kulturfreak.de Besprechungsarchiv Theater, Teil 14

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Phädra

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 12. Dezember 09 (Premiere)

Tanz der Moleküle

Zuletzt waren es Florian Fiedler (Regie) und Jens Bürde (Bühne), die bei Artur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ die Bühne der Kammerspiele zugemauert hatten und das Stück davor spielen ließen (Dezember 2006). Ähnlich zeigen nun auch Oliver Reese (Regie) und Hansjörg Hartung (Bühne) „Phädra“, Racines letzte weltliche Tragödie. Zwischen diesen beiden Stücken liegen in geografischer Hinsicht der Atlantik und in zeitlicher Hinsicht mehrere Jahrhunderte; nimmt man Bezug auf die Vorlage der griechischen Antike, sogar Jahrtausende. Inhaltlich stehen sie sich näher, als man auf den ersten Blick vielleicht denkt. Beide Hauptpersonen, der Handelsvertreter Willy Loman bei Miller und Königin Phädra bei Racine, werden Opfer ihrer selbst (letztere noch mit Einflussnahme der Götter).

Phädra
Schauspiel Frankfurt
Phädra (Stephanie Eidt)
Foto: Sebastian Hoppe

Die Bühne ist bei „Phädra“ nicht mit Klinkersteinen zugemauert, sondern mit gold-/kupferfarbenen Platten verschlossen, nur ein hoher schmaler Spalt lässt den Schauspielern Platz für ihre Auf- und Abtritte. Keiner schafft es durch diesen Spalt hindurchzugehen, ohne nicht zumindest die Arme anzuziehen, geschweige denn den Bauch. So gibt der Schritt auf und von der Bühne, ins Leben und in die Zurückgezogenheit, stets die Gelegenheit zu einem Augenblick des Innehaltens und der Reflexion. Vor der Bühne sind kleiner Lichter aufgereiht, die zu Beginn von Theramenes (nüchtern, aber auch warmherzig: Felix von Manteuffel) angezündet werden und die Rückwand nicht nur in ein warmes Licht tauchen, sondern, unterstützt von eine Handvoll Scheinwerfer, eine archaisch anmutende, zauberhafte Atmosphäre der griechischen Mythologie entfachen.
Dazu passt Simon Werles, im klassischen Stil gehaltene, Übersetzung von Jean Racines Versen vortrefflich. Mit aktuellen Kleidern bei den Darstellern (wie Abendkleider, Anzug, Pulli, Trendjacken), die zum Teil Sonnenbrille und Armbanduhren tragen, wird der Sprung in die Gegenwart verdeutlicht (Kostüme: Elina Schnizler).
Als durch göttliche Liebeseingabe fehl gelenkte Königin Phädra sorgt Stephanie Eidt (die derzeit auch als Olga in „Die drei Schwestern“ im Großen Haus zu sehen ist) mit kräftiger Stimme für Aufmerksamkeit. Nachdem Sie ihre Sonnenbrille und ihre Ängste abgelegt hat, kommt der Mensch zum Vorschein: als verzweifelt Liebestolle, verantwortungssensible und dennoch ihren Gefühlen ohnmächtig ausgelieferte, tief empfindende Frau, die gleichzeitig Furcht und Mitleid vermittelt. Aufbrausend und erfrischend gibt sich Christoph Pütthoff als vom Schicksal und der Familie gebeutelter Hippolytos. Bei ihren kurzen Auftritten zeigt Henrike Johanna Jörissen mit intensiver Eindringlichkeit eine betörende Aricia. Eine Nuance zu salopp wirkt demgegenüber der zunächst totgeglaubte Theseus des Till Weinheimer, dessen Gesten und Sprüche jedoch für einige Lacher im Publikum sorgen. Franziska Junge gibt mit Ernst und Nachhaltigkeit eine umtriebige und wortgewandte Önone.
Oliver Reese (auch Intendant des Schauspiel Frankfurts) schafft zwei Stunden voll packender Intimitäten und Seelennöten und gibt dabei einen trübsinnigen Blick auf eine Gesellschaft frei, die leichtfertig äußeren Dingen Glauben schenkt.

