Aufrüttelnder »Fidelio« am Staatstheater Darmstadt

Fidelio ~ Staatstheater Darmstadt ~ Orchester, Publikum ~ © Nils Heck

Im Jahr 2020 wird in der Musikwelt Ludwig van Beethovens 250. Geburtstag gefeiert. Das Jubiläumsjahr steht unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier. Viele Veranstaltungen und Informationen finden sich hierzu unter bthvn2020.de. Schon in diesem Jahr würdigt das Staatstheater Darmstadt den großen Komponisten und traut sich mit seiner eigenen Oper Fidelio viel. Bei der Inszenierung von Paul-Georg Dittrich handelt es sich um eine streitbare Umsetzung dieser beliebten Freiheitsoper. Entstanden ist sie bereits vor einem Jahr für das Theater Bremen, wo sie im September 2019 Premiere feierte. Für das Staatstheater Darmstadt hat sie Regisseur Dittrich nun weiterentwickelt. Das Besondere an ihr ist, dass gewissermaßen keine eigenständige Geschichte über die Geschehnisse im Staatsgefängnis von Sevilla erzählt wird. Vielmehr wird im großen ersten Akt anhand von acht exemplarischen Inszenierungen die Rezeptionsgeschichte in Hinblick auf „wann, wo und wie die Komposition für politische Zwecke instrumentalisiert und verwandt wurde“ (Dittrich), reflektiert. Diese führen von der Uraufführungsinszenierung 1814 am Wiener Theater am Kärtnertor über Paris (1860), Leningrad (1928), Aachen (1939), Berlin (1945), Kassel (1968), Dresden (1989) und Bremen (1997) bis in die Gegenwart (Erläuterungen hierzu finden sich auch im kostenlosen Programmheft).


Fidelio
Staatstheater Darmstadt
Leonore (KS Katrin Gerstenberger), Rocco (Dong-Won Seo)
© Nils Heck

Leonore als Spielmacherin

Hierfür wurde das Bühnenportal zu einer kleineren Guckkastenbühne verkleinert. Eingerahmt von den Jahreszahlen der ausgewählten Inszenierungen, ziehen diese nacheinander in kleinen Boxen vorüber. Dazwischen werden zeitgeschichtliche Bilder projiziert (Video: Kai Wido Meyer). Leonore (couragiert, dominant und mit strahlender Stimme: KS Katrin Gerstenberger), im goldenen Anzug mit freiem linken Oberkörper, auf dem zum Teil die Orte geschrieben wurden, steht zu Beginn an der erweiterten Orchestergrabenbrüstung und ist mehr als nur die verkleidete Gemahlin Florestans (Kostüm: Anna Rudolph). Als Spielmacherin führt sie zunächst Marzelline (das Glück der schönen Melodien glanzvoll auskostend: Jana Baumeister) und Jaquino (lebhaft: Michael Pegher) zusammen. Bei den Dialogszenen, die akustisch verfremdet und überlagert zugespielt werden, steht sie stets nah am Publikum.


Fidelio
Staatstheater Darmstadt
Leonoore (KS Katrin Gerstenberger), Pizarro (Wieland Satter)
© Nils Heck

Am Tisch mit Leonore aus Ausdruck der Eigenverantwortung

Um dies auch visuell zu verdeutlichen, können bei jeder Vorstellung bis zu 60 Zuschauer an der kargen Verpflegung Florestans (eindringlich und kraftvoll: Heiko Börner) unter dem Kerkermeister Rocco (erhaben: Dong-Won Seo) teilhaben, wenn sie bei etwas Brot, Käsewürfeln und Saft auf der Bühne am großen weißen Tisch mit Leonore sitzen und im 2. Akt Teil der Inszenierung werden. Sie erleben die Befreiung Florestans im Kerker mit Blick in den Orchestergraben von der Bühne aus und auf das Publikum, aus einer einmaligen Perspektive und können sich sogar noch etwas einbringen (beispielsweise Schilder mit Google-Bildern von Steinarten hochhalten oder den großen Schriftzug „Bewegt es dich?“ zum Leuchten bringen). Unterstützend werden die Porträts der SängerInnen per Livevideo auf die Rückwand projiziert. Der Kerker von heute, das sind wir Menschen uns selbst, will Dittrich mit der Publikumseinbindung verdeutlichen, denn Freiheit ist längst zum Zwang geworden.


