Im Jahr 1995 schockierte die britische Dramatikerin Sarah Kane mit der Darstellung von roher Gewalt, Sex und Kannibalismus die Theaterwelt. 26 Jahre danach zeigen die Landungsbrücken Frankfurt ihr Skandalstück Zerbombt als Frankfurter Erstaufführung (als Vordiplom inszenierte Sarah Kortmann bereits 2007 eine Szenenfolge daraus am Frankfurter Gallus Theater). Zerbombt ist Teil der Werkschau 20.21 KANE innen. (2021kane-innen.de), die vergangene Woche mit In Her Face oder Die Autorin ist tot eröffnet wurde.
Eine verdammt gut gemachte Lesung
Die Inszenierung der Landungsbrücken ist keine szenische, sondern vielmehr eine verdammt gut gemachte Lesung. In der Oper würde man an dieser Stelle von einer konzertanten Aufführung sprechen. Durch die Lösung von einer szenischen Darstellung wird das Stück auf eine andere Ebene gehoben. Die Darstellung sexueller Aktivitäten (wie Masturbation und Vergewaltigung) und bestialischer Gewalt (wie Heraussaugen und Essen von Augen und einem Baby) wird vermieden. Bilder dafür entstehen allein im Kopf der Zuschauer. Hierfür werden die Regieanweisungen Kanes mit all diesen zwar dem Leben nachempfundenen, dadurch aber nicht minder perversen und scheußlichen Aktionen, zum Lesen auf die Bühnenwand projiziert.
Die drei Personen des Stückes, Ian, Cate und ein Soldat, stehen frontal zum Publikum (das sie zunächst auch direkt ansprechen), hinter ihnen sind zwei Musiker platziert. An den Seiten befinden sich große Bildschirmwürfel. Auf ihnen sind abwechselnd Bilder des Ensembles und TV-Bilder von Kriegshandlungen der Jugoslawienkriege (1991-2001), die u. a. mit dem unfassbaren Massaker von Srebrenica in Erinnerung stehen, zu sehen (Videotechnik: Steffen Scheuermann).
Zunächst geht es um die besondere Paargeschichte von Ian und Cate. Doch wenn dann eine Mörsergranate das Hotel indem die beiden sich befinden zerbombt, sind sie mit dem realen Leben, in Form des Kriegs, konfrontiert.
Mehrfachbesetzungen betonen Charakterzüge
Clou der Inszenierung von Linus Koenig und Felix Bieske ist die Mehrfachbesetzung von Ian und Cate. Dadurch ist es trotz des Vortragcharakters möglich, unterschiedliche Charakterzüge der beiden zu betonen.
So ist Cate als coole und selbstsichere Frau zu erleben (Magdalena Wiedenhofer), aber auch als empathische, verletzbare (Marlene Sophie Haagen) und als heitere, unbesorgte (Randi Rettel). Die Widersprüchlichkeit Kates, die Ian irgendwann mal geliebt hat und jetzt nur aus Mitleid zu ihm gekommen ist, wird deutlich.
Ian selbst hat auch zwei Seiten. Einerseits ist er ganz der stimmgewaltige Macho der alles im Griff zu haben scheint (Julian Koenig), anderseits scheint er aber auch verdächtig, etwas crazy und der Welt entrückt (Julius Ohlemann).
Christoph Maasch gelingt es vom traumatisierten und brutalen Soldaten ein komplexes Bild zu zeichnen.
Rocksounds und Klangeffekte
Die fünf Szenen des Stücks sind eingerahmt von live gespielten deftigen Rocksounds, die zusätzlich auch zwischen den Szenen Gelegenheit zum Absacken der Eindrücke und Gedanken geben. Nur zwei Musiker sorgen für einen dröhnenden Klang: Thomas Buchenauer (E-Gitarre & Sounds; mit einem Kopfschmuck, der mit Antennen nach Kontakt nach Außen aufnehmen zu wollen scheint, vielleicht aber auch einfach als stacheliger Schutzhelm dient) und Jens Eichler (Schlagzeug; mit einer einem Januskopf nachempfundenen Maske).
Die Kostüme von Ian und Cate erinnern an ein Memory-Spiel (Bühne & Kostüme: Anna Hasche). Der(s) einen Unterteil spiegelt sich im der(s) anderen Oberteil. Der Ian des Julius Ohlemann trägt statt einer bunten, legeren Leggins (wie der Ian des Julian Koenig), ein dünnes Tuch um die Hüfte (schließlich ist er eigentlich ja auch oftmals als nackt vorgegeben).
Viel Wert wurde auf die Aussprache gelegt. Zur Hervorhebung werden einzelne Szenen stimmlich verfremdet, sodass sie kindlich und naiv klingen. Manche werden mit Halleffekten unterlegt oder mit zugespielten Zuschauerreaktionen wie aus dem US-Fernsehen begleitet.
Dieser „flackerndem Popkulturpotpourri“ (Eigenankündigung Landungsbrücken) gefällt dank seiner heterogenen Erzählweise.
Markus Gründig, August 21
Zerbombt
(Blasted)
Von: Sarah Kane
Uraufführung: 12. Januar 1995 (London, Royal Court Theatre)
Deutschsprachige Erstaufführung: 26. September 21 (Deutsches Schauspielhaus Hamburg)
Premiere bei den Landungsbrücken Frankfurt im Rahmen von 20.21 KANE innen: 11. August 21
Besuchte Vorstellung: 12. August 21
Regie: Linus Koenig & Felix Bieske
Dramaturgie: Lucia Primavera
Musik: Thomas Buchenauer
Live Musik: Thomas Buchenauer, Jens Eichler
Bühne & Kostüme: Anna Hasche
Technik & Licht: Linus Koenig
Videotechnik: Steffen Scheuermann
Fotos: Niko Neuwirth
Mit: Marlene Sophie Haagen, Julian Koenig, Christoph Maasch, Julius Ohlemann, Randi Rettel, Magdalena Wiedenhofer
landungsbruecken.org