Bezaubernder »Onkel Wanja« am Schauspiel Frankfurt in der Regie von Jan Bosse

Onkel Wanja ~ Schauspiel Frankfurt ~ Elena (Melanie Straub), Iwan (Heiko Raulin) ~ Foto: Thomas Aurin

Ein Leben lang arbeiten und dann soll einem aus perfiden Gründen die Lebensgrundlage entzogen werden: Der Gutsarbeiter Iwan (Wanja) Petrowitsch Wojnizkij ist entsetzt und verzweifelt. Wie fast alle auf Serebrjakows Gut, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Anton Tschechow porträtiert in seiner Tragikomödie Onkel Wanja eine illustre Gesellschaft. Wie in vielen seiner anderen Stücke zeichnet er auch in Onkel Wanja das Porträt einer Gesellschaft, die sich im Alltag langweilt, träumt und im Status quo verharrt. Das Aufzeigen derartiger Figuren gleicht dem Publikum einen Spiegel vorzuhalten. Dies vor allem als Chance, es anders, besser zu machen.

Onkel Wanja
Schauspiel Frankfurt
Ensemble
Foto: Thomas Aurin

Faszination von Anfang bis Ende

Regisseur Jan Bosse eröffnete mit diesem Klassiker die Spielzeit 2022/23 am Schauspiel Frankfurt (wo er bereits jedermann stirbt und Richard III. inszenierte). Tschechows Stücke bieten wenig Handlung. Oftmals gleichen sie eher einem Stillleben. So stellen sie hinsichtlich einer publikumsfreundlichen Umsetzung eine besondere Herausforderung dar. Bosses zeitgemäße, heitere und poetisch anmutende Inszenierung fasziniert von Anfang bis Ende. Er zeigt die Figuren in ihren Alltagssorgen und Nöten greifbar nah und wahrt dabei eine gewisse Distanz. Die vier Akte hat er zu einem zweistündigen pausenlosen Ganzen zusammengefügt.

Onkel Wanja
Schauspiel Frankfurt
Elena (Melanie Straub), Ilja (Torsten Flassig), Sonja (Lotte Schubert), Maria (Christina Geiße), Marina (Carolina Bigge)
Foto: Thomas Aurin

Auf dem Weg zur Vollkommenheit steckengeblieben

Stéphane Laimés Bühne orientiert sich an Tschechows Vorgabe. Auf einer sich nahezu die ganze Aufführung über langsam drehenden Bühne befindet sich das Gut von Serebrjakow. Herrschaftlich wirkt es nicht. Mit seinem im Rohbau verbliebenen Zustand erinnert es eher an Ruinen, wie man sie beispielsweise häufig in Griechenland sehen kann (als Folge der dortigen Finanz- und Wirtschaftskrise). Jede der vier Seiten hat eine eigene Ausgestaltung. Eine offene für den Wohnbereich (mitsamt weißen Kunststoff-Gartenstühlen), eine Veranda, ein Eingangsportal und eine Rückwand, die zugleich auch eine Innenwand darstellen kann. Denn Letztere besteht aus einem riesigen leeren Bücherregal. Wissen, Offenheit für andere Meinungen und Themen sind hier längst nicht mehr gewünscht.
Das Potenzial des Hauses (= der Gesellschaft) ist deutlich zu sehen, aber eine Fertigstellung (= Reifung der Persönlichkeit) ist in weiter Ferne. Alles bleibt beim Alten und so dreht die Bühne sich bis zum Schluss. Zum Ende hin verwandelt sie sich dann zusätzlich in eine winterliche Schneelandschaft. Der herabfallende Schnee sieht zwar bezaubernd aus, doch die Figuren nehmen diesen Zauber gar nicht wahr, sie laufen und machen weiter, solange sie können, nichts ändert sich.