Fidelio
Staatstheater Darmstadt
Florestan (Heiko Börner)
© Nils Heck

Trompetenfanfare als Aufruf und eine erweiterte Finalmusik

Nachdem von der obersten rechten Tür zum 1. Rang das Trompetensignal die Ankunft von Gouverneur Don Pizarro (energetisch: Wieland Satter) verkündet wird (wie bereits auch schon vor Beginn vom Balkon und im Foyer des Staatstheaters), befinden sich für den Schluss, die „vierte Wand“ aufbrechend, die SängerInnen, der von Sören Eckhoff einstudierte Chor des Staatstheaters Darmstadt und einzelne Musiker im Publikum. Leonore hat inzwischen ihre Rolle als Friedensengel an das Publikum weitergegeben. Ihre Freiheitsutopie ist von jedem zu verantworten und zu verteidigen.
Zuvor wird die Leonore-Ouvertüre Nr. 3 gespielt, währenddessen das szenische Geschehen verharrt. Das mit starker Energie unter der Leitung von GMD Daniel Cohen aufspielende Staatsorchester Darmstadt wird groß auf die Rückwand projiziert. Am Ende hat Leonore zwar ihren Florestan befreit, doch Regisseur Dittrich sieht die Zukunft der beiden skeptisch: Wenn der euphorisch festliche Schlussgesang erklingt (Chormitglieder haben die ursprünglichen Plätze der Bühnenzuschauer eingenommen) und die Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart geschlossen wird, stehen die beiden entfernt voneinander.

Die Gegenwart heißt auch zunehmender Antisemitismus und Fremdenhass. Längst ist etwas faul in Deutschland. In Dittrichs kritischer Sicht auf Beethovens Befreiungsoper kann es daher kein uneingeschränktes Jubelfinale geben. Hier geht die Inszenierung weiter als die in Bremen. Komponistin Annette Schlünz setzt dem bekannten Jubelfinale dissonante neue Musik entgegen. Die vom Parkett und dem Rang aus gespielte Musik bricht eruptiv aus Beethovens Finale heraus und setzt bewusst auf verstörend wirkende Klänge als Kontrast (der Chorgesang ist dabei entsprechend angepasst).
Gerade in einer Stadt wie Darmstadt, die wie kaum eine andere für Neue Musik steht, eine faszinierende und interessante Erweiterung. Umso seltsamer, dass am Premierenabend nicht wenige im Publikum damit gar nicht klar kamen und ihren Unmut, kaum dass der imaginäre Vorhang gefallen war, lautstark verkündeten.

Am Ende starker Beifall, aber auch nicht wenige Buhrufe, für diese viele Fragen aufwerfende, ungewöhnliche Fidelio-Umsetzung. Was grundsätzlich nicht schlecht ist, schließlich sollen Denkräume geöffnet und keine platten Antwort serviert werden.

Markus Gründig. Oktober 19


Fidelio
Oper in zwei (ursprünglich drei) Akten

Von: Ludwig van Beethoven
Libretto: Joseph Sonnleithner, Stephan von Breuning und Georg Friedrich Treitschke nach Jean Nicolas Bouilly
Uraufführung 1. Fassung: 20. November 1805 (Wien, Theater an der Wien)
Uraufführung 2. Fassung: 29. März 1806 (Wien, Theater an der Wien)
Uraufführung 3. Fassung: 23. Mai 1814

Premiere am Staatstheater Darmstadt: 26. Oktober 19
Musikalische Bearbeitung des Finales: Annette Schlünz
Weiterentwickelte Übernahme vom Theater Bremen

Musikalische Leitung: Daniel Cohen / Jan Croonenbroeck
Regie: Paul-Georg Dittrich
Bühne: Lena Schmid
Kostüm: Anna Rudolph
Video: Kai Wido Meyer
Dramaturgie: Carolin Müller-Dohle
Komposition: Annette Schlünz
Choreinstudierung: Sören Eckhoff

Besetzung:

Leonore: KS Katrin Gerstenberger
Florestan: Heiko Börner
Rocco: Dong-Won Seo
Pizzaro: Wieland Satter
Marzelline: Karola Sophia Schmid / Jana Baumeister
Jaquino: Michael Pegher
Don Fernando: Werner Volker Meyer
1. Gefangener: Daniel Ewald / Radoslav Damianov
2. Gefangener: Werner Volker Meyer

Staatsorchester Darmstadt
Opernchor des Staatstheaters Darmstadt


staatstheater-darmstadt.de