Anregende Science- Fiction Detektivgeschichte »Unheim« am Schauspiel Frankfurt

Unheim ~ Schauspiel Frankfurt ~ Edna (Lea Beie), Ira (Tanja Merlin Graf) ~ Foto: Felix Grünschloß
kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Bereits Ende Oktober fand die Uraufführung von Wilke Weermanns Unheim in den Kammerspielen des Schauspiel Frankfurt statt. Eigentlich hätte diese schon Anfang April 22 stattfinden sollen. Wegen Erkrankungen im Ensemble wurde sie in die aktuelle Spielzeit verschoben. Was sich, wie Dramaturg Alexander Leiffheidt beim Publikumsgespräch im Anschluss an die besuchte zweite Vorstellung sagte, als ein Glücksfall erwies. Denn das Stück konnte dadurch weiter entwickelt werden. Es ist ein Auftragswerk des Hauses. Dem Autor wurden nur die in Betracht kommenden Darsteller:innen mitgeteilt, inhaltlich war er frei.

Der 30-jährige Autor und Regisseur schuf einen Mix aus Geister-, Detektiv und Science-Fiction-Geschichte. Im Kern geht es um die Frage, „wie die Allgegenwart des Digitalen heute und in Zukunft unsere Vorstellungen von Geist und Materie, Realem und Spirituellem, Sterblichkeit und Unsterblichkeit verändern wird… Wo verläuft die Grenze zwischen Leben und Simulation, Leben und unbelebter Maschine, Leben und Tod?“ (A. Leiffheidt im Programmheft).

Unheim
Schauspiel Frankfurt
Tomasz (Michael Schütz), Thees (Torsten Flassig), Sven (Wolfgang Vogler), Ira (Tanja Merlin Graf)
Foto: Felix Grünschloß

Enhancements und Glichtes

Was sich zunächst etwas abstrakt anhört, ist im Ergebnis konkret, leicht nachvollziehbar und unterhaltsam. Das Stück spielt in der Zukunft. Die digitale Technik, insbesondere die Künstliche Intelligenz (KI), hat sich rasant weiterentwickelt. VR-Brillen waren gestern, jetzt haben alle Menschen irreversibel eingesetzte Implantate, sogenannte Enhancements. Man sieht „overlay“, jeder sieht seine eigene Wunschrealität. Das hat praktische Folgen, denn auch in der Zukunft gibt es alte Probleme, wie Wohnungsmangel. In einem per Sondergenehmigung ermöglichten Prestigeprojekt namens Arcadia, wird Wohnraum körperlich geteilt. Die Teilung wird innerhalb der WG aber nicht wahrgenommen. Die ausgefeilte KI sorgt dafür, dass sich die Bewohner innerhalb der Wohnung nicht begegnen oder womöglich gar berühren. Dumm nur, dass die KI nicht schlau genug ist, die Spuren ehemaliger Bewohner automatisch zu entfernen. Die Routinen ihres „Smart Livings“ lagern noch auf dem Server im Keller und sorgen gelegentlich für „Glitches“ mit verheerenden Folgen. Deshalb wird eine Ermittlerin für anomale Phänomene beauftragt, dem Problem auf den Grund zu gehen. Sie fördert Überraschendes zutage…

Unheim
Schauspiel Frankfurt
Ira (Tanja Merlin Graf), Séverine (Lea Beie), Tomasz (Michael Schütz), Sven (Wolfgang Vogler), Thees (Torsten Flassig)
Foto: Felix Grünschloß

1980er Videospiel-Ästhetik

Für die Darstellung der Zukunft wurde die Vergangenheit gewählt. Die Bühne von Johanna Stenzel gleicht einer klassischen Barockbühne. In ihrer blauen und lila Ausleuchtung, zusammen mit großen Kerzenleuchtern, wäre sie auch eine passende Kulisse für die Adams Family. Es gibt ein paar wenige Einrichtungsgegenstände (wie Kommode, Bank), konkrete Wohnräume werden nicht gezeigt. Prospekte im Hintergrund deuten einen Garten an, zum Schluss hin ist dort ein Ruinen-Idyll zu sehen (Arcadia braucht also noch einige Updates, um nachhaltig zu funktionieren). Die sich verjüngenden Bühnenrandbauten greifen die Ästhetik der 1980er Computerpiele mit ihren großen Pixeln auf (Pixel-Art: Sophie A. Herrmann). Auch die Figuren selbst bewegen sich roboterhaft wie Spielfiguren aus dieser Zeit. Das oben erwähnte Auftreten von „Glitches“ stammt ebenfalls aus dem Bereich der Computer-/Videospiele, dort steht es für auftretende Programmierfehler (wenn z. B. plötzlich Figuren erscheinen, die gar nicht in das aktuelle Bild gehören). Herausragend sind die auffallenden Kostüme aus Neopren, bei denen eine möglich 2D-hafte Wirkung angestrebt wurde (Kostüme: auch Johanna Stenzel). Die untermalenden Klanggeräusche (Komposition und Sounddesign: Constantin John) bleiben sehr zurückhaltend im Hintergrund.

Im Mittelpunkt steht die Ermittlerin Ira, die im Gegensatz zu den WG-Bewohnern, zunächst noch keine implantierten Enhancements hat. Tanja Merlin Graf gibt sie agil, beflissen und neugierig. Lea Beie, erstmals am Schauspiel Frankfurt zu erleben, ist Iras Schwester Edna und die Immobilienfachfrau Séverine. Torsten Flassig gibt mit pointiert gesetzten Bewegungen den ordnungsliebenden und furchtsamen WG-Bewohner Thees. Michael Schütz ist der als Impresario auftretende und durchaus praktisch denkende WG-Bewohner Tomasz und Wolfgang Vogler der spirituell orientierte WG-Bewohner Sven. Hinzu kommen zahlreiche eingespielte Stimmen (Laura Eichten, Mathilda Geiße, Cecilia Geiße, Sarah Grunert, Nils Malten, Isabel Thierach, Dominik Weber).

Am Ende der pausenlosen 90-minütigen Aufführung großer Zuspruch vom Publikum für Wilke Weermans anregende erste Arbeit in Frankfurt/M.

Markus Gründig, November 22


Ausführliche Hintergrundinformationen gibt es auch im über 40-minütigen Podcast „Vorgehört“ (Dramaturg Alexander Leiffheidt im Gespräch mit Wilke Weermann, Johanna Stenzel und Constantin John; abrufbar u. a. über die Webseite des Schauspiel Frankfurt).


Unheim

Von: Wilke Weermann
Uraufführung: 29. Oktober 2022 (Frankfurt/M; Schauspiel Frankfurt)

Premiere/Uraufführung am Schauspiel Frankfurt: 29. Oktober 22 (Kammerspiele)
Besuchte Vorstellung: 10. November 22

Regie: Wilke Weermann
Bühne und Kostüme: Johanna Stenzel
Komposition und Sounddesign: Constantin John
Pixel-Art: Sophie A. Herrmann
Dramaturgie: Alexander Leiffheidt
Licht: Johannes Richter

Besetzung:

Ira: Tanja Merlin Graf
Edna / Séverine / heimgesuchte Frau: Lea Beie
Thees / Hifi-Verkäufer: Torsten Flassig
Tomasz / Vater des Hifi-Verkäufers: Michael Schütz
Sven / Dr. Tim Rosnau: Wolfgang Vogler

Stimmen: Laura Eichten, Mathilda Geiße, Cecilia Geiße, Sarah Grunert, Nils Malten, Isabel Thierach, Dominik Weber

schauspielfrankfurt.de