kulturfreak.de Besprechungsarchiv Musical und Show, Teil 11

© Auri Fotolia

AIDA

Staatstheater Darmstadt
Besuchte Vorstellung: 10. September 11 (Premiere)

Die Geschichte stellt die Frage,
wo der Sinn des Leidens liegt.
Und die Hoffnung gibt als Antwort:
Liebe, die den Tod besiegt

 [Amneris, 2. Akt, Epilog]

Wenn die Zuschauer feuchte Augen bekommen, dann haben es diejenigen auf der Bühne wohl mehr als richtig gemacht. So auch jetzt, bei der Premiere von Elton Johns und Tim Rices Musical AIDA, das die tragische Liebesgeschichte zwischen dem ägyptischen Heerführer Radames und der nubischen Prinzessin Aida erzählt. Doch der Reihe nach. Nach seiner deutschsprachigen Erstaufführung im Essener Colosseum Theater tourte das Stück zunächst durch die Republik und wurde zuletzt mehrfach bei Freilichtfestspielen inszeniert. Inzwischen sind die Aufführungsrechte auch für Stadttheater erhältlich und das Staatstheater Darmstadt zeigt zeitgleich mit der Oper Chemnitz die berühmte Liebesgeschichte, die nicht zuletzt durch Verdis gleichnamige Oper bekannt ist.
Auch wenn für eine Longrun-Produktion selbstverständlich ein wesentlich aufwendigeres Bühnenbild genutzt werden kann, als für eine Stadttheaterproduktion, wo jeden Abend ein anderes Stück gegeben wird, braucht sich das Bühnenbild von Thomas Dörfler, wie auch die gesamte Inszenierung, nicht hinter der Essener Großproduktion zu verstecken. Ganz im Gegenteil. In Darmstadt besticht einfach alles: neben den großartigen Optiken hinsichtlich Bühnenbild und Kostüme auch die Darsteller, die großen Ensemble- und Tanzszenen und die präzise Personenführung seitens der Regie von Johannes Reitmeier.

AIDA
Staatstheater Darmstadt
Aida (Dominique Aref), Radames (Chris Murray)
Foto: Barbara Aumüller ~ szenenfoto.de

Obwohl es gar nicht so viel Kulissen und Requisiten gibt, schaffte das Inszenierungsteam mit gut gemachten Bild- und Videoprojektionen den Zauber des alten Ägypten mit seinem Pharao, seinem Palast und den Pyramiden aufleben zu lassen. Die an sich leere Bühne ist eingerahmt von goldenen Quadern, im Mittelpunkt steht eine goldene, große und zweigliedrige moderne Stahltreppe. Vitrinen der Eröffnungsszene werden umgelegt, gleichzeitig als Boot für die Fahrt von Nubien nach Kairo genutzt. Die Pharaonentochter Amneris residiert auf einer modernen, goldenen Wellnessliege. Wie Gold generell die Farbe der Inszenierung ist, aus der natürlich auch das Portal des Pharaonenpalastes besteht (die einzig wirklich große Kulisse der Inszenierung).
Für diese Inszenierung verpflichtete das Staatstheater Darmstadt für die Besetzung der Hauptrollen Gäste. Der Deutsch-Amerikaner Chris Murray war hier bereits bei Webbers/Rices Musical „Jesus Christ Superstar“ engagiert. Bei AIDA spielt er erstmals den Radames. Und scheint ob seiner schier vor Kraft berstenden Rockstimme fast ein wenig unterfordert. Einen ersten Zwischenapplaus kann er schon bei seinem ersten Lied („Wer viel wagt, der gewinnt“) für sich verbuchen. Doch glänzt er auch im Piano, wie bei „Von einem Traum entführt“, kurz bevor er gemeinsam mit Aida unter dem Sand Ägyptens versinkt und ist stets sehr gut zu verstehen. Als AIDA erzaubert Dominique Gref mit viel Anmut und glaubhafter Entwicklung der sorglosen Prinzessin zur zwischen der Liebe zu Radames und zu ihrem Volk hin und her Gerissene. Überaus erfrischend und mit guter Laune ansteckend: die Amneris der Sigrid Brandstetter. Amneris ist ja die unglückliche Dritte, doch beweist sie am Ende trotz des Verrats große Gefühle. Ihre größte Nummer ist „Mein Sinn für Stil“, bei der bei der Essener Produktion einst ein großer Swimmingpool beeindruckte. Hier geht es ein klein wenig nüchterner zu, mit einem Clou wartet man aber auch hier auf. Die Modenschau wird von den männlichen Tänzern in exquisiten Frauengarderoben vorgeführt (für ein i-Tüpfelchen hätten sie allerdings auch Highheels tragen können). Die Nummer kommt groß an. Randy Diamond gibt einen diabolischen und energetischen Zoser. Großartig seine Kampfszene mit Radames, bei der die Bühne in ein blaues, nächtliches Licht getaucht ist („Wie Vater, so Sohn“). Ensemblemitglied Andreas Wagner gibt einen erwachsenen Mereb, klangschön, allerdings hört man hier im Unterschied zu den Gastmusicalsängern, seinen Opernstil ein klein wenig heraus.

AIDA
Staatstheater Darmstadt
Amneris (Sigrid Brandstetter)
Foto: Barbara Aumüller ~ szenenfoto.de

Schauspielerisches Können und eine starke Präsenz zeichnet das gesamte Ensemble aus. Zumal das 3-Sparten-Haus auch jeweils fünf Damen und Herren vom Ballett für diese Produktion eingebunden hat, wodurch die Tanzszenen deutlich aufgewertet sind. Allerdings hatte Choreografin Anthoula Papadakis den Grußspruch „Hals und Beinbruch“ zu wörtlich genommen, zwei Tage vor der Premiere wurde ihr rechtes gebrochenes Bein operiert (weshalb sie beim Schlussapplaus im Rollstuhl auf der Bühne erschien).
Viel Aufwand wurde in die Kostüme (Kostüme: Michael D. Zimmermann) für das große Ensemble gesteckt, sei es bei denen für das ägyptische Volk, für die große Garde von Amneris Beautytempel (alle in Handtücher eingewickelt) oder die Schergen Zosers (in strengen Uniformen). Die im Programmheft nicht näher genannten Musiker spielten unter der Leitung von Vladislav Karklin einen satten Sound, der die Musik Elton Johns unter die Haut gehen ließ.

AIDA
Staatstheater Darmstadt
Aida (Dominique Aref) und Ensemble
Foto: Barbara Aumüller ~ szenenfoto.de

Da laut Programmheft die Dekorationen und Solisten-Kostüme in den Werkstätten des Pfalztheaters Kaiserslautern gefertigt wurden, wird diese Inszenierung wohl in einer der kommenden Spielzeiten auch dort zu sehen sein. Zunächst kann sich das musicalfreudige Publikum aber an der Darmstädter Inszenierung laben.

Markus Gründig, September 11


Sunset Boulevard

Bad Hersfelder Festspiele
Besuchte Vorstellung: 20. Juni 11

Helen is Back. Größer als je zuvor. Kein Star wird jemals größer sein.

