Die Spielzeit 2023-24 an der Bayerischen Staatsoper München

© Sebastian Flegl auf Pixabay

EIN BRUNNEN, DER IN DEN HIMMEL SCHAUT

Die heutige Welt sieht sich mit massiven geopolitischen Herausforderungen und Krisen konfrontiert. Immer wieder wandelt unsere Zivilisation am Rande eines Abgrunds, am Rande eines Vulkans. Ein Zustand, der uns bewusst werden lässt, wie zerbrechlich unsere Menschheit und unsere Umwelt sind. Vielleicht wird unser Planet gerettet werden: Er existiert seit fünf Milliarden Jahren und hat möglicherweise noch genauso viele Jahre vor sich, bevor die Sonne erlöschen wird.

Aber wir, die Menschen, unsere Zivilisationen, unsere Kulturen – was passiert mit uns?
„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ (Friedrich Hölderlin). Angeleitet von diesen Gedanken, Sorgen, vielleicht sogar Ängsten, aber auch Hoffnungen, hat die Bayerische Staatsoper München die Spielzeit 2023-24 erarbeitet, der sich ein Satz aus Fernando Pessoas Buch der Unruhe voranstellen lässt: „Wir sind zwei Abgründe – ein Brunnen, der in den Himmel schaut.“

Die Spielzeit wendet sich den zwei Polen zu, zwischen denen das Leben oszilliert, dem Himmel und der Hölle. Auch die Oper – und das ist ihre inspirierende und zugleich tröstende Kraft- schwankt ständig zwischen ihnen. Zwischen den Schönheiten eines Museums und den Debatten eines Forums, einer Piazza.

BAYERISCHE STAATSOPER: NEUE OPERNPRODUKTlONEN

Die erste Premiere der Spielzeit 2023-24 ist Le nozze di Fígaro: ein Krieg der Geschlechter, der letztlich zum Frieden wird – begleitet durch die erhabenste und beruhigendste aller Musiken überhaupt. „Selbst in den höchsten Ständen genießt die Frau nur eine geheuchelte Achtung, zum Schein gehätschelt, in Wahrheit geknechtet, als unmündig in ihrem Vermögen angesehen, als volljährig nur in der Zurechnungsfähigkeit ihrer Fehler. In jeder Hinsicht ist die Stellung, die der Mann dem Weibe macht, eine verächtliche oder bemitleidenswerte.“ So beschreibt Marceline in Pierre de Beaumarchais‘ Vorlage Le mariage de Figaro die Situation der Frauen im 18. Jahrhundert.

Die Botschaft von Die Fledermaus wiederum, der zweiten Premiere der Spielzeit, ist mehrdeutiger. Wir sind nicht weit von einer fröhlichen Apokalypse entfernt: Wien singt und tanzt, Wien berauscht sich an Preußen, an den nationalistischen Forderungen, die das vielhundertjährige Reich der Habsburger sprengen werden – das ist die große Geschichte. Und wer weiß, ob nicht auch das Ehepaar Eisenstein nach der Party explodieren wird – das ist die kleine Geschichte, die nachhallt.

Píque Dame eröffnet verschiedene Ebenen von Zerbrechlichkeit, die sich zu einem tragischen Netz verflechten. „Lisa bin ich“ hätte Piotr l. Tschaikowski vielleicht sagen können. Lisa ist zerrissen zwischen der Liebe, die ihr Verlobter Fürst Jeletzki für sie empfindet, und der Faszination, die sie für Hermann, den Verfluchten, hegt, einer für sie verbotenen Liebe. In seiner von Puschkins Novelle inspirierten Oper, deren Tragik er genial bündelt, lässt Tschaikowski sowohl Mozarts Anmut als auch eine Sehnsucht nach dem Ancien Regime und die dunklen Schatten der Romantik anklingen.

