Betrachtet man die Popularität von Georg Friedrich Händels Opern statistisch, steht es schlecht um sie. In der Wikipedia-Liste der populären Opern taucht innerhalb der ersten 50 Plätze nicht eine Oper von Händel auf (aus seiner Zeit einzig Glucks Orpheus und Eurydike auf Platz 34). Nicht besser sieht es mit einer Aufführungsliste des Deutschen Musikrates aus (kein Händel unter den Top 30). Und auch in der Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins ist es nicht gut um Händel-Opern bestellt. In der Liste der 20 Opern mit den höchsten Inszenierungszahlen findet sich nicht eine, obwohl es derer ja reichlich gibt. Lediglich in der Liste der zehn beliebtesten Opernkomponisten ist er, auf unteren Plätzen, vertreten. Die Oper Frankfurt könnte diese Statistik zu Händels Vorteil beeinflussen, wurde in dieser Spielzeit doch bereits im Bockenheimer Depot Rinaldo gespielt, jetzt im Opernhaus Rodelinda. In der kommenden Spielzeit wird im August Radamisto wiederaufgenommen und im nächsten Frühjahr wird es eine Neuinszenierung von Tamerlano geben. Und die Nachfrage seitens des Publikums scheint ungebrochen stark zu sein. Sämtliche Rodelinda-Aufführungen waren bereits schon vor der Frankfurter Premiere nahezu ausverkauft. Die aktuelle Produktion entstand in Koproduktion mit dem Teatro Real (Madrid), der Opéra de Lyon und dem Gran Teatre del Liceu (Barcelona), wo sie bereits zu sehen war.
Die in Mailand um 670 spielende Oper beinhaltet ein universelles Thema, das der Gattentreue. Hier ist es Rodelinda, die Königin der Langobarden, deren Mann Bertarido aufgrund einer Fakenews für tot gehalten wird und die nun von seinem Widersacher Grimoaldo heiß umworben wird. Der Totgeglaubte taucht auf, bezichtigt seine Frau zunächst der Untreue, es kommt zu einem Konflikt zwischen ihm und Grimoaldo . Die Geschichte endet glücklich, was in der Oper selten der Fall ist. Regisseur Claus Guth hat es aber nicht bei der spannenden Geschichte belassen. Sein Blick richtet sich insbesondere auf die Figur, die im Räderwerk der Geschehnisse unterzugehen droht: Flavio, der Sohn von Rodelinda und Bertarido. Bereits während der Ouvertüre wird er Zeuge, wie sein Vater den eigenen Bruder ersticht, um alleine regieren zu können. Später fordert die Mutter als taktischen Schachzug, dass ihr Sohn umgebracht wird. Auch dies bekommt er unverhohlen mit. Kein Wunder, dass er traumatisiert ist, kann er doch noch gar nicht alles fassen, was da alles in der großen Erwachsenenwelt passiert. Die stumme Rolle des Flavio ist mit dem kleinwüchsigen kolumbianischen Schauspieler Fabián Augusto Gómez Bohórquez besetzt, der fast die ganze Zeit über auf der Bühne präsent ist und auch ohne ein Wort zu sprechen seinen Angst- und Schreckensgefühlen Ausdruck zu verleihen weiß. Dabei ist er nicht nur Opfer, er spielt auch mit den Großen, adaptiert ihr Handeln und macht es nach (auch das Ermorden). Seine zeichnerische Verarbeitung der verstörenden Geschehnisse werden geschickt auf die Bühne projiziert (Video: Andi A. Müller). Zusätzlich gibt es sechs weitere stumme Rollen, die ihn in seinen Gedanken verfolgen. Die sechs Geister mit furchteinflößenden Schwellköpfen erscheinen als Abbilder der realen Welt (Choreografie: Ramses Sigl).
