Staatstheater Wiesbaden startet Pilotprojekt: Audiodeskription für Tanz

Audiodeskription am Staatstheater Wiesbaden ~ vorn: Die Leitenden des Projekts „Qualifikation Audiodeskription Tanz" Fabian Lilian Korner, Mella Hambrecht, Jasmin Schädler und zwei Teilnehmende Bärbel Dick-Fritzsche und Conny Walter im Zuschauerraum des Großen Hauses. Im Hintergrund Ballettdirektor Bruno Heynderickx, der die Proben des Staatsballetts verfolgt ~ Foto: Andreas Etter

Eine Aufführung des Hessischen Staatsballetts als gleichwertige sinnliche Erfahrung für blinde Menschen

Hörfassungen für Spielfilme sind ein bekanntes und verbreitetes Format. Moderationen von Fußballspielen im Radio fanden großen Anklang, ehe das Fernsehen in die Wohnzimmer einzog. Nun hat die Tanzplattform Rhein-Main ein deutschlandweit bislang einzigartiges Ausbildungsformat ins Leben gerufen: Ein Qualifizierungsprogramm für Audiodeskriptionsautor*innen für Tanz.

Die Resultate des seit November 2024 laufenden Ausbildungsprogramms werden als besonderes Angebot für die kommende Premiere des Hessischen Staatsballetts „Chronicles“ am Sonntag, den 16. Februar um 18:00 Uhr im Großen Haus des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden präsentiert: Blinde und sehbeeinträchtigte Besucher*innen können der Aufführung mithilfe einer Live-Audiodeskription über Kopfhörer folgen. Außerdem sind Plätze nah an der Bühne reserviert.

Audiodeskription am Staatstheater Wiesbaden
Teilnehmende und Leitende des Projekts „Qualifikation für Audiodeskription Tanz“ mit Ballettdirektor Bruno Heynderickx bei den Vorbesprechungen im Studio des Hessischen Staatsballetts

Foto: Andreas Etter

Der Startschuss zum Projekt fiel im Herbst letzten Jahres. 40 Interessierte waren der Ausschreibung der Tanzplattform Rhein-Main gefolgt, um die Kunst der Audiodeskription für die Ausdruckform Tanz zu erlernen – ein großer Zuspruch angesichts der neun zu vergebenden Ausbildungsplätze. Während es für den Film seit langem Kurse und neuerdings sogar eine Hörfilmakademie gibt, an der man eine Ausbildung absolvieren kann, wird die Audiodeskription für Tanz bislang noch von wenigen Expert*innen praktiziert, die sich ihre Fähigkeiten selbst angeeignet haben. Zwei dieser Expert*innen leiten das hiesige Programm: Mella Hambrecht und Fabian Lilian Korner als blinde Autor*innen. Zur Seite steht ihnen Jasmin Schädler als sehende Autorin.

Die Ausbildung begann mit einem für alle offenen Einstiegswochenende, an dem die Grundlagen der Audiodeskription vermittelt wurden. Danach wurden die neun Ausbildungsplätze vergeben: „Ein Auswahlkriterium war, dass die Teilnehmenden eine Bereitschaft mitbringen als kreative Audiodeskriptor*innen Tänzer*innen und Choreograf*innen bei der Öffnung ihrer künstlerischen Praxis hinsichtlich mehr Barrierefreiheit zu begleiten sowie die Frage, wie viel Kontakt die Bewerber*innen bislang mit Behinderten- und Taubenkultur hatten,“ erklärt Lea Gockel, Koordinatorin für Barrierefreiheit und inklusive Kulturpraxis am Mousonturm.

Im Dezember folgte ein Modul, in dem die Teilnehmenden in ihre besondere Arbeitsstruktur übergingen: Drei Teams wurden gebildet, bestehend aus jeweils zwei sehenden und einer/m blinden Autor*in. Außerdem wurden die Teilnehmenden auf das Material der Tanzpremiere vorbereitet. Der Abend „Chronicles“ eignet sich in besonderem Maße, da er sechs kurze Stücke verschiedener choreografischer Stile enthält und somit eine große Bandbreite zu beschreibenden Materials abdeckt. Jedes Audiodeskriptionsteam bekam zwei Stücke zugewiesen.

