Derzeit ist der französische Autor Edouard Louis (* 1992) auf den Bühnen angesagt. Insbesondere im Rhein-Main-Gebiet. Das Staatstheater Wiesbaden zeigt ab dem 31. Januar 25 von ihm Die Freiheit einer Frau (Übernahme vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg), das Staatstheater Mainz ab dem 21. März 25 Im Herzen der Gewalt. Am Schauspiel Frankfurt feierte jetzt eine Bearbeitung seines Romans Wer hat meinen Vater umgebracht Premiere in den Kammerspielen. Im Rahmen einer Kooperation zwischen Schauspiel Frankfurt und der Buchhandlung Hugendubel Frankfurt hatten am 1. Juni Schauspieler Torsten Flassig und der Geschäftsführende Dramaturg Alexander Leiffheidt mit einer moderierten Lesung bereits auf diese Inszenierung aufmerksam gemacht.
Komplexe Beziehung zum Vater
Edouard Louis sorgte mit seinem Debütroman Das Ende von Eddy für Aufsehen. Er erschien 2014, wurde bereits in 35 Sprachen übersetzt und machte ihn zum internationalen Shootingstar. In dem autobiografischen Werk erzählt er von einer schwer erträglichen Kindheit in prekären Verhältnissen und dem Aufwachsen als Homosexueller in der Provinz. Der vier Jahre später erschienene Roman Wer hat meinen Vater umgebracht knüpft daran an. Inhaltlich geht es in letzterem um seinen Vater und seine komplexe Beziehung zu ihm. Er beschreibt ihn als einen mehrfachen Verlierer, der selbst aus einer zerrütteten Familie stammt (mit einem gewalttätigen und tyrannischen Vater).
Für das Schauspiel Frankfurt hat Regisseurin Lisa Nielebock den Roman szenisch umgesetzt. Hier erarbeitete sie bereits 2019 Hesses Siddhartha und 2022 Goethes Die Wahlverwandtschaften.
Anspielung auf die Trikolore
Wenn es einen Preis für das kargste Bühnenbild gäbe, diese Produktion hätte gute Chancen einen vorderen Platz zu belegen. Die Bühne von Oliver Helf besteht vor allem aus weißen LED-Linien, die Flächen bzw. Räume andeuten (ergänzt um eine Plexiglasscheibe, einen Rollstuhl, einem kleinen Röhrenfernseher und eine Kleiderstange). Zusammen mit der blauen und roten Arbeiterkleidung von Vater und Mutter ergibt sich eine dezente Anspielung auf die Trikolore. Dazu ist das Licht im Publikum fast die ganze Aufführung über an (Lichtkonzept: Oliver Helf), wird die vierte Wand immer wieder durchbrochen.
Voller Empathie
Wer hat meinen Vater umgebracht ist eher ein Essay über den Vater als ein Roman. Der Erzähler berichtet in nicht chronologischer Form anhand von Erinnerungen von seinem Vater und wie stark dieser ihn geprägt hat. Lisa Nielebock fügte zusätzlich Passagen aus Louis´ Erstlingswerk ein (wie die unsittlichen „Spielereien“ der Kinder). Sie vermittelt auf sehr poetische Weise die Stimmung des Sohns („E“), der hier mit immens großer Präsenz sehr subtil von Torsten Flassig verkörpert wird. Schon zu Beginn gibt er eine solistische mehrminütige Performance (Movement Coach: Esther Murdoch), stumm die Welt um ihn erkundend. Später lässt er das Publikum an seinen Träumen und Sehnsüchten teilhaben. Aber auch an den vielen Problemen in der Familie. Neben dem alkoholsüchtigen und dominanten Vater („V“; kämpferisch und doch zerbrochen: Uwe Zerwer) gibt es auch die ebenfalls aus einfachen Verhältnissen stammende abgebrühte Mutter („M“; vielseitig: Manja Kuhl), die ihm keine Stütze ist und nur den alkohol- und drogenabhängigen Bruder (aus erster Ehe) unterstützt.
Bei alledem wird auch erzählt, dass die Probleme der Familie auch auf einer fragwürdigen staatlichen Politik beruht. „E“ hat mehrere Wutausbrüche, bei denen er insbesondere Entscheidungen des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy kritisiert, die massive Auswirkungen auf die Lebenssituation des Vaters und damit auf die gesamte Familie hatten. Wie die Abschaffung des Arbeitslosengeldes und die Einführung des Revenu de solidarité active (RSA, dem Aktive-Solidarität-Einkommen), dem der Vater seinen kaputten Rücken zu verdanken hat.
So chargiert die Inszenierung zwischen Momenten großer Intimität und Gewaltexzessen, zwischen Anklage und stiller Liebe.
Viel Applaus
Markus Gründig, November 24
Wer hat meinen Vater umgebracht
(Qui a tué mon père)
Roman von: Édouard Louis (* 1992)
Übersetzt von: Hinrich Schmidt-Henkel
Französische Erstaufführung: 12. März 2019 (Paris, Théâtre national de la Colline)
Deutschsprachige Erstaufführung: 13. Dezember 2019 (München, Volkstheater)
Premiere am Schauspiel Frankfurt: 15. November 24 (Kammerspiele)
Regie: Lisa Nielebock
Bühne und Lichtkonzept: Oliver Helf
Kostüme: Sofia Dorazio Brockhausen
Musik: Thomas Osterhoff
Dramaturgie: Alexander Leiffheidt
Licht: Frank Krause
Movement Coach: Esther Murdoch
Besetzung:
E: Torsten Flassig
M: Manja Kuhl
V: Uwe Zerwer