Ein weiterer dunkler Schatten liegt auf Mieczyslaw Weinbergs Oper, die erstmals in München gezeigt wird: Die Passagierin. Inspiriert von Zofia Posmysz` autobiografischem Roman erzählt dieses Werk von der Begegnung Marthas, einer Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz, mit der KZ-Aufseherin Lisa, die sie für tot gehalten hat, auf einem Passagierschiff: eine gespenstische Begegnung – bei Nacht und Nebel. Es ist eine erschütternde Geschichte zwischen dem Albtraum der Erinnerung und der Realität. Eine Oper, von der Dmitri D. Schostakowitsch sagte, sie sei „mit Herzblut“ geschrieben worden.

Am Rande des Abgrunds – das ist Tosca. Von Scarpia in ein gefährliches, tragisches und mörderisches Spiel verwickelt, bewegt sie sich auf einem Drahtseil, eine Akrobatin der Liebe und der Eifersucht. ln dem Moment, in dem sie glaubt, gewonnen zu haben, verliert sie, da ihr Geliebter erschossen wird. Und sie stürzt sich buchstäblich in den Abgrund.

György Ligetis Le Grand Macabre beschwört im Gewand des Absurden, Grotesken und Obszönen die Frage nach dem Tod – dem Tod von Völkern und Zivilisationen. Diese Oper basiert auf La Balade du Grand Macabre, einem Stück, das der belgische Schriftsteller Michel de Ghelderode 1934 veröffentlichte, ein Jahr nach Adolf Hitlers Machtergreifung, im Jahr, in dem Stalin seine auf Lügen und Terror basierende Macht konsolidierte. Es war die Zeit, in der sich die Weltkatastrophe anbahnte, die viele nicht kommen sehen wollten. Der Grand Macabre, von Ligeti genial für die Opernbühne bearbeitet, ist ein fröhlicher und tragischer Totentanz, ein Tanz auf einem Vulkan.

Pelléas et Mélisande von Claude Debussy und Maurice Maeterlinck beschließt die Spielzeit 2023-24: Ein dunkler Wald ist durchzogen von seltenen Lichtblitzen. Dort ist der Abgrund überall, bedrohlich, die Figuren umzingelnd. Von Wasser überflutete Abgründe, Brunnen, unterirdische Abgründe, eine Meeresgrotte. lm Mittelpunkt steht Mélisande, die nicht von dieser Welt ist, sich als Fremde in ihr bewegt. Eine langsame Leidenschaft, die von Station zu Station zum Versinken, aber auch zur ewigen Wiederkehr führt: Mélisande schenkt einem kleinen Mädchen das Leben, bevor sie stirbt.

Künstlerpersönlichkeiten von großer Sensibilität und Erfahrung werden am Rande dieser Abgründe wandeln und ihre Tiefenschichten erforschen. Vladimir Jurowski, Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, zeichnet für die Musikalische Leitung von Die Fledermaus und Die Passagierin verantwortlich, zwei ästhetisch sehr unterschiedliche Werke, wobei jedoch in beiden am Ende die Masken fallen.

Aziz Shokakimov, der junge und talentierte Musikdirektor des Orchestre philharmonique de Strasbourg, debütiert an der Bayerischen Staatsoper mit Pique Dame, Stefano Montanari dirigiert Le nozze di Figaro, Andrea Battistoni Tosca. Auch kehrt Kent Nagano zurück, Generalmusikdirektor von 2006 bis 2013. Er wird Le Grand Macabre leiten, ein Werk, das im Zentrum seines bevorzugten Repertoires steht. Mirga Grazinyte-Tyla steht bei Pelléas et Mélisande am Pult, an ihrer Seite die Regisseurin Jetske Miinssen: Gemeinsam beschäftigen sie sich mit einer der schönsten und geheimnisvollsten Frauenfiguren des Opernrepertoires. In der Spielzeit 2023-24 werden zudem einige Regisseure an die Bayerische Staatsoper zurückkehren, die hier bereits Produktionen inszeniert haben: Barrie Kosky für Die Fledermaus, Benedict Andrews für Pique Dame, Tobias Kratzer für Die Passagierin, Kornél Mundruczó für Tosca und Krzysztof Warlikowski für Le Grand Macabre – Künstler, die es lieben, Werke bis in den letzten Winkel zu erforschen, um all das herauszuholen, was uns heute berührt und anspricht.

