Bachs »Matthäus-Passion« besinnlich am Staatstheater Wiesbaden

Matthäus-Passion ~ Staatstheater Wiesbaden ~ Bass/Petrus (Wolf Matthias Friedrich), Evangelist/Tenor (Julian Habermann), Judas/Pilatus (Benjamin Russell), Sopran (Anna El-Khashem), Alt (Anna Alàs i Jové), Jesus (Konstantin Krimmel), Chor ~ Foto: Karl _Monika Forster

15 Jahre nach einer szenischen Johannes-Passion durch Regisseur Dietrich Hilsdorf, zeigt das Staatstheater Wiesbaden jetzt ein weiteres Meisterwerk geistlicher Chormusik von Johann Sebastian Bach: die Matthäus-Passion. Anders als in 2005 wird 2020 auf eine szenische Umsetzung im Sinne eines Passionsspiels verzichtet. Regisseurin Johanna Wehner, die Ende November letzten Jahres am Schauspiel Frankfurt Jean-Paul Sartres Geschlossene Gesellschaft inszenierte, zeigt Bachs Meisterwerk in einer ergreifenden halbszenischen Darbietung. Dabei steht ein überdimensionales, schräg stehendes Kleeblattkreuz im Mittelpunkt der Bühne. Es ist mit einer Brüstung umsäumt, nimmt die ganze Bühne ein und scheint wie über ihr zu schweben. Teilweise ragt es sogar in den Orchestergraben hinein. Über ihm spiegelt sich eine Lampengalerie, die mit Stangen mit dem Kreuz verbunden ist. Dadurch entsteht ein technischer Eindruck, der sakrale Stimmungen zurückdrängt. Vor den Querstreben des Kreuzes befinden sich Sitzplätze für den Chor. Im Hintergrund scheint dezent ein rundes großes Kirchenfenster hinter Nebel hervor (Bühne: Volker Hintermeier; Licht: Andreas Frank).


Matthäus-Passion
Staatstheater Wiesbaden
Alt (Anna Alàs i Jové), Sopran (Anna El-Khashem), Jesus (Konstantin Krimmel), Evangelist/Tenor (Julian Habermann), Judas/Pilatus (Benjamin Russell)
Foto: Karl _Monika Forster

Größter Gewinn für diese Produktion ist, dass alle Solisten ihre Partie frei singen. Das ist bei Aufführungen in Kirchen schließlich äußerst selten der Fall, verleiht den Figuren aber umso mehr Tiefe. In weiten Teilen singt auch der von Albert Horne und Christoph Stiller einstudierte Chor des Staatstheater Wiesbaden frei und vermittelt dann, wie am Anfang mit „Kommt ihr Töchter, helft mir klagen“, einen imposanten Eindruck. Gleiches tut sehr schön der zum Anfang auftretende Jugendchor der Ev. Singakademie Wiesbaden (Einstudierung: Nioklas Sikner).

Johanna Wehner lässt Solisten und Chor abwechslungsreich und wohldurchdacht auf dem Kreuz und der Fläche davor auf- und abtreten. Das Kreuz steht für Wehner in Zeiten zugespitzter Radikalität als Besinnungspunkt, wer angeklagt und wer beschützt wird. Damit spannt sie einen Bogen vom neutestamentarischen Text bis zur Gegenwart. Wenn Judas Jesus verrät, tut er dies nicht alleine, sondern das ganze Volk weist mit Fingern auf ihn. Das trägt schwarze Roben aus dem 18. Jahrhundert, der Entstehungszeit der Passion. Teilweise werden coole Sonnenbrillen getragen, womit die Figuren in‘s Heute gerückt werden (Kostüme: Su Bühler).
Gleichwohl ist für die besungenen Szenen, wie beim letzten Abendmahl, im Garten Gethsemane oder auf Golgatha, das Publikum gefordert, sich in die Orte hineinzudenken. Auch die Verwendung von Doppelbesetzungen, bei gleichen Kostümen, erfordert etwas Mitdenken. So singt der Evangelist auch die Tenor-Soli, Petrus zusätzlich die Bass-Partien und Judas und Pilatus wurden zu einer Partie zusammengefasst.


