Massenets Spätwerk »Don Quichotte« am Staatstheater Darmstadt

Don Quichotte ~ Staatstheater Darmstadt ~ Dorfbevölkerung (Opernchor), Don Quichotte (Johannes Seokhoon Moon), Sancho Panza (David Stout) ~ © Nils Heck

Jules Massenet (1842-1912) war ein unermüdlicher Musikschaffender. Er schrieb über 30 Opern, von denen 20 szenisch realisiert wurden. Dabei war er bis zum Schluss ein Komponist des 19. Jahrhunderts, die musikalische Moderne findet sich nicht in seinen Werken, ebenso wenig sozialkritische Töne.
Heute am weitverbreitetsten sind seine Opern Manon und Werther. Don Quichotte führt trotz der großen literarischen Vorlage von Cervantes eher ein Schattendasein. Gleichwohl gilt die Titelrolle für Basssänger als Wunschrolle. Sie ist umfangreich und sehr facettenreich angelegt.

Während auf der großen Seebühne der Bregenzer Festspiele 2019 die Geschichte der traurigen Figur des Hofnarrn Rigoletto gezeigt wurde, spielte im Festspielhaus Massenets Comédie héroïque Don Quichotte (zudem gab es ein Don Quijote in Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin mit Wolfram Koch und Ulrich Matthes im Theater am Kornmarkt). Die musikalische Leitung der Oper im Festspielhaus hatte Daniel Cohen inne, der seit der Spielzeit 2018/19 Generalmusikdirektor des Staatstheaters Darmstadt ist. Dort sollte die Bregenzer Inszenierung bereits im Jahr 2020 gezeigt werden, sie musste coronabedingt auf 2022 verschoben werden.

Don Quichotte
Staatstheater Darmstadt
Don Quichotte (Johannes Seokhoon Moon)
© Nils-Heck

Don Quichottes Suche nach sich selbst

Henri Cains Libretto komprimiert den großen Roman auf die Beziehung zwischen Don Quichotte und Dulcinée. In der Inszenierung der französischen Regisseurin Marianne Clément werden die fünf Akte nahezu als eigenständige Geschichten erzählt. Vom Ende des 16. Jahrhunderts führt sie bis ins Heute. Dabei ist die Titelfigur kein Ritter von der traurigen Gestalt, der als komischer Vogel vorgeführt wird. Er ist vielmehr ein Mann von heute, auf der Suche nach seiner eigenen Männlichkeit.

Noch bevor sich der Eiserne Vorhang hebt, eröffnet ein knapp 2-minütiger englischsprachiger Werbespot einer Rasierermarke den Abend. Er entstand unter dem Einfluss der Me Too Bewegung und ermuntert Männer nach hehren Zielen zu streben und bei Gewalt gegen Frauen nicht zu schweigen, sondern dagegen vorzugehen („The best a man can get ~ It’s only by challenging ourselves to do more that we can get closer to our best“). Er brachte dem Konzern 2019 einen Shitstorm und Boykottaufrufe ein und auch jetzt im Theater kommt es zu turbulenten Situationen. Nur zu gut, dass Don Quichotte von Anbeginn an im Saal sitzt und besänftigend einwirken kann…

Nach einer historisierenden Eröffnungsszene, bei der selbst Don Quichottes Pferd Rosinante nicht fehlt, finden sich die nächsten drei Akte in einem heutigen Setting. Don Quichotte ist nun nicht mehr ein greiser Mann in Ritterkostüm, sondern ein attraktiver junger Mann, der sich rasiert, eine Dusche nimmt und bildwirksam mit Klobürste und WC-Deckel gegen eine Windmühle in Form eines überdimensionalen Ventilators kämpft. Er ist auch ein ehrenhafter Superman in einem mit Graffitti und Unrat verdreckten Unort, der die Welt verbessern will und ein unauffälliger Büroangestellter im biederen Pullunder in einem Großraumbüro (Bühne & Kostüm: Julia Hansen). Zum finalen Akt wird der Blick auf die Figur weiter distanziert. Als Bühne auf der Bühne finden sich Don Quichotte und sein Diener Sancho Pansa an einem Baum in La Mancha ein, während Dulcinee zunächst beim Publikum Platz nimmt und das Geschehen beobachtet, um dann aus der Ferne zu singen.