Onkel Wanja
Schauspiel Frankfurt
Astrow (Wolfram Koch), Elena (Melanie Straub)
Foto: Thomas Aurin

Individualitäten und dezente musikalische Untermalung

Onkel Wanja ist ein tolles Ensemblestück. Jede Figur hat ihre eigene Ausprägung. Die Kostüme von Kathrin Plath orientieren sich lose an den 1960er-Jahren und sind für jede Figur sehr unterschiedlich. Herausragend sind die von Elena, die bei fast jedem Auftritt, derer es sehr viele gibt, ein anderes schickes Kleid trägt. Die Herren tragen lange Haare und wirken somit jünger. Der Arzt Astrow hat zudem einen außergewöhnlich langen Zwirbelbart als Ausdruck seiner Individualität.

Heiko Raulins Iwan Petrowitsch Wojnizkij, genannt Onkel Wanja, ist ein lange Zeit ausgeglichen wirkender Verwalter des Guts, dem dann aber gehörig der Kragen platzt. Großstädtisch gibt sich der Professor im Ruhestand Serebrjakow des Peter Schröder. Auch wenn er längst nicht mehr Ansehen und Erfolg genießt, seine junge zweite Frau Elena bleibt ihm weitestgehend treu. Melanie Straub verzaubert mit ihrem verführerischen Spiel und eleganten Outfits nicht nur Wanja und Astrow, sondern das ganze Publikum. Obwohl sie mit ihrem Äußeren hadert, ist Lotte Schuberts unglücklich verliebte Sonja ein wahres Energiebündel (und Sängerin dazu). Vornehme Zurückhaltung zeigt des Professors Schwiegermutter aus erster Ehe. Christina Geiße verleiht ihr eine edel anmutende Attitüde. Einen gesunden Appetit und Harmoniebedürfnis zeigt der Telegin des Torsten Flassig, der sich zudem mit Akkordeon und am Klavier mit dezentem Spiel einbringt. Als stumme Kinderfrau Marina ist Carolina Bigge mit akustischer und E-Gitarre stark präsent und verleiht, oftmals gemeinsam mit Torsten Flassig, der Aufführung eine schöne musikalische und poetische Untermalung. Für frischen Wind auf dem Gut sorgt der charismatische und trinkfreudige Klimaaktivist Astrow des Wolfram Koch.

Zum Schluss fährt das Gut in den Hintergrund, Wanja und seine Nichte Sofja stehen an der Bühnenrampe. Während Wanja eine Träne aus einem Auge kullert, verflüchtigt sich Sonja in den Traum einer glücklicheren Zukunft. Dunkelheit und Stille ergreift den Raum, der sogleich vom tosenden Applaus des Publikums erfüllt wird.

Markus Gründig, September 22


Onkel Wanja

(Djadja Wanja)

Szenen aus dem Dorfleben in vier Akten
Von: Anton Tschechow
Uraufführung: 26. Oktober 1899 (Moskau, Künstlertheater)

Premiere am Schauspiel Frankfurt: 22. September 22 (Schauspielhaus)
Besuchte Vorstellung: 26. September 22

Regie: Jan Bosse
Bühne: Stéphane Laimé
Kostüme: Kathrin Plath
Musik: Carolina Bigge
Dramaturgie: Gabriella Bußacker

Besetzung:

Alexander Wladimirowitsch Serebrjakow, Professor im Ruhestand: Peter Schröder
Elena Andrejewna, seine junge Frau: Melanie Straub
Sofja Alexandrowna (Sonja), seine Tochter aus erster Ehe: Lotte Schubert
Maria Wassiljewna Wojnizkaja, Mutter der ersten Frau des Professors: Christina Geiße
Iwan (Wanja) Petrowitsch Wojnizkij, ihr Sohn: Heiko Raulin
Michail Lwowitsch Astrow, Arzt: Wolfram Koch
Ilja Iljitsch Telegin, ehemaliger Gutsbesitzer: Torsten Flassig
Live-Musik: Carolina Bigge, Ralf Göbel

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