Matthäus-Passion
Staatstheater Wiesbaden
Evangelist/Tenor (Julian Habermann), Chor
Foto: Karl _Monika Forster

Auf Übertitel wird verzichtet, wodurch ein konzentrierter Blick während der knapp 200-minütigen Aufführung (inklusive einer Pause) möglich ist. Und ein intensiver musikalischer Hörgenuss. Bachs Matthäus-Passion gilt nicht umsonst als Meisterwerk und bietet eine Fülle an lyrischen Ruhepunkten und ariosen Rezitativen. Konrad Junghänel, Spezialist für Alte Musik, ist regelmäßig zu Gast am Staatstheater Wiesbaden. So wundert es nicht, dass die Abstimmung mit dem Staatsorchester und den Sängern sehr gut funktioniert. Mit starker Bühnenpräsenz und strahlenden, hohen Spitzentönen besticht der junge Julian Habermann als Evangelist und Tenor. Er hat mit weitem Abstand die umfangreichsten Partien inne und ist nahezu die gesamte Aufführung über auf der Bühne präsent. Dem deutsch-rumänische Bariton Konstantin Krimmel reichen wenige Gesten, um angemessen weihevoll die Figur des Jesus zu vermitteln (am 22. April 20 wird Krimmel im Holzfoyer der Oper Frankfurt einen Liederabend gestalten). Starke Präsenz zeigen Anna El-Khashem (Sopran; eindringlich mit „Erbarme dich, mein Gott “) und Anna Alàs i Jové (Alt; bewegend mit „Befiehl du meine Wege“). Seinen gehaltvollen Bass führt Wolf Matthias Friedrich als Petrus und Bass vor. Bariton Benjamin Russel gibt einen zerissenen Judas („Gebt mir meinen Jesum wieder“) und einen soliden Pilatus.

Am Ende sehr viel Applaus für Künstler und Kreative.

Markus Gründig, Januar 20


Matthäus-Passion

Passion

Von: Johann Sebastian Bach

Premiere am Staatstheater Wiesbaden: 18. Januar 2020 (Großes Haus)

Musikalische Leitung: Konrad Junghänel
Inszenierung: Johanna Wehner
Bühne: Volker Hintermeier
Kostüme: Su Bühler
Chor: Albert Horne, Christoph Stiller
Jugendchor: Niklas Sikner
Licht: Andreas Frank
Dramaturgie: Katja Leclerc
Theaterpädagogik: Luisa Schumacher

Besetzung:

Evangelist / Tenor: Julian Habermann
Jesus: Konstantin Krimmel
Sopran: Anna El-Khashem
Alt: Anna Alàs i Jové, Franziska Gottwald
Bass / Petrus: Wolf Matthias Friedrich
Judas / Pilatus: Benjamin Russell
Hohepriester / Zweiter Hohepriester: Martin Storschka
Erster Hohepriester: Aldomir Mollov
Erster Zeuge: Isolde Ehinger
Zweiter Zeuge: Keun Suk Lee
Erste Magd: Eunshil Jung
Zweite Magd: Eunyoung Park
Frau des Pilatus: Hyerim Park

Basso continuo:

Orchester 1
Orgel: Joachim Enders
Violoncello: Johann Ludwig
Kontrabass: Nicolá von Goetze

Orchester 2
Orgel: Julia Palmova
Violoncello: Emanuela Simeonova
Kontrabass: Markus Kräkel

Chor des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Jugendkantorei der Ev. Singakademie Wiesbaden
Statisterie des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Hessisches Staatsorchester Wiesbaden


staatstheater-wiesbaden.de