Don Quichotte
Staatstheater Darmstadt
Dulcinée (Solgerd Isalv), Don Quichotte (Johannes Seokhoon Moon), Ensemble
© Nils Heck

Auftrumpfender Johannes Seokhoon Moon in der Titelrolle

Der koreanische Bass Johannes Seokhoon Moon ist seit der Spielzeit 2017/18 Ensemblemitglied des Staatstheaters Darmstadt. Mit profunder Stimme meistert er Akt für Akt großartig. Gleichzeitig zeigt er die Figur mit fernöstlicher Bescheidenheit und Würde, was zur Figur hervorragend passt. Grober angelegt, sei es als trinkfreudiger oder rockiger Geselle, ist die Figur des Sancho Pansa (aber auch zurückhaltender „Normalbürger“ und einfacher Büroangestellter). Der britische Bariton David Stout gefällt darin mit vitalem Spiel und kraftvoller Stimme. Er verkörperte diese Rolle bereits in Bregenz. Dies trifft auch auf Felix Defèr (entrüsteter „Der Mann“) und den französischen Schauspieler Elie Chapus (verwegener Anführer der Banditen) zu.

Dulcinée erscheint zunächst ganz als verführerische attraktive Frau auf einem Balkon. Im vierten Akt ist sie eine umworbene Abteilungsleiterin und mit nunmehr einseitig kurzen Haaren ein ganz anderer Typ von Frau. Die schwedische Mezzosopranistin Solgerd Isalv, seit der Spielzeit 2020/21 Mitglied des Opernensembles des Staatstheaters, verführt mit sinnlichem Spiel und schön geführter Stimme.
Die Vielfalt von Cléments Inszenierung zeigen sich auch bei den Figuren der Kavaliere Pedro und Garcias, die mit Frauen besetzt sind (Juliana Zara und Jana Baumeister). Das gut aufspielende Team wird ergänzt von Michael Pegher (bedächtiger Rodriguez), David Pichlmaier (übergriffiger Juan), Werner Volker Meyer und Myong-Yong Eom (Diener).

Mit sichtbar guter Laune ist der von Ines Kaun präzise einstudierte Chor des Staatstheaters Darmstadt zu erleben. Das Staatsorchester Darmstadt führt unter dem zupackenden Dirigat von Daniel Cohen farbenreich vor, dass diese Oper durchaus einen Platz im gängigen Opernrepertoire verdient hat.
Sehr viel Beifall.

Markus Gründig, Februar 22


Don Quichotte

Comédie héroïque in fünf Akten
Von: Jules Massenet
Libretto: Henri Cain nach Jacques Le Lorrains „Le Chevalier de la longue figure“
Uraufführung: 19. Februar 1910 (Monaco, Opéra de Monte Carlo)

Premiere am Staatstheater Darmstadt: 13. Februar 22 (Großes Haus)
Eine Produktion der Bregenzer Festspiele 2019

Musikalische Leitung: Daniel Cohen / Jan Croonenbroeck
Regie: Mariame Clément
Bühne & Kostüm: Julia Hansen
Lichtdesign: Ulrik Gad
Szenische Einstudierung: Marcos Darbyshire
Kampfchoreografie: Ran Arthur Braun
Dramaturg Bregenz: Olaf A. Schmitt
Dramaturgie: Isabelle Becker
Choreinstudierung: Ines Kaun

Besetzung:

Don Quichotte: Johannes Seokhoon Moon / Sam Carl
Sancho: David Stout / Julian Orlishausen
Dulcinée: Solgerd Isalv / Lena Sutor-Wernich
Pedro: Juliana Zara / Cathrin Lange
Garcias: Jana Baumeister / Megan Marie Hart
Rodriguez: Michael Pegher
Juan: David Pichlmaier
Ein Bandit: Stanislav Kirov
Diener: Werner Volker Meyer / Myong-Yong Eom
Anführer der Banditen: Elie Chapus
Der Mann: Felix Defèr

Staatsorchester Darmstadt
Opernchor des Staatstheaters Darmstadt
Statisterie des Staatstheaters Darmstadt

staatstheater-darmstadt.de