DIE FESTIVALS DER BAYERISCHEN STAATSOPER

Das UniCredit Septemberfest 2023 lädt Münchnerıinnen und alle Menschen in Bayern ein, den Beginn der neuen Saison der Bayerischen Staatsoper zu feiern.

Die Münchner Opernfestspiele 2024 zeigen alle Neuproduktionen der Spielzeit und werden durch Höhepunkte aus dem Repertoire ergänzt.

Serge Dorny


DIE SAISON DES BAYERISCHEN STAATSBALLETTS

Zur Spielzeiteröffnung 2023-24 beteiligt sich das Bayerische Staatsballett mit einem Double Bill am UniCredit Septemberfest. Unter dem Titel Blickwechsel wird der Grand Pas Classíque aus Paquíta, ein Inbegriff klassischer Tanzkunst, der modernen Tanzsprache eines der modernen Werke aus Sphären.O1 gegenübergestellt.

Der Herbst bringt nach vierjähriger Pause ein Wiedersehen mit Christopher Wheeldons Familienballett Alice im Wunderland. außerdem feiert im November 2023 Angelin Preljocajs Werk Le Parc zu Kompositionen von Wolfgang Amadeus Mozart Premiere beim Bayerischen Staatsballett.

Die Ballettfestwoche eröffnet Mitte April 2024 mit einem modernen Triple Bill, der Werke von Nacho Duato, Sharon Eyal und eine Neukreation des kanadischen Choreographen Andrew Skeels vereint. Außerdem ist das belgische Tanztheater-Ensemble Peeping Tom mit einem Gastspiel zu erleben.

lm Rahmen der Münchner Opernfestspiele präsentiert sich die Compagnie bei einer neuen Ausgabe von Sphären mit zeitgenössischen Kreationen. Das Programm wird 2024 von Angelin Preljocaj kuratiert.

Wiederaufgenommen werden zudem im Laufe der Spielzeit der Kult gewordene Klassiker Onegin von John Cranko und das Kindertanztheaterstück Wie der Fisch zum Meer fand. lm Rahmen von zwei Gastspielreisen ist das Bayerische Staatsballett mit Cinderella und La Bayadère im Festspielhaus Baden-Baden und im Teatro Real in Madrid zu erleben.


DAS BAYERISCHE STAATSORCHESTER

Das große Jubiläum des Bayerischen Staatsorchesters, das seine Anfänge auf das Jahr 1523 zurückführen kann, prägt auch den Beginn der neuen Spielzeit 2023-24. Bei der Sommertournee durch europäische Musikmetropolen wird das Orchester ebenfalls in seiner Heimatstadt Station machen und das Freiluftkonzert im Rahmen von Oper für alle spielen.

Die ersten beiden Akademiekonzerte bringen Wiederbegegnungen mit zwei ehemaligen Generalmusikdirektoren; Kirill Petrenko dirigiert Gustav Mahlers einst in München uraufgeführte achte Symphonie, und Kent Nagano wird unter anderem ein neues Werk von Unsuk Chin präsentieren. Joana Mallwitz kehrt zurück ans Pult des Bayerischen Staatsorchesters, und unser Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski leitet gleich drei Akademiekonzerte mit einem großen programmatischen Spektrum; auch das Benefizkonzert in der Frauenkirche, das Finale des Jubiläums, wird er gestalten.

Exquisite Kammermusikformationen, vom Streichquartett über Harmoniemusiken bis zu den Kontrabässen, werden in der Allerheiligen Hofkirche und im Cuvilliés-Theater zu erleben sein; und gemeinsam mit der Hermann-Levi-Akademie und dem Jugendorchester ATTACCA kommen Nachwuchsprojekte zum Klingen.


Das ausführliche und vollständige Programm findet sich unter staatsoper.de.
Die Printausgabe der Jahresvorschau 2023–24 kann im Onlineshop der Bayerischen Staatsoeper bestellt werden. Alternativ ist sie im Opernshop in der Tageskasse am Marstallplatz 5 (Mo-Sa, 10-19 Uhr) bzw. im Opernshop im Nationaltheater (Parkett links, während der Vorstellung) erhältlich. Die Jahresvorschau kostet 2,50 € (zzgl. Versand).