Nähe und Ferne, Sehnsucht und Überdruss, Liebe und Ablehnung und schließlich der Tod. Auch in ihrem vierten Stück Gier ist sich die britische Dramatikerin Sarah Kane hinsichtlich ihrer Themen treu geblieben. Bei der formalen Gestaltung hat sie sich aber entschieden zu den vorherigen Stücken (Zerbomt, Phaidras Liebe und Gesäubert) weiterentwickelt. Gier besteht aus einem langen poetischen Text, der auf vier Stimmen (Personen) verteilt ist. Eine Geschichte wird nicht erzählt. Die Vier sind namenlos, tragen lediglich Buchstaben als Bezeichnung (A, B, C und M). Im Rahmen der Sarah Kane Werkreihe bei den Landungsbrücken Frankfurt (20.21 KANE innen) ist Gier nun in einer Produktion von Kortmann & Konsorten zu erleben.
In der vokalen Wettkampfarena
Sind die vorherigen Stücke Kanes ob der extremen Inhalte und Regieanweisungen stets eine große Herausforderung für eine szenische Umsetzung, so liegt bei Gier die Schwierigkeit darin, wie dieser schier unendlich wirkende Textfluss dargeboten werden kann. Das aus lauter Frauen bestehende Inszenierungsteam von Kortmann & Konsorten löste dieses Problem geschickt. Der Saal wurde im Stil einer Wettkampfarena gestaltet. Die Bühne befindet sich in der Raummitte und besteht aus einem großen Rechteck, das mit kleinen, hellen Kieselsteinen belegt ist (nebst abgeblendeten Bodenleuchten). Das Publikum sitzt abstandsgerecht auf Zweier- oder Einzelplätzen rings herum. Wie bei einem Wettkampf kommen die Darsteller zu Beginn in den Raum, stehen zunächst um die Spielfläche herum, um sie schon bald zu ihrer zu machen.
Travestie zur Unterstreichung des universellen Charakters
Ob „A“, „B“, „C“ oder „M“ nun weiblich oder männlich zu sein haben, hat Sarah Kane genauso offen gelassen, wie ihr Alter. Hier spielen ausschließlich Männer, in Frauenkleidern. Der universelle Charakter steht somit im Vordergrund. In ihrem Kleidungsstil und in ihrer Art sind die vier Männer gut zu unterscheiden. Der als einziger mitunter aufbrausende Gregor Andreska trägt ein rotes Abendkleid, der eloquente Andreas Jahncke ist in einem hautengen Evakostüm quasi nackt, der kämpferische Sven Marko Schmidt trägt ein elegantes Cocktailkleid im Charleston-Stil und der besonnene, eher introvertierte Paddy Twinem einen roten BH und einen grünen Morgenmantel (Kostüme: Anna Hasche).
Während der 65-minütigen Aufführung wird Kanes Gedankensplittertext äußerst vielseitig und spielerisch vorgetragen. A, B, C und M schleichen über die Bühne, rennen um diese herum, bilden ständig neue Formationen (Regie: Sarah Kortmann, Körperarbeit: Sarah Kortmann, Katharina Wiedenhofer). Nebenbei läuft eine dezente Soundcollage (Musik: Torsten Kauke), unterschiedliche Lichteffekte untermalen die sich ständig wechselnden Szenen (Lichtdesign: Nina Kömpel). Laut Angabe im Programmflyer sind weder Musik noch Licht auf die Spielgeschwindigkeit abgestimmt.
Die Spielfläche ist zu Beginn ordentlich aufgereiht wie in einem spießigen Vorgarten. Diese Struktur wird nicht nur aufgebrochen und zerstört, es entsteht auch eine neue, kreisförmige, als Ausdruck für die Sehnsucht nach Gemeinsamkeit und Nähe. Denn trotz aller Individualität, Traumata und Verlorenheit, braucht ein jeder ein Gegenüber, selbst beim finalen Tod.
Markus Gründig, September 21
Als Abschluss der Werkreihe wird ab 15. September 2021 Kanes letztes Stück 4.48 Psychose Premiere feiern. Im Februar 2022 beginnt mit dem 20.21 KANE innen Festival der Abschluss dieser besonderen Werkschau. Jede der insgesamt sechs Inszenierungen wird dann innerhalb von elf Tagen zu besuchen sein.
Gier
(Crave)
Von: Sarah Kane
Uraufführung: 12. August 1998 (Edinburgh, Traverse Theatre)
Deutschsprachige Erstaufführung: 23. März 2000 (Berlin, Schaubühne am Lehniner Platz)
Premiere an den Landungsbrücken Frankfurt: 9. September 21
Eine Produktion von KORTMANN&KONSORTEN
Regie: Sarah Kortmann
Bühne: Prisca Ludwig
Kostüme: Anna Hasche
Dramaturgie: Lucia Primavera
Foto: Niko Neuwirth
Musik: Torsten Kauke
Körperarbeit: Sarah Kortmann, Katharina Wiedenhofer
Lichtdesign: Nina Kömpel
Mit: Gregor Andreska, Andreas Jahncke, Sven Marko Schmidt, Paddy Twinem
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