Nun war es soweit. Nach 12 Jahren nun kehrt Helen Schneider in ihrer Glanzrolle der Norma Desmond auf die Bühne zurück. Nun…ich war gespannt. Ich, der Sunset Boulevard Fan der ersten Stunde. Begonnen auf der Pressekonferenz mit Sir Andrew Lloyd Webber und Peter Weck im Kurhaus in Wiesbaden, über die Grundsteinlegung des Rhein-Main-Theaters in Niedernhausen bis zur Versteigerung der Kostüme nach der Insolvenz. Ich geb’ es zu. Ich war nie Helen Schneider Fan. Ihre Darbietung der Norma Desmond, einer alternden Diva, war meiner Meinung nach für eine damals Mitte Vierzigjährige einfach falsch besetzt. Zu jung war die Schneider für diese Rolle. Zu leidend in ihren gesanglichen Ausführungen. Dazu kam noch die opulente Ausstattung von John Napier die einem heute noch den Atem raubt, wenn man allein an das Haus der Desmond denkt. Nun…das alles ist Geschichte. Denn Helen Schneider ist zurück. Und das größer als je zuvor. An Reife und Alter nun genau in die Rolle passend, schreitet sie in einer roten Bobperücke die endlos lange Treppe herab, als wäre das Musical für sie geschrieben. Sie hat die Bühne und das Publikum im Griff. Sie weiß, ich bin der Star und das spielt sie perfekt. Gesanglich eine der besten Darbietungen die ich je von ihr gehört habe. Schauspielerisch grandios. Vergessen die ersten Jahre Sunset Boulevard. Ich verneige mich vor diesem sensationellen Auftritt.
Rasmus Borkowski als Joe Gillis liefert eine ordentliche Darstellung ab. Obwohl ein wenig zu jung im Vergleich mit Helen Schneider stimmt die Chemie zwischen den beiden. Stimmlich grandios überzeugt er in allen Lagen. Ein wenig zum Schmunzeln, die Szene „ Die Rechnung zahlt die Dame „, in der er in einen Frack gezwängt wird. Ein wenig erinnert er mit seinem jugendlichen Charme an einen frühen Max Raabe. Großes Lob für dieses Bild an das Ensemble und besonders an Claus Dam. Auch er brilliert in den verschiedenen Rollen und ist ein Profi an allen Stellen seiner Bühnenpräsenz.
Der Part der Betty Schäfer war schon immer undankbar. Das mit Frauenrollen ohnehin spärlich besetzte Musical lässt die Rolle der Betty Schäfer neben der der Norma Desmond leicht verblassen. Leider konnte auch Wietske van Tongeren keine großen Momente für sich beanspruchen. Stimmlich hatte sie keine Probleme. Aber leider war sie zu alt und zu blass für Joe Gillis. Auch bei dem Liebesduett „Viel zu sehr“ sprang kein Funke über. Aber schon Uwe Kröger und Barbara Wallner hatten Probleme mit dieser Szene. In diesem Falle ist eine sehr gute Darstellerin und Sängerin in die undankbare Rolle gerutscht.
Aber nun zu Max von Mayerling. Es war nur eine Frage der Zeit, wann Helmut Baumann in diese Rolle schlüpft. George Hearn, der in der Broadwayproduktion mit Glenn Close diesem Part seinen Stempel aufgedrückt hat und alle Max-Darsteller weltweit an ihm bis dato gemessen wurden, war auch der erste Darsteller der Zaza in „ La Cage aux Folles“. (Wo war George Hearn der erste Darsteller der Zaza? Weltweit, überhaupt? Muß hin) Nun also spielt die erste Zaza in Deutschland (die legendäre Aufführung des „Theater des Westens“ mit Helmut Baumann ist in die Geschichte des Theaters eingegangen) die Rolle des Max von Mayerling. Und das anders als gewohnt und deshalb sensationell. Helmut Baumann drückt einen neuen Stempel auf die Rolle und gibt eine grandiose Darstellung. Vom Text her gibt der Part nicht allzu viel her. Aber das, was Max von Mayerling singt und sagt, das hat einfach das Können eines Helmut Baumann. Allein seine Bühnenpräsenz rundet das Quartett um Liebe, Eifersucht und Mord ab.
Nun zum Set. Wie bringt man Hollywood, Paramount, Norma Desmonds Haus, Schwab´s Drugstore und ein Riesenauto in eine mittelalterliche Ruine, die schon aus Denkmalschutzgründen keine großen Sets erlaubt? Nun, das ist die Kunst der Bad Hersfelder Festspiele. Regisseur Gil Mehmert hat zusammen mit Setdesignerin Heike Meixner und Lichtdesigner Henrik Forberg ganze Arbeit geleistet. Man vermisst nicht eine Minute das opulente Set der Uraufführung. Mit wenigen Requisiten, zwei Palmen, einer schrägen Bühne, die gleichzeitig Wohnzimmer, Büro, Schwab´s, und Paramount-Studio ist, haben die Kreativen eine einmalige Kulisse geschaffen, die durch die berühmte Treppe abgerundet wird. Das Orchester unter Christoph Wohlleben spielte die schwierige Partitur ohne Probleme und sorgte an manchen Stellen für Gänsehaut. Zum Beispiel „ Träume aus Licht“. Diese Szene ist eine der großen Momente in dieser Aufführung. Helen Schneiders exzellentes Spiel und die Partitur Lloyd Webbers zeigen, dass Sunset Boulevard immer noch ein Musical der Spitzenklasse ist. Und Bad Hersfeld hat bewiesen, dass es auch mit wenig ganz groß sein kann. „Bleiben ist Pflicht. Ich geb’ der Welt Träume aus Licht, jeder Mensch braucht Träume aus Licht“ singt Norma Desmond. Bad Hersfeld hat sie uns gegeben, diese Träume.

Thomas Bäppler-Wolf, Juni 11


Anatevka

Burgfestspiele Bad Vilbel
Besuchte Vorstellung: 10. Juni 11

Mit Musicals wie „Harry und Sally“ und „Jekyll & Hyde“ haben die Burgfestspiele Bad Vilbel in den vergangenen Jahren Mut zu neuen Stücken bewiesen, wie derzeit auch beispielsweise die Clingenburg Festspiele („AIDA”), die Schlossfestspiele Ettingen („Rent“) oder das DomplatzOpenAir Magdeburg („Die Schöne und das Biest“). Für ihre aktuelle Jubiläumsspielzeit („25 Jahre“) zeigen sich die Burgfestspiele Bad Vilbel bei ihrem Programm weitgehend traditionell. Nachdem im Komödienbereich „Die Feuerzangenbowle“ Premiere feierte, folgte nun als Musical der Klassiker „Anatevka“ (dessen Hit „Wenn ich einmal reich wär´“ auch heute noch vielen bekannt sein dürfte).

Anatevka
Burgfestspele Bad Vilbel
Tevje (Marco Jorge Rudolph)
Foto: Eugen Sommer

Bei der Umsetzung folgte Regisseur Egon Baumgarten den Freilichtspielgepflogenheiten und zeigt das Stück weniger mit einem modernen Regietheateransatz, als mit einer sich dicht am Original haltenden Umsetzung. Die hervorragend gemachte, liebenswerte Hommage kommt, wie zahlreiche Zwischenbeifälle und der Schlussapplaus zeigten, beim Publikum sehr gut an. Gespielt wird wie vorgesehen im frühen 20. Jahrhundert, in einem zaristischen, vorrevolutionären kleinen ukrainischen Dorf, genannt Anatevka. Hierfür wurde ein schräges Holzpodest von großen Holzlatten umsäumt. Mit ihrem scheunenartigen Erscheinungsbild erzeugt es eine passende ländliche, provinzielle Umgebung. Das kleine Orchester ist hinter einem dieser Verschläge untergebracht und über diesem befindet sich das Schlafzimmer von Golde und Tewje. Das Podest dient mit ein paar Tischen und Stühlen als Essraum und Wirtshaus. Der Fiedler (Benedikt Bach) kommt zu Beginn über eine seitliche Burgmauer und eröffnet mit seinem melancholischen Spiel die Geschichte. Die einfachen und hoch geschlossenen Kleider der Dorffrauen, wie auch die Anzüge und Trachten der Dorfmänner, sind in dunklen, erdigen Farben gehalten (Ausstattung: Thomas Pekny).

