Was haben manche, was andere nicht haben? Im Fall des polnischen Countertenors Jakub Józef Orliński ist es neben seiner professionellen Gesangskunst seine Persönlichkeit. Cooles Auftreten frei von Überheblichkeit, eine Unbeschwertheit und Lockerheit. Alle Probleme des Alltags lässt er allein durch seinen Charme und seine gute Laune in den Hintergrund rücken.
Dabei spricht er die unterschiedlichsten Altersgruppen und Gesellschaftsschichten an, wie man jetzt bei seinem außerordentlich gut besuchten Liederabend an der Oper Frankfurt erleben konnte. Das Parkett war voll, die Ränge eins und zwei gut besetzt (wie bereits bei seinem ersten Liederabend im Jahr 2019). Szenisch war er zuletzt in 2019 als Unulfo in Händels Rodelinda an der Oper Frankfurt zu erleben.
Seiner Popularität haben die vergangenen drei Jahre nicht geschadet, im Gegenteil. Seine Fanbase wächst und wächst. Und selbst Medien außerhalb der Opernszene berichten über ihn (wie The New Yorker oder die polnische Vogue).
Auch wenn die Folgen der Corona-Pandemie ihn, wie viele seiner Kollegen:innen hart getroffen hatten. Auf seinem Instagram-Kanal (mit knapp 130.000 Followers!) berichtete er in dieser Zeit aus seiner Warschauer Wohnung. Jetzt läufts wieder für ihn. Er konnte an der New Yorker MET und dem Londoner Royal Opera House Covent Garden debütieren. Aktuell ist er auf großer Lied-Tour durch Europa.
Das Frankfurter Publikum begrüßte er nach seinem den Liederabend eröffneten zehnminütigen „Non t’amo per il ciel“ von Johann Joseph Fux salopp mit „Hallöchen Frankfurt, wie geht’s, ich bin glücklich hier zu sein“. Und erläuterte, warum der Saal, anders als bei Liederabenden üblich, nicht teilweise, sondern vollkommen abgedunkelt war. Ein „intimate setting“ sei ihm wichtig, die Lieder würden für sich sprechen und bedürften keines Mitlesens im Programmheft (darüber kann man allerdings unterschiedlicher Auffassung sein).
Stimmlich hat er sich in den vergangenen Jahren weiterentwickelt. Seine Counterstimme klang grundierter und voller. Nach wie vor ist es großartig, wie stimmungsvoll er gesangliche Bögen spannt und Spannungen aufbaut.
Musikalische Raritäten sind bei Orliński Programm, sei es bei seinen Liederabenden oder bei seinen Aufnahmen. Mit Purcells „The Cold Song“ wählte er ausnahmsweise einen bekannten Song (nicht zuletzt durch Klaus Nomi), den er mit großem dramatischen Ausdruck präsentierte.
Im Mittelpunkt seines Programms standen Lieder der bei uns weitestgehend unbekannten polnischen Komponisten Henryk Czyż (1923–2003), Mieczysław Karłowicz (1876-1909) und Stanisław Moniuszko (1819-1872). Sie sind nicht für eine Countertenorstimme komponiert worden und wurden bisher von einem solchen auch noch nie aufgeführt. Orlinski will mit seiner Lied-Tournee deutlich machen, dass sie einen Platz im Liedrepertoire verdient haben. Wie beispielsweise Czyżs sehnsuchtsvolles „Na wzgórzach Gruzji“ („Auf Grusiens Hügeln“), Karłowiczs melancholisches, ein wenig an „Eugen Onegin“ erinnerndes „Przed nocą wieczną“ („Vor der ewigen Nacht“) oder Moniuszkos ätherisches „Łza“ („Träne“).
Einen konzilianten Schlusspunkt setzte Orliński mit Händels „Amen, Alleluia“. Wie bereits in 2019 begleitete ihn auch dieses Mal Michaeł Biel am Klavier. Der „kollaborative Pianist“ wie er sich auf seiner Webseite bezeichnet, zeigte hohes Einfühlungsvermögen und bildete für Orliński eine souveräne, große Stütze.
Schon der Begrüßungsapplaus war intensiv, fast so, als würde ein Star wie Anna Netrebko die Bühne betreten. Nach fast jedem Lied wurde applaudiert, nicht nur nach den Liedgruppen. Am Ende wollte das Publikum die beiden nicht gehen lassen. Dies war erst nach vier Zugaben möglich (während derer er spontan noch einen Rückwärtsradschlag hinlegte).
Markus Gründig, Mai 22
Die Zugaben:
- Nicola Fago (1677-1745): „Alla gente a Dio diletta“, Arie aus dem Oratorium Il Faraone sommerso (1709)
- Mieczysław Karłowicz (1876-1909): „Czasem, gdy długo na pół sennie marzę sennie“, Lied (1895)
- Henry Purcell (1659-1695): „Strike the Viol“, Arie aus der Ode zum Geburtstag von Queen Mary (1694)
- Antonio Vivaldi (1678-1741): „Vedrò con mio diletto“, Arie aus der Oper Il Giustino (1724)
Eine weitere Gelegenheit, Gesang auf Polnisch zu erleben, gibt es am 31. Mai 22. Bei den Internationalen Maifestspielen Wiesbaden gastiert an diesem Tag das Teatr Wielki mit Stanisław Moniuszkos Oper Straszny Dwór (Das Gespensterschloss).
Der TV-Sender arte wiederholt am 27. Juni die Sendung “Stars von morgen präsentiert von Rolando Villazón” u. a. mit Jakub Józef Orliński.