Die Bühne beherrscht ein herrschaftliches Haus mit weißen Ziegelsteinen und einem Säulenbaldachin als Eingang, das an die Georgianischen Stadthäuser aus dem 18 Jahrhundert in London anspielt. Mit Einsatz der Drehbühne kommen nicht nur die Frontansicht, sondern auch drei Innenansichten auf zwei Ebenen zum Vorschein. Dies sind elegante, weiß gehaltene offene Räume. Das frei stehende Haus ist von einem Sternenhimmel und schwarzer Erde umgeben. Es ist gewissermaßen Lost in Space (Bühnenbild und Kostüme: Christian Schmidt).
In der Titelpartie ist die britische Sopranistin Lucy Crowe zu erleben. Es ist ihre erste Produktion an der Oper Frankfurt. Die zweifache Mutter vermittelt die Figur der Heroin Rodelinda mit viel Emphase und zartestem lyrischen Ausdruck. Andreas Scholl, einer der bekanntesten und besten Countertenöre, ist der von Grimoaldo vertriebene König der Langobarden, Bertarido. Dieser ist eine zwielichtige Figur (Brudermörder und äußerst misstrauischer Gatte), was sich stimmlich aber nicht niederschlägt. Scholl, der an der Oper Frankfurt bereits in der Titelpartie in Händels Giulio Cesare in Egitto sowie 2012 mit einem Liederabend zu erleben war, ist mit seiner samtigen Counterstimme ein Ereignis eigener Klasse. Ein Wiedersehen gibt es mit einem ehemaligen Ensemblemitglied, dem Tenor Martin Mitterrutzner, der Grimoaldo, ein Wolf im Schafspelz, eindringlich verkörpert. Seine kämpferische und sich wandelbar zeigende Verlobte Eduige gibt Altistin Katharina Magiera mit eleganter Note. Dem Fiesling Garibaldo (als dieser deutlich mit einer Augenklappe gezeichnet) verleiht Bassbariton Božidar Smiljanić ein passend dunkles Profil. Als Pendant zu ihm ist die Rolle des gutmütigen Unulfo zu betrachten, die Countertenor Jakub Józef Orliński mit Hingabe und kleinen aristischen Einlagen gestaltet. Der aufstrebende Sänger ist vielen noch von seiner Verkörperung des Rinaldo im Bockenheimer Depot bekannt. Am 3. September 19 eröffnet er an der Oper Frankfurt, begleitet von Michał Biel, die Liederabendreihe der Spielzeit 2019/20 und wird im November 19 sein Debüt am Opernhaus Zürich geben (als Cyrus in Händels Belshazzar).
Ein zusätzlicher Hochgenuss dieser Rodelinda-Produktion an der Oper Frankfurt ist das unter der Leitung des Barockspezialisten Andrea Marcon auf historischen Instrumenten spielende und erhöht sitzende Frankfurter Opern- und Museumsorchester.
Nach knapp vier Stunden (inklusive einer Pause) und überdurchschnittlich vielen Zwischenpapplausen, auch am Ende starke Beifallsbekundungen für SängerInnen und Musiker.
Markus Gründig, Mai 19
Rodelinda
Premiere an der Oper Frankfurt: 12. Mai 19
Besuchte Vorstellung: 17. Mai 19
Musikalische Leitung: Andrea Marcon
Regie: Claus Guth
Szenische Einstudierung: Axel Weidauer
Bühnenbild und Kostüme: Christian Schmidt
Video: Andi A. Müller
Licht: Joachim Klein
Choreografie: Ramses Sigl
Dramaturgie: Konrad Kuhn
Besetzung:
Rodelinda: Lucy Crowe
Bertarido: Andreas Scholl
Grimoaldo: Martin Mitterrutzner
Eduige: Katharina Magiera
Unulfo: Jakub Józef Orliński
Garibaldo: Božidar Smiljanić
Flavio: Fabián Augusto Gómez Bohórquez
Maskenfiguren: Gal Fefferman, Evie Poaros, Manuel Gaubatz, Volodymyr Mykhatskyi, Michael Schmieder, Markus Gläser
Frankfurter Opern- und Museumsorchester
www.oper-frankfurt.de