Anatevka
Burgfestspele Bad Vilbel
Lazar Wolf (Heiko Stang), Ensemble
Foto: Eugen Sommer

Der optischen (Farb-) Bescheidenheit konträr sind die Figuren. Das fängt bei der Größe des Ensembles an und reicht über die vortreffliche Besetzung bis zu den sprühenden Darstellern, die mit großer Leidenschaft ein lebendiges und gar nicht so altertümlich anmutendes Bild einer kleinen Dorfgemeinschaft wiedergeben. Allen voran Marco Jorge Rudolph, als ein großartiger, mannsstarker Tewje, der gehörig nicht nur mit seinen fünf heiratsfähigen Töchtern und einem lahmenden Pferd zu kämpfen hat, sondern auch herrliche Zwiegespräche mit Gott führt und davon träumt, was wäre, wenn er einmal reich wär´. Marina Edelhagen gibt eine starke und fürsorgliche Golde. Rührend das Duett der beiden: „Ist es Liebe?“.
Dazu passen die eigenwilligen Töchter. Wie die älteste Zeitel (fröhlich und lebhaft: Dorothée Kahler), die lesefreudige Chava (elegant: Stephanie Marin) oder die wissbegierige Hodel (mit großer Aura: Nina Vlaovic). Bei deren Ehemännern bzw. Verlobten ragt Oliver Heim als Schneider Mottel ganz besonders heraus, da er sich glaubhaft von einem anfänglichen Jugendlichen zu einem reifen, verantwortungsbewussten Ehemann wandelt und das Ganze mit viel Spielfreude tut. Udo Eickelmann gibt sich als sympathischer, großstädtischer Student mit viel Einfühlungsvermögen für die Dorfgemeinschaft. Raphael Koeb bringt als Fedja mit seinem Tanz (Choreografie: Stephan Brauer) Leben auf den Platz. Und auch die weiteren Rollenbesetzungen überzeugen, wie die des Rabbi (unverklemmt: Thorsten Tinney), seines Sohns Mendel (übermütig: Sebastian Hammer), der Metzger Lazar Wolf (kraftvoll: Heiko Stang), der Gastwirt Motschach (kumpelhaft: Axel Kraus) oder der Wachtmeister (hoheitsvoll: Axel Weidemann). Originell ist die Heiratsvermittlerin Jente der Inez Zimmer, voller Esprit und Eigensinn.
Gesungen wird mit einheitlich hohem Niveau. Ein besonderer Genuss ist das begleitende nuancenreiche und farbige Spiel des mit vielen Streichern besetzte kleine Orchester unter der Leitung von Thomas Lorey und der Chor Vil-BelCanto.
Gelegenheit eine Zeitreise in die Welt von „Anatevka“ zu unternehmen besteht noch bis zum 29. August 11.

Markus Gründig, Juni 11


Pinkelstadt

Musical Inc im P1, Hörsaal des Philosophicum der Uni Mainz
Besuchte Vorstellung: 27. Mai 11 (Premiere)

„Jeder Strahl hat seinen Preis“

Wenn das Publikum schon zur Pause ganz aus den Häuschen ist, ist klar, dass auch der Schlussapplaus entsprechend euphorisch ausfallen wird. So passierte es auch jetzt wieder bei der Premiere des Musicals „Pinkelstadt“ im Mainzer P1, dem Hörsaal des Philosophicum der Uni Mainz. Selbst wenn man unterstützende Freunde und Verwandte im Publikum berücksichtigt, war bei mehreren Gesprächen in der Pause und danach herauszuhören, dass viele Besucher ganz überrascht waren, wie vielseitig, musikalisch ansprechend und mit viel Witz und Spielfreude das Musical „Pinkelstadt“ hier präsentiert wird, seinem nicht gerade werbewirksamen Titel zum Trotz. Und damit hatten die Gäste vollkommen recht.

Pinkelstadt
Musical Inc., Mainz
Ensemble
© Musical Inc., Mainz

Das Stück lief erst Off-Broadway und feierte am 20. September 2001 seine Premiere im New Yorker Henry Miller’s Theatre am Broadway Premiere (die aufgrund der Theaterschließungen anlässlich des Angriffs auf das World-Trade-Center um eine Woche verschoben worden war). In 2002 war es u. a. als “Best Musical” bei der jährlichen Tony Award Verleihung nominiert (ausgezeichnet wurde es mit drei Tony Awards: „Best Book of a Musical“,  „Best Original Musical Score“ und „Best Direction of a Musical“). Darüber hinaus wurde es in 2001 bei den Drama Desk Awards und in 2002 mit dem Theatre World Award ausgezeichnet. Am Broadway lief es unter dem Originaltitel „Urinetown“ bis zum 18. Januar 2004. Die deutschsprachige Erstaufführung erfolgte mit Ilja Richter in der Rolle des Herrn von Mehrwerth im Oktober 2004, anlässlich der Wiedereröffnung des Berliner Schlosspark-Theaters.  Es ist schon etwas verwunderlich, dass das Musical seitdem nur selten gespielt wird. Die Mainzer Musical Inc. (eine eingetragene Hochschulgruppe der Uni Mainz, die seit 1993 kleine und große Musicals produziert) zeigt jetzt, welch Potential in dem Stück liegt und dass es sich sehr gut auch für Stadttheater mit großem Ensemble eignet. Die Musical Inc. ist eine Laiengruppe, die sich aus Teilnehmern verschiedener Studienrichtungen zusammensetzt. Die Musik und das Spiel führt hier u. a. Biologie-, Jura-, Mathematik-, Medizin-, Politik- und Soziologiestudenten zusammen. Das Ergebnis: eine hochkarätige Produktion, die mit viel Spiel- und Sangesfreuden überzeugt.

Das Musical bedient allerhand Klischees und bietet einen gelungenen Mix aus Gesellschaftskritik (gegen ein Preismonopol, das aktuell mit der Diskussion über die zu hohen Spritpreisen vergleichbar ist), eine Liebesgeschichte und wartet auch mit vielen persönlichen Bezügen auf (vom Wert und der Wertschätzung des eigenen Lebens). Dabei hat das Comedymusical kein klassisches Happy-End. Allerhand Themen werden angeschnitten und mit gefühlvollen Songs untermalt. Die Musik besteht aus ins Ohr gehenden, klassischen Musicalmelodien, aber auch Gospel, Soul und nicht zuletzt Kurt Weil klingen an. Eine zehnköpfige Liveband unter der Leitung von Thomas Wagner sorgt für einen schmissigen, satten Klang (sitzt aber leider unsichtbar im hinteren Teil der Bühne). Die Musical Inc. leistet sich sogar einen großen Chor, der in dieser Form eigentlich gar nicht vorgesehen ist. Hier agieren die Darsteller teilweise in Doppelbesetzung und gerade diese großen Szenen beeindrucken (wie wenn Fahne schwingend à la „Les Misérables“ der Ruf nach Freiheit und Gerechtigkeit erklingt). Viel Wert wurde auch auf ausgefallenen Tanzszenen (Choreografie: Carolin Stillger) gelegt.

Pinkelstadt
Musical Inc., Mainz
Ensemble und Werdmehr von Mehrwerth (Stefan Dufleaux)
© Musical Inc., Mainz

