Vom Wiedererwecken Toter: Theater Willy Praml zeigt »Antigone«

Antigone ~ Theater Willy Praml ~ Ensemble ~ © Seweryn Zelazny

Johann C. F. Hölderlins Werke zählen zu den nobelsten und anspruchsvollsten Dichtungen deutscher Sprache. Dieses Jahr wird seines 250. Geburtstags gedacht. Der gemeinnützige Kulturfonds Frankfurt RheinMain GmbH initiierte hierzu rund 60 Veranstaltungen, die Ausstellungen, Installationen, Konzerte, Lesungen, wissenschaftliche Vorträge und Diskussionen und Theaterproduktionen umfassen. Zu Letzteren zählt auch die Inszenierung Antigone des Frankfurter Theater Willy Praml in der Naxoshalle, die u. a. vom Kulturfonds unterstützt wurde und in Kooperation mit dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach entstand. Die erstmals im Jahr 442 v. Chr. aufgeführte Tragödie stammt von Sophokles. Hölderlin hat sie 1804 in deutsche Blankverse übertragen.

Die kurze Zeit des Lebens und die lange lange Zeit des nicht Lebens

Theater in Zeiten von Corona ist eine Herausforderung. Mit der Naxoshalle als Spielstätte hat das Theater Willy Praml nicht nur eine Industriekathedrale mit einem einzigartigen Ambiente zu bieten, sondern auch ein großes Raumangebot. Dies steht normalerweise den Darstellern auf der Bühne (= Halle) zur Verfügung. Um aktuelle Sicherheitsanforderungen zu erfüllen, wurde kurzerhand die Bühne mit dem Publikumsplätzen getauscht. Bei Antigone sitzen die Zuschauer weit verteilt in der großen Halle, die Publikumstribüne gilt als Bühne (nebst vorgelagertem runden Podest, vorbereitet für ein Quintett, mit Stühlen und Notenständern). Antigone ist die erste gemeinsame Regiearbeit von Willy Praml und Michael Weber. Schauspieler, Bühnen- und Kostümbildner Weber hat die Seiten gewechselt. Ursprünglich wollte er als erste eigenständige Regiearbeit dieses Frühjahr Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf? inszenieren (die nun auf das Frühjahr 2021 verlegt wurde).

Antigone
Theater Willy Praml
Geier (Jakob Gail)
© Seweryn Zelazny

Ihre Inszenierung ist klassisch gehalten. Trotz vieler beeindruckender Optiken und Regieeinfällen steht das gesprochene Wort im Fokus. Jeder Satz wird langsam, mitunter sehr langsam gesprochen. Jedes Wort zählt, hat Bedeutung und Sinn. Verwendet wird Hölderlins Übersetzung in einer Bearbeitung von Schriftsteller Martin Walser und Schauspieler Edgar Selge (nebst kurzer Fremdtexte).
Willy Praml ist als „Künstler, Dichter, Sänger, Musiker, Hölderlin, also als ein Narr“ (Programmankündigung von Michael Weber) beteiligt. Zu Beginn betritt er das Schlachtfeld, dass die Erben von Ödipus angerichtet haben. Leichensäcke liegen verstreut in Theben, auf Blut überströmten Stufen des Palastes (Bühne: Michael Weber). Der Narr erzählt die Vorgeschichte, das Unheil des Ödipus. Und lässt dann sogleich all die Toten auferstehen, mit Anspielung auf die kurze Zeit des Lebens und die lange lange Zeit des nicht Lebens.

Antigone
Theater Willy Praml
Ensemble
© Seweryn Zelazny

Masken, Musik und der ganze Mensch

Prägendes Regiekonzept von Willy Praml und Michael Weber ist die Rollenverteilung in Form von Mehrfachbesetzungen. Die beiden Hauptstreiter Ödipus´ Tochter Antigone und der König von Theben Kreon, werden von jeweils drei DarstellerInnen gespielt. Es geht um den ganzen Menschen, egal ob Mann oder Frau. Sie haben darüber hinaus weitere Rollen inne. Und alle bilden zudem den Chor: Reinhold Behling, Hannah Bröder, Jakob Gail, Muawia Harb, Birgit Heuser, Sam Michelson und Anna Staab. Um dabei nicht den Überblick zu verlieren, kommen Masken in Form von Schildern zum Einsatz, die entsprechend aufgegriffen werden (Masken: Cathrina Priem und Vroni Schwegler). Antigone und ihre Schwester Ismene sind darauf im Positiv-, alle anderen in Negativ-Druck abgebildet, wodurch der universelle Charakter der Figuren zusätzlich unterstrichen wird.
Einen hohen Stellenwert im Gesamtkonzept haben eingespielte musikalische Einlagen. Dabei handelt es sich um besänftigend wirkende, melancholisch gefärbte Musik von Franz Schubert (Auszüge aus dem Streichquartett C-Dur op. 163, Notturno in Es-Dur op. 148 und das Klaviertrio Nr. 2 in Es-Dur op. 100; die, wie im Programmheft ausgeführt, Praml während einer Reha berührt und inspiriert haben). Dazu kommt von der rechten Seite ein Flügel zum Vorschein. Später wird er vorbei an dem Rondell für die imaginären Musiker, auf die linke Seite geschoben. Ein musikalischer Bogen vom Anfang bis zum Ende oder von Geburt bis Tod? Die Auslegungen für derartige Regieeinfälle sind frei und wie Michael Weber vor Beginn in einer kurzen Ansprache anmerkte, für ein Verständnis der Tragödie nicht zwingend. Wie auch ein kurzer Theaterschlaf durchaus kein Drama ist, schließlich sorge das eine oder andere Geräusch oder Gefühlsausbruch der Figuren schon für ein Erwachen.

Am Ende ist der „Narr“ wieder da und entlässt das Publikum, das zwei Stunden gebannt der Frage nachgegangen ist, ob staatliche Macht oder individuelle ethische Überzeugungen den Vorrang haben sollen, zurück in das eigene kurze Leben.

Markus Gründig, August 20


Antigone

Tragödie

Von: Sophokles, deutsch von Friedrich Hölderlin, bearbeitet von Martin Walser und Edgar Selge

Premiere am Theater Willy Praml Fr. 28. August 20 (Naxoshalle, Frankfurt/M)
Im Rahmen von Hölderlin 2020 auf Initiative des Kulturfonds Frankfurt RheinMain und in Kooperation mit dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach.

Konzeption/ Dramaturgie/ Regie: Willy Praml / Michael Weber
Bühne: Michael Weber
Kostüme: Paula Kern

Mit: Reinhold Behling, Hannah Bröder, Jakob Gail, Muawia Harb, Birgit Heuser, Sam Michelson, Willy Praml, Anna Staab

Theaternachlese im Haus am Dom „Leben – um jeden Preis?“: Mo. 21. September 20 (Eintritt frei; Anmeldung unter b.reichmann@bistumlimburg.de)
– Willy Praml ind Mitglieder seines Ensembles
– Prof. Dr. Thomas Hanke, Philosoph
– Dr. Lisa Strassberger, KARM
– Dr. Stefan Scholz, KARM


theater-willypraml.de