Sich mit gesellschaftspolitischen Themen auseinanderzusetzen ist Kernthema vom Theater. Die israelische Choreografin Saar Magal nutzt dazu Tanz, Theater und Musik. Als Auftragsarbeit des Schauspiel Frankfurt feierte jetzt ihr jüngstes Stück 10 Odd Emotions seine Uraufführung im Schauspielhaus. Das Crossover-Projekt entstand in Zusammenarbeit mit der Dresden Frankfurt Dance Company und sollte ursprünglich bereits am 25. März 2021 Premiere haben. Doch die Corona-Pandemie sorgte für einen deutlich späteren Premierentermin. Beteiligt sind, wie ursprünglich auch geplant, weitere freie Tänzerinnen, Schauspieler und Musiker.
Der Titel ist wörtlich zu nehmen. Saar Magal zeigt zehn Szenen, die seltsame (odd) Gefühle (Emotions) vermitteln. Innerhalb von 75 Minuten zeigt sie collagenhaft zahlreiche eindrucksvolle Bilder, um über Mechanismen antisemitischer Gewalt und Erfahrungen der Ex- und Inklusion zu reflektieren. Dies geschieht teilweise offensichtlich, teilweise verschlüsselt.
Die Bühne im Schauspielhaus ist mit aufgestellten Wänden etwas verkleinert worden. Die Wände dienen stellenweise gleichfalls als Projektionsfläche für szenische Videoaufzeichnungen des Ensembles (Bühne: Magdalena Gut; Bühnenbildentwurf: Eva Veronica Born; Video: Natan Berkowicz, Macin Kosakowski).
Wenn das Publikum den Saal betritt, sitzen vier Akteure bereits auf Stühlen. Dann treten langsam aus schmalen Spalten die weiteren hinzu. Alle sind zunächst in kräftigen Grüntönen und -mustern gekleidet. Die Szenerie wirkt etwas unheimlich, denn die Performer:innen zeigen sich als gesichtslose fast einheitliche Masse. So wird gleich zu Beginn die Frage gestellt, was „normal“ ist. Die Schauspielerin Sarah Grunert erzählt von Norma, der idealen Durchschnittsamerikanerin, die gerade gewachsen, stark, jung, gesund, Emblem des Nationalkörpers etc. ist. Und vom strammen jungen Mann Norman, der mit oder ohne Feigenblatt erhältlich ist. Währenddessen zeigen die Performer:innen ihre eigne Normalität, die schnell in Streit und Gewalt mündet.
Es folgt eine Art Vorstellung individueller Persönlichkeiten anhand von Schlagwörtern. Viel Zeit wird sich für die dritte Szene („Sag ihr“) genommen, bei der der Boden sorgfältig mit Zetteln (Lebensläufen?) ausgelegt wird. Währenddessen sind Sarah Grunert und Andreas Vögler im Dialog miteinander, wie die eigentlich nicht aussprechbare Vergangenheit des Holocausts der jungen Generation erzählt werden kann. Beispielsweise ist nicht das Sterben der Großmutter wichtig, sondern das durch sie das Backen erlernt wurde. Vorschläge für Veränderungen („Können wir teilen?“) werden abgelehnt. Adaya Berkovic singt auf jüdisch eine melancholische Ballade, ihr kann man emotional gut folgen, wenn man den Text nicht verstehen sollte.
Eine Frau wird erst als Tote beachtet und vom Performer Paul Wolff-Plotegg mit Wissen (Büchern) zugedeckt, das die anderen zwar hatten, aber ignorierten.
Der Wechsel zwischen solistisch dargebotenen Emotionen und großen Ensembleszenen kommt gut an. Saar Magal zeigt ein sorgsam durchchoreografiertes Bewegungstheater, ergänzt um große Tanzszenen.
Beeindruckend ist eine große Flucht-Szene mit den stärksten körperlichen Aktionen, wie einem hektischen Rückwärtslauf in „Brücken“-Position und das qualvolles Winden eines einzelnen (David Leonidas Thiel), während alle anderen um ihn herumstehen.
Die beiden Musiker Omer Klein und Silvan Strauss sorgen vom linken Bühnenrand für musikalische Untermalung, die zwischen intimen, zarten Tönen und heftigen, brachialen Ausbrüchen schwankt.
Zum Ende dreht die Rückwand 45 Grad auf und das Ensemble ist als strenge Formation, die rhythmisch ausatmet, die Arme reckt und mit den Füßen stampft. Erst brechen vereinzelt Performer:innen zusammen, dann zunehmend mehr und mehr, bis sie fast alle schließlich vorne am Bühnenrand gar in den Graben fallen. Doch das ist nicht das Ende, denn das Leben ist ein ewiger Kreislauf (dargeboten mit dem hoffnungsvoll stimmenden Auftauchen einer Armada von Babypuppen).
Sehr viel Applaus und Jubel von den Fanreihen.
Markus Gründig, Januar 23
Zur thematischen Vertiefung finden sich im Programmheft neben einen erläuternden Text des Dramaturgen Alexander Leiffheidt und einem abgedruckten Gespräch mit Saar Magal auch kurze Aufsätze zu den Themen „Dimensionen des Antisemitismus“, „Zur Funktion und Nutzen von Antisemitismus und Kolonialrassismus“ und „Multidirektionale Erinnerung“.
10 odd emotions
Von: Saar Magal
Koproduktion mit der Dresden Frankfurt Dance Company
Premiere/Uraufführung am Schauspiel Frankfurt: 21. Januar 23 (Schauspielhaus)
Konzept und Regie: Saar Magal
Choreografie: Saar Magal, in Zusammenarbeit mit dem Ensemble
Musik: Omer Klein
Bühne: Magdalena Gut
Kostüme: Slavna Martinovic
Probenleitung Choreografie: Niv Marinberg
Dramaturgie: Alexander Leiffheidt
Licht: Frank Kraus
Video: Natan Berkowicz, Macin Kosakowski
tanzdramaturgische Beratung: Julia Kraus
Bühnenbildentwurf: Eva Veronica Born
Mit: Sarah Grunert, Todd Baker, Adaya Berkovich, Felix Berning, Kevin Beyer, Bat El Dotan, Roberta Inghilterra, Clay Koonar, Barbora Kubátová, Amanda Lana, Zoe Lenzi Allaria, Allison McGuire, Gjergji Meshaj, Alessandra Miotti, Gaizka Morales Richard, David Leonidas Thiel, Andreas Vögler, Isaiah Wilson, Paul Wolff-Plotegg
Omer Klein, Silvan Strauss (Live-Musik)
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