Mit dem progressiven Sadeh21 von Ohad Naharin eröffnete im Oktober 2018 das Hessische Staatsballett die aktuelle Spielzeit. Als zweite große Produktion folgte jetzt die Uraufführung von Tim Plegges, auf den ersten Blick konventionell anmutendem, Liliom. Das Handlungsballett beruht auf der gleichnamigen Vorstadtlegende in sieben Bildern (und einem szenischen Prolog) des ungarischen Dramatikers Franz Molnár, die 1909 in Budapest uraufgeführt wurde und sich schnell zu einem Bühnentriumph entwickelte. Sie erzählt die Geschichte des Schiffsschauklers Andreas Zavoczki, genannt Liliom. Er verliebt sich in das Dienstmädchen Julie, die schnell von ihm schwanger wird. Nach einem erfolglosen Raubüberfall (um zu Geld für die junge Familie zu kommen), sticht er sich mit einem Messer in die Brust und stirbt. Die Parabel von Molnár endet aber nicht mit dem Tod, auch wenn Liliom den Tod gewissermaßen schon im Namen trägt. Liliom steht übersetzt für die Lilie, die Pflanze, die in Sage und Volkslied oftmals in Zusammenhang mit unschuldig Getöteten erscheint (wie Molnár 1909 zu seinem Stück anmerkte). Damit er mit Demut seinen letzten Frieden finden kann, muss er zunächst für 16 Jahre ins Fegefeuer. Für eine gute Tat kann er zu seiner inzwischen 16-jährigen Tochter auf die Erde zurückzukehren. Er will ihr einen Stern schenken, doch die Situation eskaliert und er muss zurück zum Ort seiner Reinigung.
Tim Plegge hat sich bei seiner choreografischen Arbeit eng an die literarische Vorlage gehalten. Die ausgewählte Musik stammt überwiegend von Bohuslav Martinů, Sergej Rachmaninow und Alfred Schnittke, also von Komponisten, deren Lebzeiten sich mit der von Molnár in Teilen deckt. Dazu zählen Ausschnitte aus Rachmaninows Rhapsody on a Theme of Paganini (Op.43), Bohuslav Martinůs 1. Sinfonie und Filmmusiken von Alfred Schnittke. Alles klingt besonders stimmungsvoll und sehr emotional. Insbesondere die Variationen 17 bis 18 aus Rachmaninows Rhapsody, die zu dem Moment gespielt wird, bei dem Julie dem sterbenden Liliom erstmals ihre Liebe gesteht, bietet große Emotionen pur (am Pult des Staatsorchesters Darmstadt: Michael Nündel). Als besonderes Bonbon wird im ersten Programmteil die Klavierbegleitung von Kai Adomeit auf einem auf Bühnenhöhe links neben dem Orchestergraben positionierten Flügel gespielt, wodurch eine zusätzliche Intensität entsteht. Dass es im Himmel nicht traurig zugeht, wird mit Bläserklängen und Perez Prados Mambohit „Cherry Pink And Apple Blossom White“ deutlich, der von Michael Nündel arrangiert wurde (die 21 verwendeten Stücke sind dankenswerterweise im Programmheft abgedruckt).
Plegge folgt Molnár nicht stur, er setzt eigene Schwerpunkte. So stellt er Julie, die den Filou Liliom bedingungslos liebt, in den Fokus. Sie eröffnet und beschließt den zweistündigen Abend (inklusive einer Pause). Sayaka Kado tanzt die Julie als tief empfindende, emphatisch veranlagte Frau, die zudem nachsichtig und weise ist, selbst wenn sie von ihrem Liliom geschlagen wird. Aufgewertet wurden auch die Rollen der beiden Polizisten (Masayoshi Katori, Gaetano Vestris Terrana). Sie schweben zunächst effektvoll auf Schaukeln herab und sind dann, fast Kobolden gleich, ständige Begleiter Lilioms. Und auch sie werden von der Liebe ergriffen (wenn einer beispielsweise dem anderen einen Arm um die Schulter legen will). Als besonderer Gag fängt ausgerechnet einer der Polizisten Maries Hochzeitsstrauß und will diesen, einem Antrag gleich, dem anderen übergeben.
