Lutz Hübners und Sarah Nemitzs Stück Frau Müller muss weg aus dem Jahr 2010 wurde durch Sönke Wortmanns Film 2015 richtig bekannt. Über 1,1 Millionen Zuschauer sahen die Komödie in den Kinos. Das neueste Stück des erfolgreichen Autorenduos, ein Auftragswerk des Schauspiel Frankfurt, wurde jetzt am selbigen uraufgeführt, unter der Regie des Intendanten Anselm Weber, der mit den beiden bereits am Schauspiel Bochum zusammengearbeitet hat. Furor ist ein Kammerspiel für drei Darsteller. Eine Frau und zwei Männer reichen aus, um die aktuellen gesellschaftspolitischen Veränderungen mit den sich im freien Fall befindlichen Volksparteien und den aufstrebenden rechtspopulistischen Parteien zu thematisieren.
Als Kammerspiel zeigt es auch das Schauspiel Frankfurt, allerdings im (großen) Schauspielhaus. Der Bühnenvorhang wurde durch ein überdimensionales täuschend echt wirkendes Bild einer Wohnhochhausansicht ersetzt (so wird die aktuelle Debatte um bezahlbare Wohnungen mit gestreift; Bühne: Lydia Merkel). Vor dem Bild befindet sich, ähnlich wie u. a. bei Die Blechtrommel, eine kleine Spielfläche, die vor die eigentliche Bühne gesetzt wurde, wodurch die ersten Zuschauerreihen entfallen. Eine Couch, ein Couchtisch und ein Stuhl deuten das Wohnzimmer der selbstständigen Altenpflegerin Nele an. Deren drogenabhängiger achtzehnjähriger Sohn liegt nach einem Unfall seit zweieinhalb Wochen schwer verletzt im Krankenhaus. Er wird zwar durchkommen, hat inzwischen auch die Intensivstation verlassen können, doch wie wird es mit ihm weitergehen, mit amputiertem Bein und zertrümmertem Schulterblatt? Wie wird er alleine in der engen und kleinen Wohnung zurechtkommen und was wird aus ihm werden können? Fragen über Fragen, die Nele zutiefst beschäftigen. Katharina Linder spielt diese einfache und verzweifelte Frau mit enorm viel Feingefühl und sehr authentisch.
Hilfe kommt vom Fahrer des Unfallwagens, einem hochgestellten pragmatischen Beamten, der sich gerade für das Amt des Oberbürgermeisters bewirbt. Ihn trifft keine Schuld am Unfall, doch was sind seine wahren Beweggründe für sein Erscheinen bei der Familie? Dietmar Bär, als Gast vom Schauspiel Bochum und Kölner Tatort Kriminalhauptkommissar Alfred („Freddy“) Schenk, gibt diese Figur zunächst mit politischer Gewandtheit. Mit ach so verständlichen Worten weiß er Nele aufzubauen und Hoffnung auf Lösungen zu wecken.
Richtig spannend wird der knapp zweistündige Abend dann aber durch das Hinzutreten von Neles Neffen Jerome, einem einfachen Paketboten, der nun seine große Chance wittert, den bigotten Politiker, den er als Vertreter eines gewirtschafteten Systems sieht, abzuzocken. Fridolin Sandmeyer hat für diese Rolle seine schöne Lockenpracht eingebüßt, mit der er bisher immer zu sehen war. Mit sehr kurzen Haaren wirkt er nun bedrohlicher und markanter. Sein Jerome ist ein 29-jähriger einfacher Mann, der voll Furor ist. Das selten genutzte Wort steht laut Duden für Entrüstung, Erbitterung, Erregung, Rage, Raserei, Tobsucht, Wut und Zorn. In einer bizarren Mischung zwischen kindhafter Zurückgezogenheit, kühnen Überlegungen und unbeherrschten Wutausbrüchen steht er für all diejenigen, die das Gefühl haben, heutzutage auf der Strecke des Lebens liegen geblieben zu sein, die sich tagtäglich abstrampeln um am Monatsende höchstens bei Null anzukommen. Sandmeyer spielt diese Figur brillant. Die Situation spitzt sich von Moment zu Moment zu, wobei nie genau gesagt werden kann, wie es im nächsten Moment weitergehen wird. Schließlich ist dieser aufgebrachte Jerome, der viel fordert aber letztlich keine eigene Ideen hat, unberechenbar und weiß nur zu geschickt gegen die vermeintliche „Lügenpresse“ zu argumentieren und selber die Macht sozialer Medien für eigene Fake-News zu nutzen.
Ein packender Abend mit großartigen Darstellern. Kräftiger und langer Applaus für alle Beteiligte.
Markus Gründig, November 18
Furor
Von: Lutz Hübner und Sarah Nemitz
Premiere/Uraufführung am Schauspiel Frankfurt: 2. November 18
Besuchte Vorstellung: 2. November 18
Regie: Anselm Weber
Bühne: Lydia Merkel
Kostüme: Irina Bartels
Musik: Thomas Osterhoff
Kampfchoreografie: René Lay
Dramaturgie: Ursula Thinnes
Besetzung:
Heiko Braubach: Dietmar Bär
Nele Siebold: Katharina Linder
Jerome Siebold: Fridolin Sandmeyer
www.schauspielfrankfurt.de
Furor
SchauspielFrankfurt
Jerome Siebold (Fridolin Sandmeyer), Nele Siebold (Katharina Linder)
© Thomas Aurin