Queerer »Tannhäuser« an der Oper Frankfurt begeistert das Publikum

Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg ~ Oper Frankfurt ~ v.l.n.r. Ein junger Student (Henri Klein, in blau-weiß geringeltem Shirt) und Tannhäuser (Marco Jentzsch; stehend) sowie Ensemble ~ © Barbara Aumüller

Noch vor ihrer RING-Inszenierung stellte sich die Regisseurin Vera Nemirova 2007 mit einer Neuinszenierung von Richard Wagners Tannhäuser vor. 17 Jahre später gab jetzt der südafrikanische Regisseur Matthew Wild mit diesem populären Werk sein Debüt an der Oper Frankfurt. Am Staatstheater Wiesbaden stellte er sich 2016 mit einer fesselnden Inszenierung von Leoš Janáčeks Katja Kabanova erstmals in Deutschland vor.

Sein Inszenierungsansatz ist ungewöhnlich, aber durchaus nachvollziehbar. Die Titelfigur ist hier ein mit seiner sexuellen Orientierung hadernder Schriftsteller, ein gesellschaftlicher Außenseiter. Weder Wagner noch sein geliebter Tannhäuser geben darauf direkte Hinweise. Gleichwohl war auch Wagner ein besonderer Mensch abseits üblicher Normen. Und gerade das hat von Anfang an zu einer starken Rezeption seiner Musik bei Menschen geführt, die abseits der heterosexuellen Mehrheit stehen (darunter so bekannte wie König Ludwig II. oder die Schriftsteller Oscar Wilde, Thomas Mann oder Christopher Isherwood). Wagners Musik bietet Denkräume und Identifikationsmöglichkeiten (seine streitbaren persönlichen Ansichten seien dabei außer Acht gelassen).

Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg
Oper Frankfurt
v.l.n.r. Tannhäuser (Marco Jentzsch) und Venus (Dshamilja Kaiser) sowie Ensemble
© Barbara Aumüller ~ szenenfoto.de

Gleichzeitig fragte sich Wild, wie man mit einem Werk eines Künstlers umgeht, der moralische Grenzen überschritten hat. Bleibt der ästhetische Wert der Kunst trotz persönlicher Fehltritte bestehen? Und wie kann ein schuldig Gewordener sein renommiertes Ansehen wieder in Ordnung bringen? Trotz einer großen inhaltlichen Verschiebung des Geschehens fügt sich Wilds Umsetzung sehr harmonisch in Wagners Werk ein.

Die Titelfigur trägt bei Matthew Wild den Namen Heinrich von Ofterdingen. Ein Name, der auf einen Minnesänger aus dem gleichnamigen Romanfragment von Novalis zurückgeht. Ofterdingens in der Oper ausgezeichneter Roman trägt den Titel „Monsalvat“. Nicht zufällig heißt so auch die fiktive Burg, in der der Heilige Gral verwahrt sein soll. Konkret wird die Vorgeschichte mit authentisch nachempfundenen Zeitungsausschnitten eingeblendet (Emigration vor Nazi-Deutschland, Erfolge in den USA und Rückzug aus der Öffentlichkeit).

Vielzahl an homoerotischen Bildern

Zu Beginn der Ouvertüre ist Elisabeth kurz mit einem ehrenvollen Gedenken an Heinrich von Ofterdingen in einem Hochschulsaal der katholischen Maris Stella University (Kalifornien) zu sehen. Eine Einblendung verweist auf das Jahr 2015. Die Oper erzählt seine Geschichte im Rückblick.

