Wenn ein aufstrebender Countertenor wie Jakub Józef Orliński auch Breakdancer ist, ist das schon ungewöhnlich. Auch der Sieger der neuen ProSieben-Tanz-Show „Masters of Dance“, Patrick Rudolf De Souza Campelo Feldmann oder kurz PATROX, ist ein Breakdancer. Und sein Master in der Show, Vartan Bassil, gilt als legendärer Wegbereiter für eine breit gefächerte Akzeptanz dieser Tanzrichtung. Er verband sie erfolgreich mit klassischer Musik im großen Format („Flying Steps“). Einen besonderen Bezug zu Breakdance hat der Choreograf und früherer Balletttänzer Victor Quijada. Er wuchs in der Hip-Hop-Szene von Los Angeles auf. Seit 2002 lebt er im kanadischen Melbourne. Dort hat er ein eigenes Tanzensemble gegründet, die RUBBERBANDance Group, bei der er Ballett und Breakdance miteinander verbindet. Und natürlich ist der Name Programm. Ein Gummiband (engl. rubberband) lässt sich in alle möglichen Richtungen dehnen und strecken, aus klein wird plötzlich groß und eine unsichtbare Kraft hält es stets zusammen. Körperliche Elastizität ist Quijadas künstlerischer Ansatz für modernen Tanz, den er nun erstmals mit einer europäischen Company, tanzmainz, einstudiert hat.
Dabei wird den tanzmainz-Mitgliedern viel abverlangt. Viele seiner Bewegungsmuster und Posen beruhen auf klassischen Breakedancemoves und diese benötigen neben viel Beweglichkeit eine extrem gute Kraft in der Körpermitte (also Bauchspannung). Die TänzerInnen stehen dabei nicht nur auf ihren Füßen, sondern oftmals nur auf Händen, Unterarmen oder gar auf dem Kopf. Dass der Abend den Titel „Twist“, also Verdrehung, trägt, wundert bei Quijadas einzigartigem Tanzstil nicht. So wie beim Breakdance einzelne Moves den Mittelpunkt darstellen (Headspins, Hand Hops, Elbow Flares), sind es auch bei Twist einzelne Figuren, die harmonisch und fließend miteinander verbunden werden. Das Ensemble von tanzmainz setzt sie voller Poesie und mitunter auch sehr dynamisch um. Mehr denn je zuvor arbeiten die TänzerInnen hier mit ihrem Körper. Die Bodenarbeit ist eine ganz andere. Durch Verlegung des Körperschwerpunktes und der daraus folgenden geänderten Gewichtsverteilung werden neue Darstellungsmöglichkeiten zwischen Vertikalen und Horizontalen gefunden (oftmals in Interaktion mit einem oder mehreren Partnern). Stellvertretend für alle sei an dieser Stelle Eliane Stragapede mit ihrer intensiven körperlichen Darbietung erwähnt.
Verdreht ist am Anfang nur ein aus drei Kunststofffolien bestehender Vorhang, während die Tänzerinnen und Tänzer zunächst alle brav wie in einer Schule oder Kirche in Reihen auf Bänken sitzen. Begleitet von einzelnen Klavierakkorden, fallen ihre Bewegungen zunächst synchron aus. Doch nichts bleibt hier von Dauer so, wie es ist. Aus einem homogenen Ganzen bilden sich schnell sehr heterogene Szenen heraus. In den ersten zehn Minuten des rund einstündigen Programms dienen die Sitzbänke als wichtiges gestalterisches Element, mit denen einzelne, kleine Gruppen oder das gesamte Ensemble mit arbeiten und ständig neue Zugänge zu diesen Gegenständen schaffen. Die elastischen Körper bilden einen Kontrast zu den starren Bänken aus Holz und Stahl, die in vielen verschiedenen Positionen immer wieder neu angeordnet werden. So stehen die Bänke vertikal (wie Spinde), horizontal (wie Podeste) oder in der schiefen Ebene (wie Dreiecke) angeordnet im Raum und werden unterschiedlich erfahrbar gemacht. Alles ist einem fortlaufenden Wechsel unterzogen und nie lässt sich sagen, was als Nächstes passieren wird. Und es passiert die ganzen 60 Minuten über ständig sehr viel. Dazu zählt auch die Veränderung der Bühnenoptik. So wird der verdrehte Vorhang aufgedreht und er fällt herab. Die untere Traverse, an die er befestigt war, trägt zwischenzeitlich zur Dynamisierung bei, bis er vermindert wieder hochgezogen wird, dabei schräg herunterhängt (Bühne: Liam Bunster).
Twist ist kein Handlungsballett, das eine große Geschichte erzählt. Aus einzelnen Körperbewegungen entstehen kurze Phrasen, die dann Sequenzen bilden. Solistisch, im Duo, Terzett, Quartett bis hin zu großen Ensemblebildern.
Anfänglich tragen alle eng anliegende hellgraue Jogginghosen und hoch geschlossene Langarmshirts. Nackte Haut gibt es marginal zu sehen. Einmal freie Unterarme sind da schon das Maximale. Dafür folgen bunte Oberteile, die oftmals an Kimonos erinnern. So wie vorher die Bänke, dienen auch sie als gestalterisches Element, zumal sie raffinierte Schnitte aufweisen und auch für zwei Tänzer passen (Kostüm: Cloé Alain-Gendreau).
Neben eingespielter Klaviermusik überwiegen elektronische Beats, die eine groovige und sphärische Stimmung vermitteln (Sounddesign: Jasper Gahunia).
Zum Ende hin finden sich alle 20 TänzerInnen zu einer großen Ensemblenummer zusammen. Man ist versucht zu denken, dass jetzt gleich der Schluss kommt. Der kommt tatsächlich, aber wider Erwarten anders. Bis auf ein Paar treten alle anderen in den Hintergrund. Das Paar (Amber Pansters und Finn Lakeberg) führt zunächst noch einmal Quijadas RUBBERBAND-Methode vor, um dann zu den anderen zu laufen, während vom Hintergrund grelles Licht die Zuschauer blendet und die Verdrehung einen Schlusspunkt setzt: Nun ist das Publikum erleuchtet und nicht mehr die Tänzer.
Twist ist ob der vielen einzelnen Figuren ein wahrer Bilderrausch, von tanzmainz sehr ausdrucksstark und kraftvoll vorgeführt. Viel Applaus.
Markus Gründig, Februar 19
Twist
Von: Victor Quijada
Premiere/Uraufführung am Staatstheater Mainz: 7. Februar 19 (Großes Haus)
Choreografie: Victor Quijada
Choreografische Assistenz: Lavinia Vago, Paco Ziel
Bühne: Liam Bunster
Kostüm: Cloé Alain-Gendreau
Sounddesign: Jasper Gahunia
Lichtdesign: Yan Lee Chan
Dramaturgie: Mathieu Leroux
Tänzerinnern: Cristel de Frankrijker*, Madeline Harms, Daria Hlinkina, Bojana Mitrović, Nora Monsecour*, Amber Pansters, Tijana Prendović, Maasa Sakano, Marija Slavec, Eliana Stragapede, Milena Wiese
Tänzer: Zachary Chant, Benoît Couchot*, Mattia de Salve, Finn Lakeberg, Jorge Soler Bastida, Matti Tauru, Cornelius Mickel, Thomas van Praet, Louis Thuriot, John Wannehag
*Apprentice bei tanzmainz
www.staatstheater-mainz.de