches Staatsballett
Ensemble
Foto: Regina Brocke

Konsequenterweise ist die Zuckerburg im zweiten Teil dann auch ein hohes Gebilde aus schwarzen Schränken, von denen aus Marie und ihr Nussknacker auf das Geschehen im Hofstaat herabblicken (dessen Bedienstete farbenfrohe rote Reifröcke tragen). Das Divertissement unterscheidet sich deutlich von der Tradition. Maries Bruder Fritz (lebhaft: Jorge Moro Argote) mimt ein Propellerflugzeug, die Großmutter, zwischenzeitlich zur Rattenkönigin mutiert, initiiert eine Rollschuhnummer und aus einem Papp-Pferd entstiegen, spüren Maries Bruder und Cousine Walzerklängen nach. Farbtupfer markieren nun nicht nur Maries Kleid, auch ein Schrank ist nun gelb und mit den gleichen Farbtupfern versehen. Dennoch birgt auch er nichts Gutes, sondern eine Gefahr für Marie. Doch am Ende ist alles gut und sie sitzt mit ihrem Nussknacker glücklich zum Publikum gewandt an der Rampe.

Auch in musikalischer Hinsicht ist diese Nussknacker-Produktion bemerkenswert. Ralph Abelein hat Tschaikowskys Musik teilweise neu arrangiert und als weiteres Instrument kommt für die Szenen in der Realität eine Hammondorgel zum Einsatz (die in Wiesbaden auch Abelein spielt). Ihr Klang irritiert zunächst ein wenig, der dezente Jazzklang fügt sich aber erstaunlich gut ein. Zumal GMD Patrick Lange und das Hessische Staatsorchester Wiesbaden die vielen Raffinessen vom Nussknacker sehr plastisch zum Leuchten bringen.

Großer, nicht enden wollender Jubelapplaus und Standing Ovations.

Markus Gründig, Oktober 19


Der Nussknacker
Ballett von: Tim Plegge
Musik: Pjotr Iljitsch Tschaikowsky

Premiere am Staatstheater Wiesbaden: 19. Oktober 19 (Großes Haus)
Premiere am Staatstheater Darmstadt: 16. November 19 (Großes Haus)

Musikalische Leitung Wiesbaden: GMD Patrick Lange
Musikalische Leitung Darmstadt: Michael Nündel
Choreografie: Tim Plegge
Bühne: Frank Philipp Schlößmann
Kostüme: Judith Adam
Licht: Tanja Rühl
Dramaturgie: Karin Dietrich

Besetzung Wiesbaden:

Marie: Vanessa Shield
Drosselmeier: Ramon John
Nussknacker: Daniel Myers
Fritzt: Jorge Moro Argote
Herr Silberhaus: Taulant Shehu
Frau Silberhaus: Sayaka Kado
Oma Martha / Rattenkönigin: Masayoshi Katori
Tante Cecile: Margaret Howard
Onkel Leopold: Noicolas Frau
Cousine Victoria: Jiyoung Lee
Hammondorgel: Ralph Abelein

Hessisches Staatsballett
Kinderballett der Ballettschule Michna Wiesbaden

Hessisches Staatsorchester Wiesbaden



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