Die Geschichte spielt überwiegend in der Bedürfnisanstalt Nummer 9 („der ärmsten und verdrecktesten überhaupt“) und im Büro des Industriellen Werdmehr von Mehrwerth (Inhaber der Markt beherrschenden GmbHarn und Klo KG). Hierfür stehen drei drehbare WC-Räume, die sowohl als WC, aber auch als Rückwand des Büros dienen. Von ein wenig Requisite abgesehen gibt es nicht viel mehr, braucht es aber auch gar nicht. Die rund 40 (!) Darsteller sind nahezu omnipräsent auf der Bühne. In Brechtscher Manier wird die Handlung von Wachtmeister Kloppstock (energisch und zupackend: Henning Witte / Frederic Jenewein) und von der vorlauten Klein Erna (herrlich naiv mit ihrem Teddybär und witzig dazu: Sabine Fischer / Lea Dannenberg) erläutert und aufgebrochen (sodass diese in Zeitlupe weiterläuft oder kurz still steht). Als wandelbar erweist sich Elfriede Fennichfuchs (Johanna Hartmann / Karina Michel), die sich von der hinkenden, resoluten Anstaltsleiterin („Jeder Strahl hat seinen Preis“) zur kämpferischen Mutter wandelt („Keine Reue“). Ausgestattet ist sie mit einem formidablen WC-Gurt (an dem eine Saugglocke, Urinduftstein, Klopapier, Klobürste, Raumspray, Reinigungsmittel und verschmutzte Tücher hängen). Ihr Mitarbeiter Jonny Stark (erst sensibel, dann verliebt und schließlich kämpferisch: Thomas Lang / Daniel Schäfer) trifft auf Freya von Mehrwerth (stimmschön und vokal am stärksten: Maria Kaulbarsch / Hedwig Scheurer), was ihm schließlich zum Verhängnis wird. Denn alle haben unter der Fuchtel des machtbesessenen Werdmehr von Mehrwerth (mit starker, überdrehter Mimik und voller Charme: Stefan Dufleaux / Benjamin Hertlein) zu leiden.
Die Geschichte nimmt keinen gewöhnlichen Verlauf und macht dennoch riesen Laune. Regisseur Steffen Storck schaffte es, die vielen Akteure wohldosiert und schlüssig unterzubringen. 2,5 Stunden Unterhaltung vergehen wie im Flug, nix wie hin! Vorstellungen gibt es nur noch bis zum 10. Juni 11.

Markus Gründig, Mai 11

Alle Rollen sind doppelt besetzt und werden abwechselnd gespielt. In der besprochenen Aufführung spielten die jeweils Erstgenannten.


Grease

Tour 2010/2011, Alte Oper Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 20. April 11 (Premiere)

„You’re the one that I want“

Nach einem aufwendigen Umbau in den 90er Jahren vom ehemaligen Straßenbahndepot zu einem Theater wurde das Düsseldorfer Capitol Theater 1996 mit dem Musical GREASE eröffnet (1996). Dort lief das Stück gute zwei Jahre. Seitdem tourt das 1971 in Chicago uraufgeführte Stück immer wieder in unregelmäßigen Abständen quer durch die Republik. Im vergangenen November startete in Düsseldorf eine von David Gilmore aufwendig überarbeitete Tour-Fassung (ohne Vorspann), die nach Stationen in Bremen, Berlin und München nun zum Finale in der Alten Oper in Frankfurt angekommen ist.

Grease
Tour 2010/2011
Sandy (Sanne Buskermolen), Danny (Lars Redlich) und Cast
Foto: Herbert Schulze

Das Musical von Jim Jacobs und Warren Casey unterscheidet sich natürlich etwas vom 1978 entstandenen Film (mit John Travolta und Olivia Newton-John in den Hauptrollen). Gleichwohl fasziniert es auch nach 40 Jahren noch immer Jung und Alt gleichermaßen. Und das trotz dünner Story. Weil einfach Lebenslust und Spaß im Mittelpunkt stehen. Spaß an sentimentalen Erinnerungen an die Jugend, Spaß an vielleicht ähnlichen Erlebnisse, die noch nicht so lange zurückliegen, Spaß an der fetzigen Musik, den unsterblichen Hits (wie „Summer Nights“, „Greased Lightnin’“, „Hopelessly Devoted“ und „„You’re the one that I want“ ), den großartig choreografierten Tanznummern (von Carla Kama und Melissa Williams) und die Hommage an die 50er Jahre (mit Haartollen, Petticoats und Idolen wie Elvis Presley und Sandra Dee).
Das Musical Grease erzählt als Rückblende die Erinnerungen einer High School Klasse nach den Sommerferien des Jahres 1959, wo die Jungs vorzugsweise bei den T-Birds (in schwarzen Shirts und Hosen) und die Mädels bei den Pink-Ladies (in bunten Kleidern/Röcken; Kostüme: Herbert Ehrhardt) abhängen. Wer wäre da nicht noch einmal gerne selber dabei, in der Zeit des ersten Kusses, des vorsichtigen Anbändelns und der ungehemmten Tanzerei.
Regisseur David Gilmore, der auch für die Londoner Neuinszenierung im Piccadilly Theatre verantwortlich zeichnete, hat das Stück in der Zeit von 1959 belassen, die auf Deutsch gesprochenen Dialoge wurden jedoch dezent auf die heutige Zeit umgeschrieben. So wirken die Szenen lebendig und lebensnah. Die Figuren sind mitunter stark überzeichnet, aber auch das hat seinen Reiz und führt zu vielen Lachern im Publikum. Wie beispielsweise bei Omri Schein, der als flinker und gelenkiger Eugene über die Bühne wirbelt. Diese wurde von Terry Parsons mit schnell verschiebbaren Elementen ausgestattet. Es gibt Spinde und Bänke für die Szenen in der Schule, eine Tribüne für den Sportplatz, einen großen cool leuchtenden roten Wagen (genannt „Greased Lightning“) und eine nostalgische gestaltete Burger-Bar. Die Szenenwechsel erfolgen rasant, der Sound ist satt und kraftvoll (aber nie zu laut). Besonders lobenswert: Auf Musik aus der Konserve wurde verzichtet! So spielt eine achtköpfige Band, die von Janice Aubrey geleitet wird. Schon von den ersten Takten an wird im Publikum mitgewippt, zwischendurch oft mitgeklatscht und es gibt viel Zwischenapplaus für die Darsteller.

Grease
Tour 2010/2011
Sandy (Sanne Buskermolen) und die Pink-Ladys
Foto: Herbert Schulze

Und das große Ensemble sorgt mit überspringender Spielfreude von der ersten Szene an für starke Begeisterung beim Frankfurter Publikum. Die Frage, ob es gut drauf sei, wird lautstark bejaht, später nehmen die T-Birds sogar auf den Äppelwoi Bezug. Ilka Wolf lässt als Möchtegern-Kosmetikerin Frenchy ihren sächsischen Dialekt zart anklingen, weckt Sympathie für ihre zögerliche und doch sehnsuchtsvolle Ambition, sich an einen Kerl zu hängen. Die überwiegend deutschen Darsteller sorgen für eine gute Textverständlichkeit und können gleichzeitig auch alle richtig gut singen und sich bewegen. Wie beispielsweise Riccardo Greco in der Rolle des Kenickie. Großartig seine Performance bei „Grease Lightning“. Die Nummer ist zudem eine der besten Tanzszenen des Ensembles (u.a. mit fliegendem Spagat und weiteren famosen Sprüngen), kurz: pure Energie.
Selvi Rothe zeigt Größe als aufmüpfige, und Tragik als gefallene Rizzo. John Davies zeigt sich als helfender Engel (Teen Angel) und als strahlender DJ Vince Fontaine.
Bei der Frankfurter Premiere hatte die ehemalige Germanys Next Top Model Kandidatin Gina Lisa Lohfink eine Nebenrolle übernommen: Die der altjüngferlichen, strengen Lehrerin Miss Lynch. Im engen gelben Kostüm zeigte sie sich hier von ihrer autoritären Seite.

Grease
Tour 2010/2011
T-Birds
Foto: Herbert Schulze

Stars der Aufführung sind jedoch vor allem das Paar Sanne Buskermolen (Sandy) und Lars Redlich (Danny). Buskermolen gibt die Sandy mit so viel vornehmer Wohlerzogenheit, dass man die Reaktion der von ihr genervten Pink-Ladies gut nachempfinden kann. Umso befreiter ist sie dann, nachdem sie bei „Goodbye Sandra Dee“ in sich gegangen ist und die „alte“, unschuldige Sandra Dee verabschiedet hat. Als scharfe Braut mit offenen Haaren im schwarzen engen Tanzanzug nimmt sie einem glatt den Atem und hat dann für das finale Duett „You’re the one that I want“ auch gleich noch mehr Kraft in der Stimme. Lars Redlich verkörpert den eitlen und auf Anerkennung seiner Jungs angewiesene Danny Zuko souverän, mit einer schönen Mischung aus Charme, jugendlicher Unbeholfenheit und kraftvollem Auftreten (seinen gut trainierten Körper [mit stattlichem Bizeps und Brustmuskeln] zeigt er auch einmal nur in Retroshorts und Strümpfen). Dabei glänzt er stimmlich durchweg.

