Schicksal oder Schuld? ~ »Ödipus. Tyrann« am Staatstheater Darmstadt

Ödipus, Tyrann ~ Staatstheater Darmstadt Ödipus (Jörg Zirnstein), Ensemble ~ © Nils Heck

Der Titel des Dichters und Dramatikers Heiner Müller (1929-1995) impliziert bereits, dass Ödipus mehr als nur Opfer des Schicksals ist. Schuldig ist nicht nur der, der handelt, sondern auch der, der es nicht tut. Müllers Fassung der klassischen griechischen Tragödie beruht auf Sophokles und Hölderlin, ist dabei sehr direkt und unmittelbar. Sie wurde 1967 am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt.
Christoph Mehler hat das, mit seiner Textlastigkeit nicht unbedingt leichte, Stück, klug choreographiert und abwechslungsreich auf die Bühne des Kleines Haus des Staatstheater Darmstadt gebracht (bei pausenlosen 130 Minuten). Und darüber hinaus. Denn von einer großen weißen Drehscheibe auf der weit geöffneten Bühne mit Blick auf die Mauern, verläuft, als Aufstieg zum Königsthron, ein Steg durch die Mitte des Zuschauerraums (Bühne: Jennifer Hörr).


Ödipus, Tyrann
Staatstheater Darmstadt
Ödipus (Jörg Zirnstein)
© Nils Heck

Zu Beginn spricht Erwin Aljukić als Prolog von der Mitte Heiner Müllers „Ödipuskommentar“. Die Götter, versteckt hinter grinsenden Masken, treten hinzu (was sich zum Ende wiederholt). Später ist Aljukić der blinde Seher Tiresias, der, zunächst von Schergen des Königshofs Kopf über in einen Eimer gesteckt wird, dann eine Magd in einem Glitzerkleidchen und zum Schluss hin gar nur mit einem Fell um die Schultern bekleidet, hangelt er sich wieder als Tiresias mühevoll am Abgrund entlang . Ein außergewöhnlich schonungsloser und starker Einsatz des von seiner Krankheit gezeichneten Schauspielers.
Den nach der Wahrheit fragenden und gleichsam stolzen wie kämpferischen Ödipus verkörpert in weißem Umhang Jörg Zirnstein als einen Herrscher, der schonungslos seine Macht behalten will. Kreon, Iokastes Bruder und Berater von König Ödipus, gibt Daniel Scholz (derzeit auch groß als Peer Gynt am Staatstheater Darmstadt zu sehen) in blauem Hemd und Anzugshose als leicht arroganten Staatsmann (die Kostüme, auch Jennifer Hörr, sind ein Mix aus antiken Bezügen und der Gegenwart). Eindringlich ist Gabriele Drechsel als Mutter und Ehefrau Jokaste, die die Wahrheit lange Zeit verdrängt. Mit stark performativen Zügen: Judith Niederkofler als Priesterin und Dienerin. Erst spät kommt der in Diensten des Königs von Korinth stehende Bote ins Spiel (verwegen und mit ultralangem Bart: Hans-Christian Hegewald). Sehr präsent ist der Chor, obgleich nur von Robert Lang und Mathias Znidarec verkörpert. Sie bespielen facettenreich, als Gladiatoren wie als Gangsta-Rapper, den ganzen Raum.


Ödipus, Tyrann
Staatstheater Darmstadt
Jokaste (Gabriele Drechsel)
© Nils Heck

Längere Textphasen werden von eruptiven Klangeinspielungen unterbrochen (Musik: David Rimsky-Korsakow), während auf der Rückwand dezent Videoprojektionen, von antiken Skulpturen und Planeten, bis zu einem aus menschlichen Leibern geformten Gehirn projiziert werden (Video: Stefano Di Buduo). Das Publikum ist nicht nur durch den Laufsteg nah dabei, es wird auch mehrfach direkt angesprochen, befragt und als Volk Thebens bestochen (wenn Iokaste aus einer großen Tasche nur so die Geldscheine zieht und hofft, das Volk erhebt nicht seine Stimme).

Das auch als „Wortoratorium“ bezeichnete Stück ist von Mehler sehr intensiv, konzentriert aber auch sehr bilderstark, abwechslungsreich und mit vielen Ideen inszeniert. Auch wird der etwas sperrige Text sehr lebensnah gesprochen ( und insbesondere von Jörg Zirnstein sehr deutlich).

Am Ende viel Applaus.

Markus Gründig, Oktober 19


Ödipus, Tyrann

Von: Heiner Müller nach Friedrich Hölderlin nach Sophokles
Uraufführung: 31. Januar 1967 (Berlin, Deutsches Theater)

Premiere am Staatstheater Darmstadt: 16. Oktober 19 (Kleines Haus)
Besuchte Vorstellung: 20. Oktober 19

Regie: Christoph Mehler
Bühne und Kostüm: Jennifer Hörr
Musik: David Rimsky-Korsakow
Dramaturgie: Oliver Brunner
Video: Stefano Di Buduo

Besetzung:

Ödipus: Jörg Zirnstein
Priesterin, Dienerin: Judith Niederkofler
Kreon: Daniel Scholz
Tiresias, Prolog: Erwin Aljukić
Jokaste: Gabriele Drechsel
Bote: Hans-Christian Hegewald
Chor: Robert Lang, Mathias Znidarec

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