»Chronicles« zum 10-jährigen Bestehen des Hessischen Staatsballetts

Chronicles: FAUNO ~ Hessisches Staatsballett ~ Foto: Andreas Etter

Seit vielen Jahrzehnten gibt es eine enge Kooperation zwischen den Staatstheatern Darmstadt und Wiesbaden. Auf Initiative von Uwe Eric Laufenberg (ehemaliger Intendant am Staatstheater Wiesbaden) und Karsten Wiegand (Intendant am Staatstheater Darmstadt) wurden im Jahr 2014 die jeweiligen Tanzkompagnien zu einer zusammengelegt. Am 17. Oktober 2024 hob sich der Vorhang für die allererste Vorstellung. Seitdem bietet die nunmehr unter Hessische Staatsballett firmierende Kompagnie ein vielfältiges Angebot an klassischen und zeitgenössischen Tanzproduktionen.

Bruno Heynderickx leitet seit der Spielzeit 2020/21 das 28-köpfige Tänzerensemble (zuvor Tim Plegge). Gegeben werden Programme namhafter deutscher und internationaler Gastchoreograf:innen. Neben den Eigenproduktionen kuratiert das Hessische Staatsballett ein Gastspielprogramm, investiert in die Koproduktion der Werke unabhängiger Tanzschaffender und bietet jede Spielzeit mehrere Residenzen an. Zudem ist ein umfassendes Vermittlungsprogramm ein wichtiger Bestandteil, wie auch die Zusammenarbeit mit der Tanzplattform Rhein-Main.

Seit der Gründung sind nun gute zehn Jahre vergangen und das bisher Erreichte gilt es zu feiern. Dies aber nicht mit nur einer Gala, bei der Ausschnitte vergangener Produktionen gezeigt werden. Vergangenes ist gut und wichtig, es gilt aber auch, sich ständig weiterzuentwickeln und auch für neue Choreograf:innen offen zu sein. Dementsprechend präsentiert das Jubiläumsprogramm Chronicles sechs unterschiedliche Kurzprogramme, darunter vier Uraufführungen.

Sie stammen von sieben zeitgenössischen Tanzschaffenden. Wobei der Name („Chroniken“) durchaus etwas in die Irre führt. Als zusätzliches Highlight werden die Tänzer:innen vom jeweiligen Staatsorchester musikalisch begleitet (in Wiesbaden unter der Leitung von Albert Horne). Alle Stücke sind in einen großen leeren Bühnenrahmen eingebunden. Nach jeweils zwei Programmen gibt es eine 20-minütige Pause, womit der Abend eine Länge von knapp 2,5 Stunden hat.

Eröffnet wird der Abend mit dem Stück FAUNO für vier Tänzer. Das Werk der portugiesischen Choreografin Liliana Barros hat Stéphane Mallarmés berühmtes Gedicht „L’Après-midi d’un faune“ („Der Nachmittag eines Fauns“) als Grundlage. Darin erwacht ein Faun und lässt das Geschehen des Morgens in einem rauschhaften Monolog Revue passieren. Claude Debussys vertonte es mit „Prélude à l’après-midi d’un faune“, das auch hier gespielt wird. Als Faun steht der FAUST-Preisträger Ramon John im Mittelpunkt und bietet eine atemberaubende, preisverdächtige Performance. Hohe Beweglichkeit, fließende Übergänge zwischen Gebrochenheit und Stärke. Ein starker Auftakt.

Chronicles: Force Majeure
Hessisches Staatsballett
Bridget Lee, Yamil Ortiz
Foto: Andreas Etter

Auch das zweite Stück, Force Majeure der kanadischen Choreograf*innen David Raymond und Tiffany Tregarthen, begeistert, hier als große Ensemblenummer. Es ist eine Kurzfassung des gleichnamigen Stücks, dass vor zwei Jahren am Staatstheater Darmstadt uraufgeführt wurde. Im rasenden Tempo flitzen die gehetzt wirkenden Tänzer:innen über die Bühne. Eine höhere Gewalt („Force Majeure“) treibt sie an. Dabei wird der Blick immer wieder auf einzelne Individuen gelenkt. Bei der experimentellen, neoklassisch angehauchten Musik der französischen Komponistin Angèle David-Guillou dominieren Klavierklänge (die Waldemar Martynel aus der linken Proszeniumsloge prägnant spielt).

Chronicles: Bouffées
Hessisches Staatsballett
Foto: Andreas Etter

Das eigenwilligste Stück des Abends ist Bouffées („Hitzewellungen“) der französischen Choreografin Leïla Ka. Die erste Hälfte ist auf eine Art Armgymnastik reduziert. Fünf Frauen stehen in geblümten Kleidern frontal zum Publikum und geben mit aufwendig einstudierten, oftmals synchronen, Armbewegungen ihrer Trauer Ausdruck. Nur sehr langsam können sie diese überwinden und auch ihren gesamten Körper bewegen. Bei der Premiere setzt nach einigen Minuten ein regelrechtes Hust-Konzert im Publikum ein, scheinbar fehlte es hier an Empathie für die Trauernden. Musik gibt es bei diesem Stück nicht, nur den deutlich betonten Atem der Tänzerinnen.