Regisseur Gilmore versprach vor der Tournee „Die Neuinszenierung von GREASE und dieses engagierte und talentierte Ensemble wird das Publikum begeistern!“. Nun, da hat er nicht zu viel versprochen! Grease entführt noch bis zum 1. Mai 11 in der Alten Oper Frankfurt in die wilde Zeit des 50er Jahre Rock’n Roll.

Markus Gründig, April 11


Spring Awakening

English Theatre Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 12. November 10 (Premiere)

„Wow!“, „Wow!“, „Wow!“ und „Wow!“

„Wow!“ Das hätte sich Frank Wedekind 1890 sicher nicht gedacht, dass sein Drama „Frühlings Erwachen“ einmal den wichtigsten US-amerikanischen Theaterpreis einheimsen wird (den TONY-Award 2006, in acht Kategorien, darunter als „Bestes Musical“). Im Herbst 1890 hatte Wedekind begonnen, die „Kindertragödie“ (so seine Bezeichnung) um erste sexuelle Regungen bei einer Gruppe Jugendlicher zu schreiben. Ostern 1891 war er damit fertig, doch dauerte es bis zur ersten Aufführung noch 15 Jahre. Im wilhelminischen Deutschland war ein Stück, das derart offen mit den Grunddingen der menschlichen Entwicklung umgeht, ein Novum und ein Skandal. Für Wedekind war es der Durchbruch als Dramatiker (sein Stück „Lulu“ ist derzeit auch am Schauspiel Frankfurt mit Kathleen Morgeneyer in der Titelrolle auf dem Spielplan). Wedekind war 26 Jahre alt, als er „Frühlings Erwachen“ schrieb. Und mit den noch jungen Erfahrungen aus der eigenen Pubertät ist sein Blick auf die Jugendlichen gerichtet, die sich in der Umgebung der Erwachsenen schwer tun. So geht es nicht nur um Sexualität, sondern auch darum, die eigene Identität zu finden.
Erstaunlich also, dass sich Duncan Sheik (Musik) und Steven Sater (Buch und Liedtexte) ausgerechnet dieses Stück für ein Musical ausgewählt haben. Nach mehreren Jahren der Entstehung und ersten Off-Broadway-Aufführungen, hatte die Musicalfassung am 10. Dezember 2006 im New Yorker Eugene O-Neill Theatre Premiere und legte dort eine überaus respektable Laufzeit hin. Für 2009 war das Stück für eine deutschsprachige Erstaufführung in Düsseldorf angekündigt worden, doch fand diese dann im Wiener Ronacher Theater statt. Für die Musicalversion wurde die Anzahl der Figuren leicht gekürzt (auch um den „vermummten Herrn“, den Wedekind bei der Berliner Erstproduktion selber gespielt hatte), die deutschen Namen aber wurden beibehalten. Was bei den Hauptrollen noch unauffällig ist (Wendla, Moritz, Melchior), bei den Lehrern aber schon auffällt (wie „Herr Knochenbruch“  und „Fräulein Knüppeldick“). Die Zeit und der Ort, in welchen das Stück spielt, wurden auch beibehalten: eine nicht näher bestimmte deutsche Ortschaft im Jahre 1890. Das hört sich zunächst nicht besonders spannend an. Aber dank moderner Rock-, Pop- und Folk-Musik ist der Spagat, das Stück in die Neuzeit zu übertragen, auf geniale Weise geglückt. Daniel Nicolai, Intendant des English Theatre Frankfurt, war es nun gelungen, die Rechte für die erste Aufführung in Deutschland zu bekommen.

Spring Awakening
English Theatre Frankfurt
Cast
Foto: Anja Kühne

Und „Wow!“ zum Zweiten! Welch eine Inszenierung! Die Musicalproduktionen des English Theatre Frankfurt, traditionell von November bis Februar auf dem Spielplan, bestechen seit Jahren durch höchstes Niveau und ihre Stimmigkeit in jedem Detail. Und dass, obwohl das Haus mit 300 Plätzen eher zu den kleineren Häusern gehört (zum Vergleich: im Stuttgarter Palladium Theater, wo derzeit „Tanz der Vampire“ läuft, ist Platz für über 1.818 Besucher). Und dennoch ragt diese Produktion über die bisherigen hinaus. Für Regisseur Ryan McBryde ist es das sechste Stück, das er am English Theatre Frankfurt inszeniert. Hier verbindet er die dramatische Spannung von „The Fox“ mit der Leichtigkeit von „The Full Monty“, die beiden letzten von ihm inszenierten Stücke. McBryde vermittelt bei „Spring Awakening“ einen ungemein packenden Zugang. Vom ersten Auftreten Wendlas („Mother Who Bore Me“) bis zum, trotz aller Tragik, positiv stimmenden Finale („The Song Of Purple  Summer“), führt McBride behutsam aber bestimmt durch Wedekinds Stück (zumal sich die Musicalversion eng an das Original hält). Er arbeitet dabei auch sehr körperbetont, denn schließlich gilt es diesen ja in allen seinen Facetten zu erkunden.

“Wow!“ zum Dritten! Für das faszinierende Bühnenbild von Diego Pitarch. Zwar ein Einheitsbühnenbild für beide Akte bzw. für alle Szenen, aber sehr beeindruckend ob der schlichten Eleganz und vielfältigen Nutzungen, obwohl überwiegend auf leerer Fläche gespielt wird (und dunkler Ausleuchtung; Licht: David Howe). Die Bühnenrückseite des großen Klassenzimmers besteht aus einer überdimensionalen schwarzen Tafel, die aus verschiedenen Elementen besteht. So können kleine Fenster oder Türen geöffnet werden, der Blick in kleine Räume ist ebenso möglich, wie auch der untere Teil der „Tafel“ sich zur Bühne vorschieben lässt. Die komplette Bühne ist ebenfalls von Tafeln eingesäumt. Auf allen finden sich Bilder, Texte und Zeichnungen aus verschiedenen Disziplinen (von der Biologie und der Chemie über die Geisteswissenschaften bis zur Mathematik und zur Physik). Ein gelungener Rahmen für alle möglichen adoleszenten Phobien. Dazu werden kleine Schreibtische genutzt, die auch zu Grabplatten für die in Frieden Ruhenden umfunktioniert werden. Historisierend sind die Kostüme von Constanze Walldorf, mit engem, hoch geschlossenem Kleid für Wendlas Mutter und steifem Frack für Herrn Knochenbruch, disziplinierte Strenge spiegeln die Schulanzüge der Schüler wider.

