»LJOD – Das Eis – Die Trilogie« am Staatstheater Mainz packend dramatisiert

LJOD - Das Eis ~ Staatstheater Mainz ~ Johannes Schmidt, Mark Ortel, Leoni Schulz (© Andreas Etter)
kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Bereits in den Jahren 2002 bis 2005 erschien die Trilogie LJOD – Das Eis, Bro und 23000 des russischen Dramatikers und Schriftstellers Vladimir Sorokin. Der scharfe Kritiker der politischen Eliten Russland gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller, was ihn nicht vor heftigen Angriffen regimetreuer Gruppen schützt. In seiner „Eis“-Trilogie geht es um eine Gruppe Auserwählter, die sich als höherwertige Menschen ansieht. Haben sie sich schließlich alle gefunden, es sind ihrer genau 23000, und haben sie dann alle 23 „Herzenswörter“ chorisch gesprochen, wird sich die Erde in Licht auflösen. Denn die Existenz der Erde ist ein Fehler, den es zu korrigieren gilt. Am Anfang allen Seins existierte nur das aus 23000 Strahlen bestehende ursprüngliche Licht, das im absoluten Nichts um seiner selbst willen leuchtete. Wenn ihm danach war, schuf es Welten, bis hin zum Universum. Doch eine Schöpfung war fehlerhaft, die der Erde. Da sich auf dieser Wasser befand, wurden die Strahlen der 23000 reflektiert. Die Bruderschaft wurde so zu primitiven Lebewesen, wandelte sich von primitiven Amöben bis hin zum Menschen. Weit verstreut, sind sie seit 1908 bestrebt, sich zu sammeln. Denn am 8. Juni dieses Jahres soll der Tunguska-Meteroit auf die Erde gefallen sein. Nur durch dessen Eis gerät das Herz der 23000 in Vibration und erwacht. Fortan können die Erwachten mit ihren Herzen zueinander sprechen. Um sich zu finden, müssen sie potentiellen Geschwistern brutal mit einer Eis-Axt (natürlich original Eis vom Tunguska-Meteroit) auf die Brust hämmern. Kollateralschäden wie der Tod der Menschen ohne sprechendes Herz, sind irrelevant. Da allerdings nur blonde und blauäugige Menschen in Betracht kommen, trifft es zumindest nicht alle. Um ihr Ziel zu erreichen, schrecken sie nicht vor Gewalt und Verbrechen zurück, sind nicht besser als die von ihnen verachteten „Hohlkörper“. Untereinander sind sie sehr fürsorglich (finanzielle Sorgen braucht sich keiner machen), sie leben vegan und stehen erhaben über den sexuellen Trieben der „Fleischmaschinen“.


LJOD – Das Eis
Staatstheater Mainz
Simon Braunboeck, Mark Ortel
© Andreas Etter

Die drei Romane umfassen die Zeit von 1908 bis zur Gegenwart. Eine zentrale Rolle nimmt dabei die Zeit des Nationalsozialismus ein. Die Handlung spielt zunächst im Moskau der Gegenwart, springt dann zurück in die Zeit des 2. Weltkriegs und ins Dorf Koljubakino, gefolgt von Schauplätzen in deutschen und sibirischen Gefangenenlager.
Für das Staatstheater Mainz hat sich Hausregisseur Jan-Christoph Gockel die Arbeit gemacht, die Trilogie für die Bühne zu bearbeiten (Mitarbeit: Rebecca Reuter und Bernd Ritter). Trotz starker Kürzungen dauert der als „Theatermarathon“ bezeichnete Abend, der die Trilogie in sechs Folgen aufteilt, zwar fünf Stunden, hat aber keine Längen (dafür zwei Pausen; passend zum Stück gibt es in der ersten Pause auf dem Triton-Platz die Möglichkeit, eine Borretsch Suppe zu verspeisen). Dafür sorgt nicht zuletzt das ausgesprochen lustvolle und engagierte Spiel der acht beteiligten DarstellerInnen (zuzüglich zwei Kinderdarsteller), die allesamt in Mehrfachbesetzungen zu erleben sind. Es wird viel mit Livevideobildern (Video Gestaltung: Christoph Schödel, De-Da Productions, Vanessa Dahl; Live Video: Vanessa Dahl) gearbeitet, stellenweise werden vorgefertigte „Berichte“ eingespielt. Die musikalische Untermalung reicht von Pop bis hin zu Richard Wagner (Auszug aus Hitlers Lieblingsoper Rienzi, der letzte der Tribunen; Musik und Hörspiel: Matthias Grübel). Und weil das noch nicht genug ist, gibt es eine Livezeichnerin (Seda Demiriz), deren Tabletzeichnungen auf die Bühne projiziert werden und Werbespots des Ljod-Verkaufskanals (ljod-mein-shop24.ru) für das „Ljod-Wellnesset“ (zur Deckung des immensen Finanzbedarfs der Gruppe).