Chronicles: Holding Space
Hessisches Staatsballett
Marcos Novais, Milica Mučibabić, Anthony MIchael Pucci
Foto: Andreas Etter

Minimal Musik von David Lang und Steve Reich dient als Grundlage für Holding Space der niederländischen Choreografin Anouk van Dijk. Zwei Tänzer und eine Tänzerin ergründen darin sehr leidenschaftlich die Kraft im Raum.

Chronicles: Moonfall
Hessisches Staatsballett
Foto: Andreas Etter

Große Ensemblestücke stehen zum Ende an. Moonfall der serbisch-niederländischen Choreografin Dunja Jocić setzt sich mit Extremsituationen auseinander. Es hat die optisch am stärksten auffallenden Kostüme (Ivana Vasic). Und auch die Musik von Michael Gordon und Renger Koning, letzterer war auch Gast bei der Premiere, ist besonders. Sirenenlärm kontrastiert mit einer Umschreibung von Beethovens 7. Sinfonie (1. Satz).

Chronicles: The Mass Ornament
Hessisches Staatsballett
Foto: Andreas Etter

Ein menschliches „Massenornament“ steht im Zentrum vom finalen The Mass Ornament. Der spanische Choreograf Fran Díaz spielt darin auf die mechanisierte Logik der Massenproduktion an, in der sich das einzelne Individuum zurechtfinden muss. Vor allem hier mitsamt vielen Breakdance-Elementen.

Es ist ein Abend zeitgenössischen Tanzes, eine Werkschau, die die hohe Qualität und Einzigartigkeit vom Hessischen Staatsballett zeigt und Lust weckt, mehr von den hier nur kurz vorgestellten Choreograf:innen kennenzulernen. Intensiver und lang anhaltender Beifall, schließlich auch Standing Ovations.

Als Besonderheit gab es bei der Premiere zudem das Angebot einer Live-Audiodeskription für blinde und sehbehinderte Besucher*innen (es wird bei ausgewählten Vorstellungen auch weiterhin angeboten; Details).

Markus Gründig, Feburar 25


Chronicles

Premiere / Uraufführung am Staatstheater Wiesbaden: 16. Februar 25 (Großes Haus)
Premiere am Staatstheater Darmstadt: 5. April 25 (Großes Haus)

Musikalische Leitung (Wi): Albert Horne
Musikalische Leitung (DA): Alice Meregaglia

Dramaturgie: Lucas Herrmann
Hessisches Staatsballett
Orchester: Hessisches Staatsorchester Wiesbaden / Staatsorchester Darmstadt

Fauno

Choreografie, Bühne und Kostüm: Liliana Barros
Licht: Tanja Rühl
Cast: Ramon John/Alessio Damiani/Jorge Moro Argote/Taulant Shehu/Masayoshi Katori/Gorka Duran Villar/Tatsuki Takada/Luke Watson
Dauer: ca. 12 Minuten

Force Majeure

Choreografie, Bühne, Kostüm: David Raymond/Tiffany Tregarthen
Musik/Komposition: Angèle David-Guillou
Licht: James Proudfoot
Video: Eric Chad
Cast: Ramon John/Masayoshi Katori/Bridget Lee/Gorka Duran Villar/Kenedy Kallas/Marcos Novais/Sayaka Kado/Yamil Ortiz/Greta Dato/Alessio Pirrone/Anthony MIchael Pucci/Mei-Yun Lu/Rita Winder
Dauer: ca. 17 Minuten

Bouffées

Choreografie, Licht & Kostüm: Leïla Ka
Cast: Daniela Castro Hechavarría/Bridget Lee/Greta Dato/Sayaka Kado/Meilyn Kennedy/Kenedy Kallas/Mei-Yun Lu/Marie Ramet/Aurélie Patriarca/Rita Winder/Margaret Howard
Dauer: ca. 13 Minuten

Holding Space

Choreografie: Anouk van Dijk
Licht: Tanja Rühl
Kostüm: Jessica Helbach
Tänzer 1: Anthony MIchael Pucci/Benjamin Wilson
Tänzer 2: Marcos Novais/Peng Chen
Tänzer 3: Milica Mučibabić/Vanessa Shield
Dauer: ca. 13 Minuten

Moonfall

Choreografie & Bühne: Dunja Jocic
Kostüm: Ivana Vasic
Cast: Peng Chen/Ramon John/Marcos Novais/Anthony MIchael Pucci/Tatsuki Takada/Greta Dato/Meilyn Kennedy/Bridget Lee/Milica Mučibabić/Vanessa Shield
Dauer: ca. 11 Minuten

The Mass Ornament

Licht: Tanja Rühl
Cast: Alessio Damiani/Masayoshi Katori/Jorge Moro Argote/Gorka Duran Villar/Yamil Ortiz/Benjamin Wilson/Luke Watson/Daniela Castro Hechavarría/Sayaka Kado/Kenedy Kallas/Mei-Yun Lu/Enzo Boffa/Rita Winder
Dauer: ca. 12 Minuten

staatstheater-wiesbaden.de / hessisches-staatsballett.de