Rummelplatzatmosphäre in Form von Karussells und einem Riesenrad, wird durch drei herabhängende LED Leuchten in unterschiedlichen Speichenrädern erzeugt, zudem durch einen Bühnenrahmen und -wänden mit vielen kleinen runden Glühbirnen. Und sogar zwei Autoscooter (Boxautos) kommen mehrfach zum Einsatz. Die Bühne zeigt nach hinten perspektivisch verkleinernde Holzwände an den Seiten. Sie deuten die Schaubuden an und dienen gedreht als Andeutung für häusliche Zimmer (Bühne: Andreas Auerbach). Im zweiten Teil kommt eine große, fast die gesamte Bühnenbreite einnehmende Bank zum Einsatz, die hälftig jeweils in eine andere Richtung weist und auf Rollen steht. Wenn von Liliom angestoßen, gleicht die Bank einem Uhrzeiger und man kann förmlich spüren, wie er gegen die Zeit anläuft, um alles gut enden zu lassen. Bei den Kostümen von Judith Adam ragen Lilioms Jeanslook und der stylishe rosafarbene Anzug des Kassierers Linzmann (Enrique Lopez Flores) hervor.
Daniel Alwell vermittelt den von allen Frauen umschwärmten und von allen Männern geachteten und gefürchteten ewigen Nichtsnutz Liliom gekonnt mit jugendlicher Unsicherheit, innerlicher Zerrissenheit und unbändiger Kraft, die diese Figur nicht zu kanalisieren weiß.
In Erinnerung bleiben neben den innigen Begegnungen von Julie und Liliom und ihrer jeweiligen Soli, den agilen Polizisten und den stimmigen Ensembleszenen, zudem insbesondere Margaret Howard als eifersüchtige Frau Muskat, Ramon John als nicht ganz astreiner Freund Ficsur, Clémentine Herveux als himmlische Konzipistin und das glückliche Liebespaar (Aurélie Patriarca und Taulant Shehu).
Sehr viel Applaus und stehende Ovationen
Markus Gründig, Februar 19
Liliom
Ballett von Tim Plegge nach Ferenc Molnár
Premiere/Uraufführung am Staatstheater Darmstadt: 22. Februar 19 (Großes Haus)
Premiere am Staatstheater Wiesbaden: 30. März 19 (Großes Haus)
Choreografie: Tim Plegge
Musikalische Leitung: Michael Nündel (Darmstadt), Albert Horne (Wiesbaden)
Bühne: Andreas Auerbach
Kostüme: Judith Adam
Lichtdesign: Tanja Rühl
Dramaturgie: Karin Dietrich
Es tanzen:
Liliom: Daniel Alwell
Julie: Sayaka Kado
Frau Muskat: Margaret Howard
Ficsur: Ramon John
Polizisten: Masayoshi Katori, Gaetano Vestris Terrana
Marie: Aurélie Patriarca
Wolf: Taulant Shehu
Linzmann: Enrique Lopez Flores
Konzipistin: Clémentine Herveux
Luise: Elisabeth Gareis
Luises Freundni: Manon Andral
Luises Freund: Nicolas Frau
Als Rummelplatzbesucher, Hochzeitsgesellschaft und Belegschaft im Amt für Todesangelegenheiten – Abteilung Selbstmörder:
Manon Andral, Kristin Bjerkestrand, Greta Dato, Elisabeth Gareis, Natalia Garcia Prieto, Livia Gil, Clémentine Herveux, Ludmila Komkova, Jiyoung Lee, Vanessa Shield
Martin Angiuli, Jorge Moro Argote, Alessio Damiani, Mirko De Campi, Nicolas Frau, Enrique Lopez Flores, Daniel Myers, Tatsuki Takada
(abweichende Abendbesetzung möglich)
Staatsorchester Darmstadt / Hessische Staatsorchester Wiesbaden
www.hessisches-staatsballett.de / www.staatstheater-darmstadt.de / www.staatstheater-wiesbaden.de