LJOD – Das Eis
Staatstheater Mainz
Monika Dortschy, Leoni-Schulz
(© Andreas Etter)

Die 4. Wand wird öfters durchbrochen, wenn beispielsweise protestierende Opfer (deren Selbsthilfenetzwerk man sich unter www.icehammervictims.org anschließen kann) von außen in den Saal einziehen oder wenn „Hohlkörper“ per Suchscheinwerfer im Publikum mit ihren Schwächen geoutet werden. Eine latente Bedrohungsstimmung vermitteln auf der Bühne sich auf und ab bewegende Container. Sibirische Waldimpressionen werden mit einem großen Bühnenprospekt vermittelt (der durch unterschiedliche Hintergrundbeleuchtung in unterschiedlichen Tagesstimmungen erscheint; Bühne: Julia Kurzweg).


LJOD – Das Eis
Staatstheater Mainz
Vincent Doddema
(© Andreas Etter)

Insbesondere der erste Teil vom Anfang der Trilogie bietet viele Gelegenheiten für ein schillerndes Panoptikum unterschiedlicher Szenen, erzählt Sorokin hier doch collagenhaft von vielen verschiedenen Versuchen, Menschen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten im verkommenen Moskau von heute, das Herz aufzubrechen. Mark Ortels jugendlicher Juri (Herzensname Ural) ist der erste, der zum wahren Leben erweckt wird und von der fürsorglichen Krankenschwester (Gesa Geue; auch singend beteiligt) umsorgt wird und dessen Freund Kela in einer antisemitischen Dauerschleife festgefahren ist.
Eine zentrale Rolle im ersten Buch nimmt die Figur der Chram ein, die als eine der wenigen Erweckten alle 23 Herzenswörter empfangen hat. Monika Dortschy, zunächst als schimpfende Prostituierte zu erleben, ist eine Chram mit einer mystischen Aura, die während ihrer Gefangenschaft selbst ohne Worte zu sprechen, überaus ausdrucksstark ist. Neben Mark Ortel zeigt sich auch Simon Braunboeck im Adamskostüm, betört u. a. mit seinen schwingenden „Heizer-Pobacken“, weshalb er im Gefangenenlager kurzerhand „Ofen“ genannt wird. Der längste dramatische Soloteil obliegt Vincent Doddema als Bro, wenn er von der verzweifelten Suche nach dem Meteoriteneis berichtet. Leoni Schulz zeigt sich wandelbar als prolliges Callgirl Nikolajewa und Chram 3. Johannes Schmidt ist der gut situierte Barenboim/Moho, der sich ob der Geschehnisse irritiert in einer Badewanne wieder findet und in der finalen Folge ein besonnener und der Macht des Faktischen ins Auge schauende Ernst Wolf. Sein komisches Talent spielt Sebastian Brandes dezent aber wirksam aus, sei es als Major Gorbatsch, böser Knirps Fedotow, gewissenhafter Kulik oder genervter Casting-Direktor.

Am Ende der grotesken Story haben es die 23000 nur fast geschafft. Viel Applaus, auch für den bei der Premiere anwesenden Autor Vladimir Sorokin.


Markus Gründig, April 19


LJOD – Das Eis
Staatstheater Mainz
Simon Braunboeck, Leoni Schulz, Sebastian Brandes, Monika Dortschy, Johannes Schmidt
© Andreas Etter

LJOD – Das Eis – Die Trilogie
Nach den Romanen LJOD, Das Eis, Bro, 23000 von Vladimir Sorokin
Übersetzt aus dem Russischen von: Andreas Tretner
Theaterfassung: Jan-Christoph Gockel (Mitarbeit: Rebecca Reuter, Bernd Ritter)

Premiere am Staatstheater Mainz: 26. April 19 (Kleines Haus)

Inszenierung: Jan-Christoph Gockel
Bühne: Julia Kurzweg
Kostüme: Dorothee Joisten
Musik und Hörspiel: Matthias Grübel
Livezeichnungen: Seda Demiriz
Video Gestaltung: Christoph Schödel, De-Da Productions, Vanessa Dahl
Live-Video: Vanessa Dahl
Licht: Frederik Wollek
Dramaturgie: Rebecca Reuter
Dramaturgische Mitarbeit: Bernd Ritter

Mit: Sebastian Brandes, Simon Braunboeck, Vincent Doddema, Monika Dortschy, Gesa Geue, Fiona Metzenroth / Lotta Yilmaz , Mark Ortel, Johannes Schmidt, Leoni Schulz

www.staatstheater-mainz.de