Und diese beginnt in seiner Wohnung, die einem Hotelzimmer ähnelt. Er sitzt dort, nimmt Morphintabletten, möchte schreiben und an seinen Erfolgsroman anknüpfen. Dieser wurde 1956 mit dem bedeutenden Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Jetzt, also Anfang der 1960er-Jahre, findet er keine passenden Wörter. Seine sexuellen Träume beginnen sich in den identisch gestalteten Räumen rechts und links von ihm zu visualisieren. Doppelgänger treffen hier auf symbolträchtige Figuren wie ein Adler, der sich auf Ganymed („Der Schönste aller Sterblichen“) stürzt oder Bachus. Assoziationen zu den Bildern von Caravaggio oder Michelangelo werden gesetzt. Und Tannhäuser selbst entdeckt dann auch noch seine eigene weibliche Seite. Projektionen von nackten Männeroberkörpern hüllen die Szenerie ein (Video: Clemens Walter).

Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg
Oper Frankfurt
Tannhäuser (Marco Jentzsch; in der Bildmitte kniend) und Ensemble
© Barbara Aumüller ~ szenenfoto.de

Die Tänzer sind mit ihren athletischen Körpern sehr beweglich (und oberkörperfrei, wenn nicht gar im Adamskostüm; Luciano Baptiste / Tommaso Bertasi / Ken Bridgen / Andrii Punko / Thomas Riess / Maximilian Kutzner). Später kreuzt immer wieder ein Ringerpaar im eng anliegenden Trikots den Weg Tannhäusers und weckt seine Sinne. Ein nackter schwarzer Bock fällt dem Pilgerchor zum Opfer (insbesondere dessen Genitalien). Die vielen stereotypischen Bilder sind eindeutig. In der Gesamtwirkung sind sie taktvoll gesetzt.

Sexueller Übergriff wird Tannhäuser zum Verhängnis

Die Rückwand eines Halbrunds (des Hörsaals, mit einer Ähnlichkeit zum Bühnenbild von L’italiana in Londra) dient als kirchlicher Raum. Das Sängerfest auf der Wartburg ist hier ein Charity-Poetry-Event, das 1961 im Hörsaal veranstaltet wird. Per Videoeinspielung wird auf das 2. Vatikanische Konzil (1962-1966) Bezug genommen, das die Kirche erneuern sollte. Im Hinblick auf die Rolle der Frau und der Ächtung sexueller Minderheiten blieb es stark hinter den Erwartungen zurück. Die Segnung homosexueller Paare in der katholischen Kirche ist erst seit kurz vor Weihnachten 2023 (!) erlaubt.
Mit einer intensiven Zuwendung an einen jungen Mann (Henri Klein) löst Tannhäuser einen Skandal aus, die Studenten fallen wie ein Mob über ihn her. Im dritten Aufzug (Akt) kehrt Tannhäuser in seine Wohnung zurück (Bühne: Herbert Barz-Murauer). Mit ihrer farbenfrohen Kleidung und den Föhnfrisuren der Damen wirkt die Studentenschar ein wenig dem Musical Hairspray entsprungen (Kostüme: Raphaela Rose).

Musikalische- und sängerische Topleistung

Bei aller Vielfalt des szenischen Geschehens stehen der Gesang und die Musik im Mittelpunkt der gut vierstündigen Aufführung (mit zwei Pausen). In der Titelrolle glänzt Tenor Marco Jentzsch mit seiner hellen und frisch klingenden Stimme. Die schwedische Sopranistin Christina Nilsson gibt der Elisabeth viel Herzenswärme. Sehr speziell ist bei dieser Inszenierung die Figur der Venus gezeichnet. Sie ist kein klassischer Vamp, vielmehr Verführerin der Sinne. Mezzosopranistin Dshamilja Kaiser, mit schwärzlich geschminktem Gesicht, Glatze und einem ärmelfreien Kleid, das vom oberen Weiß nach unten immer dunkler wird, gleicht eher einem Gespenst, vor dem man sich fürchtet.

Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg
Oper Frankfurt
Hermann, Landgraf von Thüringen (Andreas Bauer Kanabas) und Elisabeth (Christina Nilsson)
© Barbara Aumüller ~ szenenfoto.de

Souverän gibt Bariton Domen Križaj den Wolfram von Eschenbach. Bass Andreas Bauer Kanabas trumpft vollmundig und mit Erhabenheit als Hermann, Landgraf von Thüringen, auf. Sopranistin Karolina Bengtsson verleiht dem jungen Hirten einnehmende Züge.
Dazu fügen sich Magnus Dietrich (Walther von der Vogelweide), Erik van Heyningen (Biterolf), Michael Porter (Heinrich der Schreiber) und Magnús Baldvinsson (Reinmar von Zweter) vortrefflich ein.

Bei dem zum Publikum gerichteten Hörsaal präsentiert sich der Chor der Oper Frankfurt (Einstudierung: Tilmann Michael) wieder spielfreudig und überaus klangvoll. Gespielt wird die Wiener Fassung der Oper. Diese zeichnet sich vor allem durch eine erweiterte Venus-Szene aus („Venusberg-Bacchanal“). GMD Thomas Guggeis geht den ersten Aufzug (Akt) noch mit etwas Zurückhaltung an, um dann im zweiten und dritten Aufzug umso dramatischer und plastischer Wagners Musik vom Frankfurter Opern- und Museumsorchester spielen zu lassen. Eine Besonderheit der Oper ist, dass Richard Wagner im dritten Aufzug für die Bühnenmusik zwei zusätzliche Orchester im Graben vorgesehen hat, um dem Publikum einen besonderen Höreindruck zu ermöglichen. Eine derartige Umsetzung ist mangels Platz hier nicht möglich. Um verwöhnten Ohren von heute dennoch ein besonderes Hörerlebnis zu ermöglichen, wurden vorab die Orchestermusiken (und manche Chorstellen) aufgezeichnet. Sie werden zugespielt und ermöglichen einen erweiterten Klangeindruck.

Am Ende hat Elisabeth nicht nur überlebt, sie vollendet auch Tannhäusers letzten Roman und wird Ehrenprofessorin der Maris Stella University. Ihr eigener Roman über sexuelle Toleranz erhält eine Auszeichnung. Ein Signal pro all den Menschen, die von zweigeschlechtlichen und heterosexuellen Normen abweichen.

Am Ende spendete das begeisterte Publikum lang anhaltenden Applaus und gab Standing Ovations.

Markus Gründig, Mai 24


Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg

Romantische Oper in drei Aufzügen

Von: Richard Wagner
Uraufführung: 19. Oktober 1845 (Dresden, Hoftheater)

Premiere: 28. April 24
Besuchte Vorstellung: 1. Mai 24

Musikalische Leitung: Thomas Guggeis
Inszenierung: Matthew Wild
Bühnenbild: Herbert Barz-Murauer
Kostüme: Raphaela Rose
Choreografie: Louisa Talbot
Video: Clemens Walter
Licht: Jan Hartmann
Chor: Tilman Michael
Dramaturgie: Maximilian Enderle

Besetzung:

Tannhäuser: Marco Jentzsch
Elisabeth: Christina Nilsson
Venus: Dshamilja Kaiser
Wolfram von Eschenbach: Domen Križaj
Hermann, Landgraf von Thüringen: Andreas Bauer Kanabas
Walther von der Vogelweide: Magnus Dietrich
Biterolf: Erik van Heyningen
Heinrich der Schreiber: Michael Porter
Reinmar von Zweter: Magnús Baldvinsson
Ein junger Hirt: Karolina Bengtsson
Vier Edelknaben: Marta Casas / Chloe Robbins / Emma Stannard / Elena Tasevska
Tänzer*innen: Luciano Baptiste / Tommaso Bertasi / Ken Bridgen / Andrii Punko / Thomas Riess / Maximilian Kutzner
Ein junger Student: Henri Klein
Botticellis Venus / Elisabeth Double: Annabelle Krukow

Chor der Oper Frankfurt
Frankfurter Opern- und Museumsorchester

oper-frankfurt.de