“Wow!“ zum Vierten! Zu den jungen Darstellern, die für diese Produktion in London gecastet wurden und dort gerade erst ihre Ausbildung als Musicaldarsteller abgeschlossen haben (und fast noch selber grün hinter den Ohren sind). Sie dürften, abgesehen von den Drama Club-/ Theatre Unlimited- Produktionen, wohl die jüngste Cast sein, die je hier gespielt hat. Das machen sie richtig gut (auch sängerisch, wenn auch manchmal die Luft noch etwas dünn wird). Müssen sie doch einerseits 14-/15-Jährige spielen, das aber professionell wie Erwachsene. Im Mittelpunkt steht das Trio Wendla, Moritz und Melchior. Die achtzehnjährige Devon Elise Johnson gibt die unaufgeklärte Wendla, die bereits mehrfache Tante ist und doch wird ihr auch beim jüngsten Baby gesagt, dass der Storch es gebracht hat. Dabei wirkt sie in ihrem kurzen Kleidchen aus dünnem Stoff schon nicht mehr wie ein kleines Mädchen, ist sie sehr interessiert, stellt der Mutter viele bohrende Fragen und weiß schon sehr genau, wie sie Melchior dazu kriegt, ihr das zu geben, was sie will. Diesen verkörpert leidenschaftlich Craig Mather. Seinen größten Auftritt hat er bei der Anhörungsszene, die in einen furiosen Ensembletanz mündet, bei dem endlich einmal die Lehrer die Marionetten der Schüler sind („Totally Fucked“; Choreografie: Drew McOnie). Den tragischen Moritz gibt Greg Fossard mit durchaus großem Gespür für nachhaltigen Eindruck. Erschrocken über die Regungen des „kleinen Moritz“, überfordert von den väterlichen Erwartungen, kann ihm selbst die lebenslustige Ilse (mit viel Energie: Natalie Garner) nicht mehr helfen. Und kaum vorstellbar für die damalige Zeit: es gibt nicht nur erste Kontaktaufnahmen zwischen verschiedenen, sondern auch zwischen gleichen Geschlechtern. Für die zarte Begegnung zwischen Hänschen und Ernst dient eine große Leiter als Bild für zu erklimmende Weinberge (in denen Wedekind im Original die Szene spielen lässt). Daniel Ellison gibt mit Verve den selbstbewussten Hänschen (der schon als „Solist“ über einige Körpererfahrungen verfügt) und Gareth Mitchell den erst erschrocken wirkenden, dann aber ob der erfahrenen Zuwendung sehr dankbaren Ernst (berührend, wie auch bei Wendla und Melchior, ihr „The World Of Your Body“). Von den Berührungen seiner Lehrerin Fräulein Großbüstenhalter beim Klavierspiel weiß dagegen George (aufgeschlossen: Antony Irwin) zu berichten. Die verschiedenen Eltern und Lehrer wurden nur mit zwei Darstellern besetzt. So ist Jane Stanton mit Format u.a. Wendlas bigotte Mutter, das strenge Fräulein Knüppeldick und die liberal eingestellte Mutter Melchiors. Matthew Carter spielt facettenreich u.a. Herrn Knüppeldick, die Väter von Melchior und Moritz und nicht zuletzt den finsteren Abtreibungspfuscher. Das eindringlichste, intensivste Spiel gibt Tanya Shields als Inzest geschädigte Martha („The Dark I Know Well“). In weiteren Rollen noch dabei: Lizzi Franklin (als Anna) und Matt McGoldrick (als Otto). Die Darsteller werden musikalisch von einer Liveband unter der Leitung von Thomas Lorey begleitet, die die verschiedenen Musikstile detailbetont spielt. Leider ist die Band nur beim Schlussapplaus auf der Bühne zu sehen.

Einen optimistischen Ton gibt es am Ende nicht nur musikalisch, sondern auch entsprechend optisch. Wurden ja zunächst erst Wörter wie „shame“, „sunful“ oder „product“ an die Tafeln geschrieben, sind es am Ende Blüten, die auf den Boden und die Wände gemalt werden: Nach den Blumen des Frühlings ist es nun Zeit für das Wunder eines lilafarbenen Sommers. Viel Applaus und Standing Ovations für den neuen Musicalhit.

Markus Gründig, November 10


My Fair Lady

Staatstheater Mainz
Besuchte Vorstellung:
6. November 10 (Premiere)

Zu den Musicals „all times favourites“ zählt neben „Anatevka“ und „Cabaret“ auch und vielleicht ganz besonders „My Fair Lady“.  Kann man so einem Musicalschinken, der nicht zuletzt durch die Verfilmung von 1964 mit Audrey Hepburn in der Hauptrolle bekannt ist, noch etwas Neues abgewinnen? Nicht wirklich. Aber man kann seinen Spaß damit haben, so wie jetzt in Mainz. In einer Inszenierung, die mit ungewöhnlichen Einfällen und einer Menge Emotionen aufwartet. Dabei wurden Musicals in der jüngeren Vergangenheit in Mainz eher seltener gespielt, wenn keine Oper, dann schon eher eine Operette. Wie im vergangenen Jahr Jaques Offenbachs „Blaubart“, in einer Inszenierung von Søren Schuhmacher. Dieser zeichnet jetzt auch für „My Fair Lady“ verantwortlich. Genutzt wird die deutsche Übersetzung von Robert Gilbert, allerdings hat Søren Schuhmacher eine eigene Spielfassung für das Staatstheater Mainz geschrieben. Die Handlung wurde entsprechend der Übersetzung von London nach Berlin verlegt. Das klappt recht gut. Beispielsweise geht es statt um englische Pfund um Euros, wohnt Professor Higgins in der aus der Medienwelt bekannten Kastanienallee und befindet sich Doolittle Seniors Kneipe an der mit reichlich Graffitti bemalten Kreuzberger U-Bahn-Station Kottbusser Tor. Allerdings wird dies nicht in voller Konsequenz durchgezogen. Über dem Opernhaus, vor dem Professor Higgins erstmals auf das Blumenmädchen Lisa trifft, prangt dann „At the Opera“ statt Linden- Staats- oder Komische Oper. Dafür grüßt Cindy aus Marzahn, Frauen mit Kopftüchern, bietet Higgins’ luxuriöses und modernes Loft einen phantastischen Ausblick auf die berliner Skyline (Bühne: Norbert Bellen).

My Fair Lady
Staatstheater Mainz
Eliza Doolittle (Inga-Britt Andersson), Tanzensemble
Foto: Martina Pipprich ~ martina-pipprich.de

Schumacher hat viele gute Ideen verwirklicht (wie beispielsweise die Übertragung auf die heutigen Castingshows), ein geschlossenes, rundes Gesamtbild ergibt sich dadadurch aber nicht, zu heterogen wirken mitunter die einzelnen Szenen. Großformatige Dia- und Videoeinspielungen brechen das Geschehen zusätzlich auf. Wie auch die Szene beim Botschaftsball, die kurzerhand in das Foyer gelegt wurde. An sich gut, weil so jeder ein Teil davon wird. Nicht so gut, weil manch einer gar nicht mitbekommt, wie glanzvoll Eliza ihre Prüfung dort besteht. Die Heterogenität der Inszenierung spiegelt sich auch in den Kostümen von Carola Volles. Einerseits zeitgemäße Alltagskleidung, andererseits aufwändige Tierphanasiekostüme für die Ascot-Szene. Einerseits Tragik und dann doch übertriebene Komik (wie die von Mrs. Higgins an langer Leine geführten beiden „menschlichen Hunde“). Demgegenüber ist manch hier gegebene Fastnachtsposse ernster gewesen.
Musikalisch gibt es dagegen nur Positives festzuhalten. Sebastian Hernandez-Laverny läßt das Philharmonische Staatsorchester Mainz mit Verve spielen. Higgins ist einerseits ein hipper Soundbastler am Computermischpult, dann aber doch wieder ein engstirniger, rückständiger Kauz. Alexander Spemann, am gleichen Haus auch als Tannhäuser zu sehen, ist anfangs noch etwas ungelenk, steigert sich aber von Szene zu Szene in ein leidenschaftliches Spiel und glänzt natürlich auch sängerisch. Wie insgesamt die schönen Stimmen überzeugen. Allen voran der Sopran von Inga-Britt Andersson, die die Eliza Doolittle gibt. Herrlich ihr berliner Gassenjargon, authentisch und lebensnah. Etwas schnell ihr Wandel zur Lady, da hat man das Gefühl, das sind zwei verschiedene Personen. Ob Oberst Pickering (Joachim Mäder) jemals bei der Armee war? So aufgedreht wie er ist, kann man sich das schwer vorstellen. Er hüpft und turnt jugendlich leicht im schottengemusterten Anzug durch die Szenerie. Vielleicht liegt das auch nur am Koks, das er am Schreibtisch Higgins’ in sich zieht. Modern mit frischem Zuschnitt die Mrs. Pearce der Cornelia Langhals und wunderbar verschroben der Alfred P. Doolittle des Ks. Jürgen Rust. Szenisch einsam stehend: Alexander Kröner mit herrlich warm timbrierter Stimme als Freddy Eynsford-Hill, fleißig einen Regenschirm schwingend und tanzend wie Fred Astair. Apropos Tanz. Davon gibt es mehr als üblich. Denn Eliza hat sechs Tänzer an die Seite gestellt bekommen, die ihre Emotionen in Bilder umsetzen (Choregraphie: Richard Weber). Zum Finale singt sie Tim Fischers „Rinnsteinprinzessin“ (Text: Edith Jeske) und gibt der heiteren Atmosphäre eine tiefsinnige Note.
Viel Applaus, auch für das Regieteam, keinerlei Buh-Rufe, die hier sonst schon mal gerne geäußert werden.