In den folgenden Wochen wurden die Audiodeskriptionen in engem Austausch mit den Tanzteams und parallel zu den entstehenden Choreografien entwickelt und immer wieder angepasst. Momentan feilen die Teams als regelmäßig Anwesende bei den Proben im Großen Haus und im Austausch mit den Choreograf*innen an den letzten Feinheiten der Deskriptionsskripte.

Was den Unterschied einer rein technischen Beschreibung von Bewegungen zur Form der kreativen Audiodeskription macht, erklärt Lea Gockel: „Das Entscheidende ist, dass hier poetische Sprachbilder und kreative Beschreibungstechniken entwickelt werden, die genau auf das Tanzstück passen. Wie auch Tanz immer wieder danach strebt, Assoziationen zu wecken und nicht nur schöne Bewegungen zu zeigen, entwickeln die Autor*innen Sprachbilder passgenau zur Bewegungssprache, zur Dramaturgie, zum Rhythmus der Musik und der Bewegungen, so dass für blinde und sehbehinderte Zuhörer*innen ein nahezu gleichwertiges ästhetisches Erlebnis entsteht wie für sehende Besucher*innen des Abends.“

Dabei spielt die Mitwirkung eines/r blinden Autor*in im Team eine entscheidende Rolle: „Wenn eine sehende Autorin beschreibt: ‚Die Farben auf der Bühne wechseln zum Farbspektrum eines Sonnenaufgangs‘, dann haben wir als sehende Menschen ein Gefühl und ein Bild im Kopf. Wenn ich eine geburtsblinde Person bin, kann ich zwar aus dem Kontext meiner Sozialisierung schließen, was ‚Sonnenaufgang‘ für ein Gefühl in mir auslösen soll, dies ist aber kein Automatismus in meiner Erfahrungswelt, weil ich noch nie einen Sonnenaufgang gesehen habe. Bei der kreativen Audiodeskription wird nicht aus sehender Perspektive beschrieben, sondern dahingehend, was für eine nichtsehende Person zur Vermittlung des gezeigten Ausdrucks wichtig ist.“

Das Projekt sei in mehrfacher Hinsicht ein Pilotprojekt und eine Bereicherung für alle Seiten, erklärt Lea Gockel: „Es ist deutschlandweit das erste Qualifizierungsprogramm für Audiodeskriptionsautor*innen im Tanz. Wir arbeiten im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention, die selbstbestimmte Teilhabe und Teilgabe fordert, mit einem Leitungsteam aus zwei blinden Autor*innen, was bislang einzigartig ist. Das Projekt zielt darauf ab, sehbehinderte und blinde Menschen vor und hinter der Bühne stärker selbstbestimmt einzubinden.“ Und damit nicht genug: „Wir schaffen auch ein Netzwerk an Autor*innen für Audiodeskription, die Tanz beschreiben können und die als Expert*innengruppe über das Projekt hinaus mit dem Staatstheater Wiesbaden, mit uns als Mousonturm, aber auch mit anderen Theatern in Hessen kooperieren soll, um mehr Tanzproduktionen für sehbehinderte und blinde Menschen zugänglich zu machen.“

Besucher*innen, die sich für die Live-Audiodeskription am Sonntag, den 16. Februar bei der Premiere des Tanzabends „Chronicles“ interessieren, wenden sich bereits beim Ticketkauf an die Theaterkasse des Staatstheaters Wiesbaden, da eine optimale Platzierung vorgesehen ist. Die Kopfhörer, mit der man die live gesprochene Audiodeskription verfolgen kann, erhält man am Abend vom Einlasspersonal. Bislang ist eine einmalige Audiodeskriptionsbegleitung geplant, weitere Termine werden auf der Homepage des Staatstheaters bekanntgegeben.

staatstheater-wiesbaden.de

Die Tanzplattform Rhein-Main, ein Projekt von Künstler*innenhaus Mousonturm und Hessischem Staatsballett, wird ermöglicht durch den Kulturfonds Frankfurt RheinMain und gefördert vom Kulturamt der Stadt Frankfurt am Main, dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur und der Stiftungsallianz [Aventis Foundation, Crespo Foundation, Hans Erich und Marie Elfriede Dotter-Stiftung, Dr. Marschner Stiftung, ODDO BHF Stiftung, Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt am Main].