Im Oktober 2018 wurde die Oper Frankfurt zum vierten Mal, nach 1996, 2003 und 2015, bei der alljährlichen Umfrage des Fachmagazins Opernwelt zum „Opernhaus des Jahres“ gewählt. Zur Begründung äußerte sich die Opernwelt wie folgt: „Gewürdigt wird ein Haus, das unter Intendant Bernd Loebe und seinem Team seit vielen Jahren durch ein klug ausbalanciertes Programm, starke Regiehandschriften, eine exzellente Repertoirepflege und hohe Ensemblekultur Aufsehen erregt.“ Ganz in diesem Sinne erfolgte jetzt auch ein neuer Doppelabend, der mit zwei Opernraritäten aufwartet: Igor Strawinskys Oedipus Rex und Peter I. Tschaikowskis Iolanta. Zwei Stücke, die auf den ersten Blick wenig gemein haben, auch musikalisch. Das Regieteam um Regisseurin Lydia Steier und Bühnenbildnerin Barbara Ehnes präsentiert optisch zwei sehr unterschiedliche Werke, findet aber dennoch Verbindendes. In beiden geht es aber um Erkenntnis und um das Sehen, um Wahrheit. Bei Oedipus Rex wird ein Sehender freiwillig blind (weil er sich selbst die Augen eindrückt), in Iolanta wird eine blinde Frau durch die Kraft der Liebe sehend.
Igor Strawinsky (1882-1971) war ein überaus kreativer und markanter Komponist. Mit seinen Ballettmusiken Feuervogel, Petruschka und vor allem Le sacre du printemps (Das Frühlingsopfer) feierte er große Erfolge. Auch seine Opern sind nicht in Vergessenheit geraten. So wurde von der Oper Frankfurt zuletzt Historie du soldat (Geschichte vom Soldaten) 1996 im Bockenheimer Depot und The Rake’s Progress im Opernhaus (2012 und 2017) gespielt.
Das frei auf Sophokles‘ Tragödie beruhende Oedipus Rex ist ein Opern-Oratorium, das während einer religiösen Phase von Strawinsky entstand. Es wurde 1927 erstmals konzertant aufgeführt, im Folgejahr szenisch. Das vielschichtige, als neoklassizistisches Musterwerk geltende, Opern-Oratorium erzählt die Geschichte auf lateinisch, was sich für die musikalische Konzeption als besonders vorteilhaft erwies. Kurze Kommentierungen und Zusammenfassungen werden in der jeweiligen Landessprache des Aufführungsortes gesprochen (hier auf Deutsch im Raumklang aus Lautsprechern, als Geflüster von verschiedenen Kindern).
Die gebürtige US-Amerikanerin Lydia Steier verlagert die Geschichte um König Ödipus, der seinen Vater, unwissend, ermordete und genauso unwissend, seine Mutter ehelichte, vom Theben in mythischer Zeit in die Weimarer Republik. Eine Zeit, die mit der Suche nach politischen Lösungen nah zu unserer heutigen Zeit ist. Barbara Ehnes‘ Bühne nimmt Bezug zum Plenarsaal des Deutschen Reichstags in der Zeit der Weimarer Republik, in dem vor einer Wand zahlreiche dunkle Gestalten auf schwarzen Bänken sitzen, in schwarzer Kleidung und mit zum Teil fratzenähnlichen Gesichtsveränderungen. Die Atmosphäre ist düster, bedrohlich und unheimlich (Assoziationen zu Kafka, wie auch zu Halloween stellen sich schnell ein). Videoprojektionen auf die Fassade verstärken diese Eindrücke drastisch (Video: fettFilm), wie auch ein von zwei Pflegern mit Gasmasken vorgeführter Sterbenskranker mit Pestbeulen am ganzen Körper (die Pfleger werden später von Jokaste wie Hunde gehalten). Und doch ist auch hier das Leben in Form von Nachwuchs sichtbar (im Bauch von Jokaste und mit einem bereits geborenen Königskind).
Demgegenüber ist die Musik Strawinskys deutlich disparater. Aggressive, kraftvolle Töne (wie imposant vom Herrenchor eingebracht; Einstudierung: Tilman Michael), wechseln mit harten und glänzenden. Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester lotet diese Klangwelten unter dem Dirigat von Generalmusikdirektor Sebastian Weigle hintergründig aus. Im Mittelpunkt steht der Antwort suchende König, Oedipus Rex, gegeben vom langjährigen Ensemblemitglied Peter Marsh, der mit seinem warmen Stimmtimbre die Rolle wunderbar und ergreifend ausfüllt. Mezzosopranistin Tanja Ariane Baumgartner gibt eine starke Jokaste, die erst selbstbewußt Orakelsprüche in Frage stellt, sich dann aber klammheimlich wegschleicht. Neben Andreas Bauer (blinder Seher Teiresias ), Matthew Swensen (Hirte) und Brandon Cedel (Bote) gefällt Gary Griffiths als energischer Kreon. Am Ende des nur 50-minütigen Werkes setzt Regisseurin Lydia Steier erneut ein Zeichen: Hinter der Fassade hat sich inzwischen Jokaste stranguliert, während der inzwischen erblindete Oedipus Rex mit seiner Tochter im dunklen Nichts verschwindet.
