Klangvielfalt bei der Mehrspartenproduktion »Das Tal der Ahnen« des Staatstheaters Mainz im Alten Postlager

Das Tal der Ahnen ~ Staatsheater Mainz ~ Ensemble ~ © Andreas Etter
kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Ist es gut davon zu träumen, ein Indianer zu sein? Wo Gedanken an deren Schicksal doch Wehmut aufleben lässt. Dennoch, sie faszinieren damals und heute viele Menschen. So auch Regisseur Niklaus Helbling. In seiner Kindheit las er in einem Bessy-Comic-Heft von 1967 eine fiktive Episode über das indigene Volk der Cherokee und ihr Tal der Ahnen. Diese Geschichte dient ihm als Folie für ein spartenübergreifendes Projekt am Staatstheater Mainz, das ursprünglich in der Spielstätte Filiale aufgeführt werden sollte. Durch die derzeit geltenden strengen Hygieneregeln kommt die Filiale gegenwärtig aber nicht als Spielfläche in Betracht, fehlt es dort doch vor allem an einer Lüftungsanlage. Statt ins Große oder Kleine Haus umzuziehen, wird erstmals das Alte Postlager (vis-a-vis vom Hauptbahnhof) genutzt. Hierbei handelt es sich um eine hippe Halle des ästhetischen Undergrounds, die für Streetfood, Festivals und Kunstinstallationen genutzt wird. Die nicht zum Mainstream zählende Produktion Im Tal der Ahnen passt da hervorragend hinein. Die Publikumstribüne weist tiefe Ebenen auf, wodurch es leichter ist, Mindestabstände einzuhalten, bis zu 60 Zuschauer sind hierbei möglich (die Spielfläche rückt für das Publikum auf den hinteren Reihen allerdings in weite Ferne).

Das Tal der Ahnen
Staatstheater Mainz
Bernard (Brett Carter)
© Andreas Etter

Die Grundausstattung besteht aus einem Flügel, einem Schlagzeug und Gitarren. Die Empore mit Treppenaufgang wird dezent mit einbezogen (Ausstattung: Eugenia Leis). Gesungene und gesprochene Texte werden auf drei Bildschirmen gezeigt, sodass jeder Zuschauer eine gute Sicht hat (Video: Philipp Haupt). Auch Bilder des Comics erscheinen auf den Bildschirmen, denn die Geschichte von Wohatin, der Tochter des Häuptlings und ihrem Freund Schneller Hirsch, wird nacherzählt. Für den Mix aus Performance, Konzert, Radio-Live-Theater und Schauspiel werden u. a. Werke von Carl Heinrich Graun, Henry Purcell, Franz Kafka, Lou Reed und Frank Zappa eingebunden. So lebt eine „imaginäre Prärie“ auf, zu der Niklaus Helbling und die Musiker Paul-Johannes Kirschner und Dominik Fürstberger eine „verrückte Mischung aus Klassik, Jazz und Schauspiel“ (Fürstenberger im Programmflyer) zusammengefügt haben.

Das Tal der Ahnen
Staatstheater Mainz
Carlos (Johannes Meyer)
© Andreas Etter

In der knapp zweistündigen Aufführung gibt es viele faszinierende und humorvolle Momente (und etwas Länge), zumal die Geschichte der Cherokee nicht Eins zu Eins nacherzählt wird, sondern durch die Fremdtexte eine tiefere Ebene erfährt.
Zwischen schauspielerischem und Gesangseinlagen wird von den sieben Beteiligten (Brett Carter, Dominik Fürstberger, Paul-Johannes Kirschner, Denis Larisch, Johannes Mayer, Maren Schwier und Katharina Uhland) ständig gewechselt. Und musikalisch ist die Collage überaus faszinierend. Der Abend beginnt mit von Paul-Johannes Kirschner am Klavier gespielten Molltönen und dem Gesang der Sopranistin Maren Schwier auf dem Balkon mit Edgard Varèses “Un grand sommeil noir“ (nach Paul Verlains Gedicht „Schwarz hält mich und schwer“). Es folgt eine vielseitig dargebrachte Mischung von Songs und Storys. Gesungen wird von allen (z.B. Zappas „Who are the brain police“), teils im Kreis auf dem Boden liegend, mehrheitlich aber solistisch (wie von Tenor Johannes Meyer bei einer stilisierten Bootsüberfahrt). Auch an den vielen zum Einsatz kommenden und sehr unterschiedlichen Instrumenten sind alle beteiligt. Zudem werden Gegenwartsthemen (wie Immobilienspekulationen, veganes Essen und Kapitalismuskritik selbstironisch und spielerisch angeschnitten.

Am Ende wird Kafka zitiert (aus seiner Prosaskizze „Wunsch, Indianer zu werden“), erst solistisch, dann mehrstimmig überlagert, alle gehen ab und verschwinden im Nirvana. Intensiver Applaus.


Markus Gründig, Juni 20


Das Tal der Ahnen

Eine imaginäre Prärie mit Werken von Henry Purcell, Franz Kafka, Frank Zappa u. a.

Premiere/Uraufführung am Staatstheater Mainz: 17. Juni 20 (im Alten Postlager)

Musikalische Leitung: Paul-Johannes Kirschner, Dominik Fürstberger
Inszenierung: Niklaus Helbling
Ausstattung: Eugenia Leis
Licht: David Neumann
Video: Philipp Haupt
Dramaturgie: Elena Garcia Fernandez

Besetzung:

Unica: Katharina Uhland
Erich: Denis Larisch
Grace: Maren Schwier
Carlos: Johannes Mayer
Bernard: Brett Carter
Gabriel: Paul-Johannes Kirschner
Anton: Dominik Fürstberger

staatstheater-mainz.de