Über erlebtes Grauen zu sprechen ist nie leicht. Die polnische Widerstandskämpferin, KZ-Überlebende und Autorin Zofia Posmysz (1923 – 2022) hat Ihre Erfahrungen und Beobachtungen die sie in den KZs Ausschwitz-Birkenau, Ravensbrück und Neustadt-Glewe gemacht hat, literarisch verarbeitet. Denn nur so kann die Erinnerung wach gehalten werden. Auf Basis ihrer Erzählung Die Passagierin aus Kabine 45 entstand die Oper Die Passagierin von Mieczysław Weinberg.
Sie wurde 2010 bei den Bregenzer Festspielen szenisch uraufgeführt (im Festspielhaus). Seitdem ist sie dabei, einen festen Platz im Opernrepertoire einzunehmen. Inszenierungen gab es u. a. bereits in Gelsenkirchen, Gera, Innsbruck und Karlsruhe. An der Oper Frankfurt inszenierte Anselm Weber sie im Jahr 2015 (Besprechung). Bevor sie am 10. März 2024 an der Bayerischen Staatsoper in München erstmals gespielt wird (ML: Vladimir Jurowski, Regie: Tobias Kratzer; BR-Klassik wird die Premiere live im Hörfunk übertragen), ist sie jetzt am Staatstheater Mainz zu sehen. Dabei handelt es sich um eine Kooperation mit der Oper Graz (an der die Inszenierung bereits in 2020 zu sehen war).
Raum der Verdrängung
Inhaltlich spielt die Oper auf zwei Zeit- und Handlungsebenen: Beginn der 1960er Jahre während einer Schiffsüberfahrt nach Brasilien und 1943/44 in Auschwitz. Die Schiffspassage stellt gewissermaßen den äußeren Rahmen dar. Die deutsche Lisa reist mit ihrem Mann. An Bord meint sie, in einer anderen Passagierin die ehemalige Insassin Martha zu erkennen. Erinnerungen an die vergangene, dunkle Zeit werden wach. Erinnerung an Opfer, Täter, aber auch an mutige Widerständler. Gute drei Stunden (inklusive Pause) gibt es ergreifende kleines Portraits und Geschichten. Regisseurin Nadja Loschky hat zudem eine nahezu stumme und omnipräsente Figur hinzugefügt. Lisa als reife Frau, die scheinbar aus der Gegenwart das Geschehen verfolgt.
Im Einheitsraum von Etienne Pluss werden weder Schiff noch Konzentrationslager konkretisiert. Es ist ein nicht allzu hoher Raum in einem zarten, pastellartigen, Grünspan-Farbton. Er besteht aus zahlreichen Zimmer- und Schranktüren. Einen Weg in die Freiheit sucht man vergeblich. Ein gebogener Gang im Hintergrund kann Assoziationen zu einen Schiffsbug bilden, Regalflächen erinnern an die dreistöckigen Holzgestelle, die in den KZ-Baracken als Schlafplätze dienten. Nach der Exekution zahlreicher weiblicher Gefangener (sie sinken einfach zu Boden) werden sie über eine große Schublade (Verbrennungsofen) entsorgt.
In erster Linie ist es, wie im Programmheft von Nadja Loschky ausgeführt wird, ein Raum der Verdrängung, in den die Wahrheit immer wieder eindringt. Die Ordnung der alten Lisa wird kontinuierlich brüchiger, bis sie schließlich selbst ein Teil des alten Systems geworden ist (und die Uniform der Aufseher trägt).
Der Charme der frühen 1960er-Jahre lebt bei der Gesellschaft mit ihren bunten Blusen und Röcken auf. Schlicht ist naturgemäß die gestreifte Häftlingskleidung und die schwarzen Uniformen der Aufpasser:innen (mit weinroter Binde aber ohne Motiv; Kostüme: Irina Spreckelmeyer).