Nach einer etwas längeren Pause als gemeinhin üblich, folgt mit Peter I. Tschaikowski lyrischer Oper Jolanthe ein Kontrastprogramm. Schon die Bühne ist jetzt deutlich farbiger, ja fast ganz in Pink. Doch der erste Anschein trügt. Die unwissend blinde Jolanthe lebt in einem großen Puppengefängnis, dessen Wände hunderte von gleichen Puppen zieren, die ihrem Äußeren ähneln und von zahlreichen Arbeiterinnen (Damenchor) unterhalb von Jolanthes Zimmer gefertigt werden (Bühne auch hier Barbara Ehnes; Kostüme bei beiden Opern: Alfred Mayerhofer).
Auch bei Jolanthe hat Regisseurin Lydia Steier einen ganz eigenen Blick auf das Werk als Tschaikowski . Aus der Oper mit Happy End macht sie eine traurige Missbrauchsgeschichte. Der sorgende Vater ist ein Industrieller, der sein blondes Püppchen im kindhaften Kleidchen absichtlich im Dunkeln lässt, um sie ganz für sich zu haben. Konsequenter Weise erschießt er sich am Ende, während Graf Vaudémont abseits auf einer Treppe harrt.
Tschaikowskis Musik, die im gleichen Jahr erschien wie seine Nussknacker-Ballettmusik, umschmeichelt die meisten Ohren leichter als die von Strawinsky. Mit der litauischen Sopranistin Asmik Grigorian in der Titelrolle ist diese Inszenierung ein unbedingtes Muss. Grigorian, die auch schon am Staatstheater Wiesbaden als Judit und Tatjana zu erleben war, wurde 2016 bei den International Opera Awards in London als „Beste Nachwuchssängerin“ ausgezeichnet. Große Aufmerksamkeit erregte ihre umjubelte Darstellung der Salome bei den diesjährigen Salzburger Festspielen. Die New Yorker Met, Covent Garden in London und die Mailänder Scala stehen bei ihr als nächstes an, wobei sie in 2019 auch erneut an der Oper Frankfurt zu erleben sein wird. Die blinde, naive Jolanthe spielt sie mit großer Authentizität und drückt die Zuschauer mit ihrem zarten aber dennoch kraftvollen Gesang in die Sitze.
Als der in sie verliebte Graf Vaudémont wächst Ensemblemitglied AJ Gluckert geradezu aus sich heraus. Erneut zu Gast ist Bass Robert Pomakov, der einen bedächtigen König René, Jolanthes Vater, gibt. Souverän Gary Griffiths als bereits in Kindesalter mit Jolanthe verlobter Herzog von Burgund (Robert) und erhaben Andreas Bauer als maurischer Arzt Ibn-Hakia, majestätisch Bass Magnús Baldvinsson als Pförtner des Schlosses (Bertrand) und angenehm Matthew Swensen als Waffenträger Almeric. Oftmals hinter Masken verborgen sind die Jolanthe umsorgenden Damen (Amme Martha: Judita Nagyová, Brigitta: Elizabeth Reiter, Laura: Nina Tarandek).
Mag die szenische Umsetzung auch zu unterschiedlichen Meinungen führen, musikalisch und sängerisch ist dieser Doppelabend ein großer Gewinn.
Markus Gründig, November 2018
Oedipus Rex / Iolanta
Premiere an der Oper Frankfurt: 28. Oktober 18
Besuchte Vorstellung: 1. November 18
Musikalische Leitung: Sebastian Weigle / Nikolai Petersen
Regie: Lydia Steier
Bühnenbild: Barbara Ehnes
Kostüme: Alfred Mayerhofer
Video: fettFilm
Licht: Olaf Winter
Chor: Tilman Michael
Dramaturgie: Mareike Wink
Besetzung Odipus Rex:
Ödipus: Peter Marsh
Jokaste: Tanja Ariane Baumgartner
Kreon: Gary Griffiths
Teiresias: Andreas Bauer
Hirte: Matthew Swensen
Bote: Brandon Cedel
Besetzung Iolanta:
Iolanta: Asmik Grigorian
König René: Robert Pomakov
Graf Vaudémont: AJ Glueckert
Robert: Gary Griffiths
Ibn-Hakia: Andreas Bauer
Martha: Judita Nagyová
Brigitta: Kateryna Kasper
Laura: Nina Tarandek
Bertrand: Magnús Baldvinsson
Almeric: Matthew Swensen
Chor der Oper Frankfurt
Frankfurter Opern- und Museumsorchester