Markus Gründig, November 10


Space Dream

City Halle Winterthur
Besuchte Vorstellung:
21. November 10 (Premiere)

Nº1 is back from Space!

Tolle Songs und Stimmen, großes Ensemble mit Chor und Tänzern und eine Liveband, imposantes Licht und Optiken, ambivalente Kostüme und eine fantastische Story: „Space Dream Das Original“ meldet sich für einen begrenzten Zeitraum zurück auf Erden. Nach siebenjähriger  Pause macht es nun erneut Station in der eindrucksvollen City Halle Winterthur (einer Industriehalle der ehemaligen Gebr. Sulzer AG und Sitz der produzierenden Think Musicals AG). Erneut sorgt die Großproduktion für eine fantastische Stimmung im Publikum und beglückt die Erdenbürger mit einer opulenten Show unter dem Motto „Träume nicht dein Leben. Lebe deinen Traum“. Unter diesem Motto begann die schweizer Erfolgsgeschichte bereits vor 16 Jahren im Südosten des Kantons Aargau, in der auf dem Mutschellenpass gelegenen Ortschaft Berikon. Seitdem wurde weiter an dem Musical gefeilt und gebastelt. Nach Stationen in Baden AG, Winterthur und in Berlin, sowie mit den Nachfolgeproduktionen (2004: „Space Dream Saga 2: Das dunkle Zeitalter“; 2006: „Space Dream Saga 3: Das Geheimnis von Nenyveh“) haben inzwischen bereits über eine Million Menschen einen Teil der Space Dream Trilogie gesehen, womit sie sich zur erfolgreichsten Schweizer Bühnenproduktion aller Zeiten qualifiziert hat.

Space Dream
City Halle Winterthur
Mega (Manuela Joé Moor), Macchina (Merete Amstrup), Reachel (Melanie Bayer) ,Kai (Oliver Sekula), Sira (Stefanie Gygax), Rodin (Martin Markert), 2WD (Daniel Raaflaub), Roboto (Laurent N’Diaye)
© Regula Kehrli, Zürich

Größter Pluspunkt ist die gefühlsbetonte Musik von Harry Schärer, die mit eingängigen Melodien und Ohrwürmern aufwartet, wie mit „Look to the Stars“ und „Space Dream“. Für diese Produktion, die bis Mai 2011 läuft, sind auch die Hauptrollen überwiegend neu besetzt worden. Im Mittelpunkt stehen dabei die gebürtige Deutsche Melanie Bayer (mit bezaubernder Stimme) als träumende Rachel und Martin Markert (mit Charisma, markantem Profil und mit kräftiger Stimme) als Rodin. Mit opernhaft anmutendem Gesang betört Mélanie Adami  als Solara. Kämpferisch gibt sich die Sira der Stefanie Gygax und siegesbewusst der Kai des Oliver Sekula. Die vier Roboter (Merete Amstrup „Macchina“, Laurent N’Diaye „Roboto“, Manuela Joé Moor „Mega“ und Daniel Raaflaub „2WD“) geraten mit ihren humorvollen Einlagen zu Publikumslieblingen. Als „Urgestein“ ist Daniel Stüssi als König Ruven wieder mit von der Partie. Sein Gegenspieler König Aquilon gibt Claus Gerstmann. Auch der Chor weiß sich effektvoll zu präsentieren.
Ausgefallen sind die Kostüme von Vittoria Michel, die für die Hauptrollen teilweise überarbeitet wurden und nun noch professioneller wirken. Ein Update zu etwas mehr Pep hätte allerdings den bieder wirkenden, hochgeschlossenen Roben der Cruhls und Tetons gut getan. Nackte Haut gibt es kaum zu sehen, lediglich ein wenig bei zwei der attraktiven Tänzer. Die Tanzszenen sorgen für Belebung (Choreografie Mark Wuest) und eine Liveband sorgt für einen herrlich rockigen Sound. Die Szenerie auf dem Planeten Hexxor ist karg gehalten, was durch die tollen Lichteffekte (Rossano Del Santo) allerdings geschickt verdeckt wird. Eine Couch und zwei Wände bilden Rachels Heim. Demgegenüber sind die beiden Raumschiffe detaillierter und fantasievoller gestaltet (Bühne: Barbara Schärer, Patrick Westerhold). Im Gesamteindruck ergibt sich ein stimmiges Bild, was durch eine fulminante Lasershow noch unterstützt wird.
Noch besser und abgerundeter könnte das Musical allerdings sein, wenn Dialoge und Gesang in einer Sprache gegeben würden und nicht bilingual. Denn die Texte werden in Hochdeutsch gesprochen, die Texte dann aber in Englisch gesungen, wodurch einiges an Inhalt verloren gehen kann.
Am Ende ist nicht nur der gefährliche Meteorit zerstört, haben sich die ehemals feindlich gesonnenen Völker Cruhls und Tetons auf dem Planeten Hexxor versöhnt, auch Rachel und Rodin träumen künftig gemeinsam. Leidenschaftlicher, lang anhaltender Applaus, Standing Ovations und zwei Zugaben beendeten die gelungene Premierenvorstellung.

Markus Gründig, Oktober 10


Xanadu

Landestheater Oberpfalz
Besuchte Vorstellung:
11. September 10 (Premiere)

Happy Broadwayfeeling in der Oberpfalz

Schon 1980 erschien der Kinofilm „Xanadu“ mit Olivia Newton-John in der Hauptrolle. Zwar war der Film kein großer Kassenerfolg. Sein Titelsong jedoch war ein Welterfolg. Wenn heute Leute auf „Xanadu“ angesprochen werden, können sie gleich die Melodie singen. So wundert es nicht, dass es von dem Film auch eine Bühnenadaption gibt. Das Musical „Xanadu“ lief 2007/2008 für über 500 respektable Vorstellungen am Broadway. Schon der Film basiert auf einer verrückten Geschichte. Für das Musical wurde zugunsten seichten Entertainments dieser Bogen noch weiter gespannt. Zusammen mit der Musik des Electric Light Orchestra und ein paar neuer Songs, entstand so ein Musical, dass mit viel Herz, Elan und Witz die 80er Jahre aufleben läßt, ohne das Format eines Juke-Box Musicals zu haben.
Jetzt hat es endlich seinen Sprung über den Atlantik geschafft. Doch statt im Londoner Westend, in Hamburg, Düsseldorf, Köln, Stuttgart oder München, fand die europäische Erstaufführung auf Deutschlands jüngster Landesbühne statt, beim Landestheater Oberpfalz. Da das Theater noch keinen eigenen Bau hat, fand die Premiere in der Spielstätte Stadthalle Vohenstrauss statt. Die 7.659 Einwohner zählende Stadt (per 31. Dezember 2009) gehört zum Landkreis Neustadt an der Waldnaab und liegt nah der Tschechischen Grenze, nächste bekannte größere Stadt ist das 85km entfernte Regensburg. 