Starke Charaktere und vielseitige Musik
Mieczysław Weinbergs Musik spiegelt die Gefühlslage der Figuren vielschichtig und sehr unterschiedlich wider. Neben einer spätromantischen Opulenz mit Zwölftontechnik ertönen dabei u. a. auch immer wieder volksliedhafte Weisen und schmissige Unterhaltungsmusik. Harte Trommelschläge begleiten die Auftritte der NS-Schergen, sanftes Flöten- oder Geigenspiel das der Gefangenen. Dabei leistet das Philharmonische Staatsorchester Mainz unter seinem GMD Hermann Bäumer Großartiges.
Im Mittelpunkt stehen zwei charakterstarke Frauen. Mezzosopranistin Karina Repova gibt die Lisa (die stolz auf ihren Dienst für das Vaterland ist und keine Schuld zu kennen scheint). Sie ist derzeit auch als Carmen am Staatstheater Mainz zu erleben (Besprechung). Als Lisa ist sie stets sehr gefasst, stark und scheinbar unverletzlich. Die Marta gibt Sopranistin Nadja Stefanoff (alternierend: Margarita Vilsone) mit immens großer darstellerischer und vokaler Intensität. Vom Tiroler Landestheater ist Florian Stern zu Gast, der mit Vehemenz Lisas Ehemann Walter gibt. Sehr zurücknehmen muss sich Brett Carter als Marthas Verlobter Tadeusz. Bei den zahlreichen weiteren Figuren ragt besonders Julietta Aleksanyan als russische Gefangene Katja mit ihrem berührenden Heimatlied heraus.
Markus Gründig, Januar 24
Angesichts des massiven und weltweiten Antisemitismus mahnt diese Produktion: „Niemals vergessen!“. Ergänzend wird ab 13. März Udo Zimmermanns Kammeroper Weiße Rose gespielt (im U16). Zu beiden Produktionen gibt es unter dem Titel „Wenn das Echo ihrer Stimmen verhallt, gehen wir zugrunde “ ein umfangreiches Rahmenprogramm mit einer Ausstellung, einer Stadtführung zu ausgewählten Stolpersteinen und Erinnerungsorten der NS-Diktatur in der Mainzer Innenstadt, einer Lesung mit Musik und einer musikalischen Revue.
Die Passagierin
Пассажирка (Passaschirka)
Oper in zwei Akten
Von: Mieczysław Weinberg (1968/2010)
Libretto: Alexander Medwedew
Uraufführung (konzertant): 2006 (Moskau)
Uraufführung, szenisch: 21. Juli 2010 (Bregenz, Bregenzer Festspiele ~ Festspielhaus)
Premiere am Staatstheater Mainz: 19. Januar 24 (Großes Haus)
Besuchte Vorstellung: 23. Januar 24
Musikalische Leitung: Hermann Bäumer
Inszenierung: Nadja Loschky
Bühne: Etienne Pluss
Kostüme: Irina Spreckelmeyer
Licht: Sebastian Alphons
Video: Christian Weißenberger
Dramaturgie: Marlene Hahn, Elena Garcia Fernandez
Besetzung:
Lisa: Karina Repova
Walter: Florian Stern
Marta: Nadja Stefanoff / Margarita Vilsone
Tadeusz: Brett Carter
Katja: Julietta Aleksanyan
Krystina: Lamia Beuque
Vlasta: Luisa Sagliano
Hannah: Karolina Makula
Bronka: Lucie Ceralova
Yvette: Alexandra Samouilidou
Die Alte: Ruth Müller
1. SS-Mann: Stephan Bootz
2. SS-Mann: Gregor Loebel
3. SS-Mann: Collin Andre Schöning
Älterer Passagier: Dogus Güney
Oberaufseherin: Kruna Savic
Kapo: Ina Meyer
Stewart: Georg Schiessl
Alte Lisa: Heide-Marie Böhm-Schmitz
Statisterie des Staatstheater Mainz
Chor des Staatstheaters Mainz
Philharmonisches Staatsorchester Mainz
staatstheater-mainz.com