Im dritten Anlauf hat die Premiere von David Byrnes Secret Life of Humans am English Theatre Frankfurt nun geklappt. Corona-bedingt konnten die ursprünglich für 2020 und dann 2021 geplanten Premierentermine nicht realisiert werden. Ein unbeabsichtigter Vorteil der Verschiebungen ist, dass jetzt der Autor David Byrne zugleich als Regisseur gewonnen werden konnte.
Und die inzwischen verstrichene Zeit und aktuelle Krisen machen, wenn auch leider, das Stück noch aktueller als es bisher schon war. Mittlerweile tobt ein Krieg in Europa und sicher geglaubte Grundwerte werden infrage gestellt. Soll die Moral über Bord geworfen werden und die russischen Gasleitungen geöffnet werden, damit wir es bei niedrigen Heizkosten schön warm haben? Byrnes fragt in diesem Stück „Was bedeutet es, Mensch zu sein?“ und „Wohin gehen wir?
Die Handlung ist einfach, die Diskurse sind leicht diffizil
Das junge Paar Ava und Jamie lernt sich über die Dating-App Tinder kennen. Im Folgenden geht es weniger um ihren One-Night-Stand nach einer durchzechten Nacht, als um einen verschlossenen Raum im Haus von Jamies Großvater, dem britischen Mathematiker und Biologen Jacob Bronowski. In zeitlichen Überblendungen und Überschneidungen kommt er, seine Frau Rita und sein ehemaliger Kollege George dazu. Ava ist getrieben vom Willen, das in diesem Raum liegende Geheimnis zu lüften. Was ihr, zum Leidwesen von Jamie, dann auch gelingt.
Jacob Bronowski hat es tatsächlich gegeben (1908 -1974). Er wurde mit der BBC-Dokumentation „The Ascent of Men“ („Der Aufstieg des Menschen“) bekannt. Sein lang verschlossenes Geheimnis wurde nach seinem Tod von seiner Tochter Lisa Jardine gelüftet (mit ihrem Buch „My Father, the Bomb and Me“).
Im Stück stehen sich zwei unterschiedliche Grundhaltungen gegenüber. Bronowski, den alle gerne Bruno nennen dürfen, ist davon überzeugt, dass die Menschheit von ihren Fehlern lernt und sich bessert. Ava sieht das deutlich nüchterner, ja geradezu diametral. Sie folgt der Meinung des israelischen Autors Yuval Noah Hararis, der Byrne mit zu diesem Stück inspirierte. Harris wurde durch seine umfangreiche populärwissenschaftliche Monografie von 2011 „A Brief History of Humankind“ (Eine kurze Geschichte der Menschheit) bekannt. Sie wurde in knapp 50 Sprachen übersetzt und erreichte eine verkaufte Auflage von über 10 Millionen.
Die Diskurse um Philosophie, Anthropologie und Sozialgeschichte sind im Stück komprimiert und erfordern ein genaues Zuhören.
Faszinierende Mischung der Ebenen und Zeiten
Ob Brunos bzw. Jamies Zuhause, ein volles Restaurant, eine Universitätsbibliothek, ein Büro während des 2. Weltkriegs oder ein Fernsehstudio, die Szenerie wechselt permanent und schnell. Möglich wird dies durch eine leere Grundbühne mit einer überdimensionalen Tafel als Hintergrund. Regale, Tisch und Stühle werden je nach Bedarf schnell rein- und herausgeschoben. Die perfekt abgestimmte Ausleuchtung (Lichtdesign: Charlie Morgan Jones) setzt Akzente. Dezent eingesetzte sphärische Klänge (Sounddesign: Yaiza Varona) runden den faszinierenden Gesamteindruck ab. Trotz der so unterschiedlichen Handlungsorte und Zeiten scheinen diese Ebenen wie aufgehoben, als ein rundes Ganzes. Mithilfe von Videoprojektionen (Videodesign: Zakk Hein) kommen mit ersten Fußabdrücken selbst die Anfänge der Menschheit ganz nah. Aber auch Ausschnitte aus „The Ascent of Men“ und Originalaufnahmen aus Bronowskis letztem BBC-Interview mit Michael Parkinson (* 1935). Eine andere Perspektive auf die Sicht der Dinge vermitteln vertikal die Rückwand entlang laufende Figuren.
Einnehmende Suzy Kohane als Ava
Peter Clement gibt den akkuraten und seine Vergangenheit verdrängenden Wissenschaftler Bronowski mit viel Energie. Das Straucheln seines Enkels Jamie vermittelt Jamie Samuel glaubwürdig. Die lange Zeit nicht alle Seiten Ihres Mannes kennende Rita zeigt Olivia Hirst mit Anmut. Alex Wilson ist nicht nur als sich sorgender George, sondern auch als Moderator Michael Parkinson zu erleben. Die skeptische Ava der Suzy Kohane wirkt ob ihrer Kühnheit einnehmend.
Secret Life of Humans ist ein anspruchsvoller und gelungener Auftakt zur neuen Spielzeit des English Theatre Frankfurt (die unter dem Motto „The past is tense, the future perfect“ steht).
Markus Gründig, September 22
Secret Life of Humans
Eine Reise zur Geschichte der Menschheit
Von: David Byrne
Uraufführung: 2017 (Edinburgh, Fringe Festival)
Premiere/Deutsche Erstaufführung am English Theatre Frankfurt: 16. September 22
Regie: David Byrne
Co-Regie: Richard Delaney
Kostüme: Melanie Schöberl
Lichtdesign: Charlie Morgan Jones
Sounddesign: Yaiza Varona
Videodesign: Zakk Hein
Besetzung:
Jacob “Bruno” Bronowski: Peter Clements
Ava: Suzy Kohane
Rita Bronowski: Olivia Hirst
Jamie Bronowski: Jamie Samuel
english-theatre.de