Xanadu
Landestheater Oberpfalz
Sonny (Markus Engelstädter), Kira/Clio (Susanne Stangl)
Foto: Landestheater Oberpfalz

Ein kleines Haus für ein großes Stück, das hiermit Musicalgeschichte geschrieben hat. Denn „Xanadu“ eignet sich hervorragend für Stadttheater- und Freilichtfestspielproduktionen. Mit Songs wie “I’m Alive”, “Magic” und “All Over The World”, die, wenn nicht ohnehin bekannt, sofort ins Ohr gehen, mit Musik, die so elektrisiert, dass Arme und Beine nur schwer unter Kontrolle gehalten werden können und einer so überzogenen schrägen Geschichte, dass es schon wieder gut ist. Hier wird Discofeierlaune geboten.
Für die Umsetzung des Landestheater Oberpfalz zeichnet dessen Intendant Matthias Winter hauptverantwortlich, inszeniert wurde es vom 1982 geborenen Regisseur Daniel Grünauer. Gesungen wird in Englisch, gesprochen auf Deutsch (Deutsche Dialogfassung: Daniel Call).
Manch Parallele zur Broadwayinszenierung ist zu erkennen, doch ist die Inszenierung etwas ganz eigenes. Das Bühnenbild von Hildegard Schmucker ist einfacher gehalten, es zeigt einen großen weißen Raum, der lediglich von Säulen eingesäumt ist (mit ein wenig Ausstattung, wie einer Telefonzelle und einem Schreibtisch). Viel Aufwand wurde für die Kostüme (Eva Schwab) betrieben, seien es an die Antike anmutende Kleider und Roben oder Disco- und Rock’n’Roll Outfits aus den 80ern. Neben einem großen Ensemble wartet das Theater dazu mit einer Tanzcompany (Choreographie: Kathrin Ströhl, Carmen Puhane, Alessandra Tambe), Chor (Leitung: Markus Engelstädter) und Band (Musikalische Leitung: Thomas Wildenauer) auf.
Im Mittelpunkt steht die Muse Clio, die sich für den strauchelnden Künstler Sonny auf Erden begibt. Susanne Stangl überzeugt dabei schauspielerisch und sängerisch, obwohl sie bei ihrem 80er Erdenbesuch in Zwickau gelandet ist und infolgedessen ordentlich durch das Stück sächselt. Das sorgt natürlich immer wieder für Zusatzlacher. Als schlaksiger Sonny überrascht Markus Engelstädter mit seiner kraftvollen, rockigen Stimme. Bravo! Mächtig ins Zeug legt sich auch Silke Husslik (Melpomene), die „Evil Woman“ (den zweiten Hit des Stücks) mit souliger Stimme singt (unterstützt von der, ob ihrer Grimassen umwerfenden, Calliope der Doris Hoffmann). Das hervorragende sängerische Niveau wird auch von Ruppert Grünbauer getragen, der mit seinem schönen Bariton als Immobilienhai Danny und als Zeus gefällt. Lokalfavoriten sind Johannes Aichinger und Benjamin Oeser, die mit viel „schwesterlicher“ Attitüde die Musen Urania und Thalia geben.
Aller Aufwand hat sich gelohnt. Bei der großartigen Finalszene hält es keinen Zuschauer mehr auf seinem Sitz und zwei Zugaben „müssen“ gegeben werden.

Markus Gründig, September 10


Fiddler on the Roof

(Anatevka)
English Theatre Frankfurt – DramaClub Production
Besuchte Vorstellung:
21. August 10

Bevor das English Theatre Frankfurt seine neue Theatersaison mit “Who´s afraid of Virgina Wolf” im September 2010 eröffnet, gibt es jetzt im August für wenige Vorstellungen den Musicalklassiker “Fiddler on the Roof” zu sehen. Nicht als große Produktion des English Theatre (die große Musicalproduktion der Saison wird ab November 2010 die deutsche Erstaufführung des Musicals „Spring Awakening“ sein), sondern als große Produktion des DramaClub. Dieser ist ein Teil des „Reach-Out Projects“ des English Theatre Frankfurts, bei dem u.a. eng mit dem Gymnasium Oberursel/Ts. (Fachbereich Musik) zusammengearbeitet wird. So sind es überwiegend Darsteller und Musiker dieser Schule, die die Aufführung unter professionellen Bedingungen gestalten. Regisseur Michael Gonszar hat es mal wieder geschafft, jeglichen Laiencharakter im Spiel zu vermeiden. So präsentiert sich das Stück, das in Frankfurt im Jahr 2005 mit Tony Marshall im Volkstheater lief, als eine überzeugend runde Sache. Rund ist auch die Drehbühne, die auf die relativ kleine Spielfläche des Theaters gestellt wurde und für eine überraschende Weite sorgt (Set Designer: Michael Ganszar, Angela Federspiel, Jürgen Koss). Die ukrainische bäuerliche Landschaft im frühen 20. Jahrhundert wird mit wenigen Requisiten und historisierenden Kostümen heraufbeschworen, Bilder von Marc Chagall werden auf den Hintergrund projiziert.

Fiddler on the Roof
English Theatre Frankfurt – DramaClub Production
Tevje (James Morgan)
Foto: Anja Kühn

Schon von der Eröffnungsnummer „Tradition“ an begeistern die vielen jungen Darsteller mit starker Präsenz. Ihr überzeugendes Spiel abseits jeglicher Schultheaterbemühungen vermittelt den Eindruck, als hätten sie vorher noch nie etwas anderes gemacht. Vielleicht hat auch der theatererfahrene James Morgan einen zusätzlichen guten Einfluss auf das spielerische Können gehabt. Er war hier vergangenes Jahr als Wladimir in „Waiting for Godot“ zu erleben. Bei „Fiddler on the Roof“ scheint er in seiner Paraderolle zu sein. Ein herrlich verschrobener, eigensinniger, aber auch herzensguter, leidenschaftlicher Tevje, der immer wieder mit seinem Gott hadert. Bravo!
Stephanie Uhrlandt  als seine Frau Golde ist eigentlich viel zu jung für die Rolle, immerhin sind die beiden über 25 Jahre verheiratet und sie ist wahrscheinlich selber noch keine 25 Jahre jung. Davon abgesehen, nimmt man ihr die sich um die wirtschaftlich vernünftige Verheiratung der Mädels kümmernde Mutterrolle aber voll ab. Sie überzeugt als leidenschaftliche Vollblutschauspielerin und glänzt auch stimmlich. Von den fünf Töchtern stehen die ältesten drei im Mittelpunkt. Jana Hess als Zeitel, Swana Rode als Hodel und Stina Heinrich als Chava. Sie spielen und singen mit einer unglaublichen Leichtigkeit, Freude und vielversprechendem gesanglichen Ausdruck. Auch ihre ausgewählten Liebhaber und Ehemänner stehen ihnen nicht nach: Lasse Heinrich als Schneider Mottel, Mike Marklove als Student Perchik und Ferdinand Hieronymi als Russe Fedja. Nicht zu vergessen Sebastian Polag als Metzger Lazar und Rebekka Viehl als Heiratsvermittlerin Jente.
Das relativ groß besetzte Orchester sitzt im hinteren Bühnebereich, der jüngste Musiker ist grade einmal 10 Jahre alt. Rudi und Angela Federspiel sorgen für eine dezente musikalische Untermalung.
Gonszar orientiert sich bei seiner Umsetzung stark an der Vorlage, vermeidet aktuelle, zeitgemäße Bezüge. So mutet das Stück äußerlich traditionell an, was die meisten erfreuen wird. Die Welt war auch schon vor 100 Jahren im Umbruch. Die dahinter liegenden Grundfragen freilich sind aktuell wie eh und je. Und so macht es Spaß, sich das Treiben der um ihre Identität ringenden Dorfbewohner Anatevkas anzuschauen und den Hits wie „Tradition”, “Matchmaker” und “If I were a Rich Man” zu lauschen. Aufwendige Tanzszenen (Choreografie: André Koschyk) wie nach dem Hochzeitsdeal und bei der Hochzeit, untermalen den lebhaften Charakter der Inszenierung zusätzlich. Die Vorstellungen im English Theatre Frankfurt laufen noch bis zum 29. August 2010. Vom 24. – 26. September ist diese Inszenierung zudem in der Stadthalle Oberursel zu sehen.

Markus Gründig, August 10