Markus Gründig, Dezember 09


Geschichten aus dem Wiener Wald

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
6. Dezember 09 (Premiere)

Ödön von Horvath hat dem Volk gründlich aufs Maul geschaut: Seine Stücke zeichnen ein detailliertes und kritisches Bild der späten Weimarer Republik. „Glaube, Liebe Hoffnung“, Kasimir und Karoline“ und die szenische Umsetzung von „Jugend ohne Gott“ waren zuletzt am Schauspiel Frankfurt zu sehen. Horváths Œuvre erfährt also eine gewisse Renaissance in Frankfurt. Für die Neuinszenierung von „Geschichten aus dem Wiener Wald“ im Schauspielhaus wurde der profilierte Theatermann Günter Krämer verpflichtet (Regie & Bühne). Krämer inszeniert die „Wiener Geschichten“ im angesagten gegenwärtigen Stil, bei dem bewusst auf einen lokalen Bezug verzichtet wird. Dabei kann er sich sogar in gewisser Weise auf Horváth berufen, denn dieser hat dem Stück vorangestellt, dass es „in unseren Tagen“, also der Gegenwart, spielt. Die einst von Kurt Pinthus geäußerte Meinung, dieses Stück sei „das böseste, das bitterböseste Stück neuerer Literatur“, macht Krämer unmissverständlich deutlich, denn hier wird schonungslos kein Blatt vor den Mund genommen.

Geschichten aus dem Wiener Wald
Schauspiel Frankfurt
Alfred (Isaak Dentler) und Marianne (Claude De Demo)
Foto: Wonge Bergmann

Wienerische Kleinbürgergemütlichkeit wird allenfalls mit Bierzeltgarnituren angedeutet, schon gar nicht gibt es Heurigenseligkeit mit stimmungsvolle Walzermelodien, allenfalls klingen Walzerfragmente an, meistens bleibt es bei einem melancholisch, depressiven Gesumme über die Wachau. Lediglich ein Zeitungsverkaufständer nimmt Bezug zu Wien und Österreich, ansonsten ist die Bühne offen und weitgehend leer, der Boden weitflächig bedeckt mit Herbstlaub (trübsinniges Zeugnis für vergangenes Leben). Eine freie Spur deutet die stille Strasse im achten Bezirk an, die Wände schmückt eine große Borte aus braunem Packpapier, Deckenlampen hängen auf Querstangen vom Bühnenboden herab und sorgen so für einen intimeren, durchaus warm wirkenden Raum. Die unterschiedlichen Handlungsorte (wie „Draußen in der Wachau“, „An der schönen blauen Donau“ oder „Beim Heurigen“) sind nahezu aufgehoben, die Szenenwechsel sind nur über den Lichtwechsel erkennbar (eine gewisse Vorbereitung für den Theaterbesuch ist also durchaus hilfreich, z.B. um zu verstehen, warum Marianne und Alfred nackt über die Bühne schreiten).
Allein über die Kleidung lässt sich ein zeitlicher Bezug erahnen, die Kostüme weisen auf die späten 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hin (Kostüm: Falk Bauer). Gespielt wird meist am vorderen Bühnenrand, da sitzt auch fast die ganze Aufführung über die Großmutter (nicht Zither spielend aber eifrig summend und mit offenem, schonungslosen bitteren Zynismus und Bösartigkeit: Michael Abendroth). Der Tod (die Hoffnungslosigkeit) ist in Form eines Skeletts von Anfang an präsent. Erst in einer Glasvitrine, später frei im Raum stehend, wo es noch ein „Ausverkauf“-Schild schmückt. Endstation Sehnsucht im Wiener Wald.
Wo Äußeres aufgehoben oder in den Hintergrund gerückt ist, tritt das Seelenleben der Figuren in den Mittelpunkt. Dabei zieht das starke Schauspielteam durch überzeugendes, intensives Spiel das Publikum in den Bann. Tragisch geht es zu, da im Wiener Wald. Scheinen die Geschichten der Marianne und der Valerie auch grotesk und überzeichnet, haben sie dennoch eine zeitlose Bedeutung. Das geträumte Leben entspricht selten der Realität, ein falsches Selbstbildnis führt zu aufopferungsvoller Hingabe, die rücksichtslos ausgebeutet wird. Glücklich, wer dagegen gefeit ist.
Als Womanizer, Enfant terrible, pathologischer Spieler und Schmarotzer besticht Isaak Dentler, ebenso Constanze Becker mit ihrem einmaligen Charisma als selbstbewusste, starke Kioskbesitzerin Valerie. Die größte Leistung zeigt Claude De Demo als ausbruchswillige, bedingungslos liebende und doch ausgenutzte, geschundene und gefallene Marianne.
Deren Vater, den desillusionierten, kranken und trinkenden Puppenladenbesitzer „Zauberkönig“, gibt Wolfgang Michael mit großer Intensität. In weiteren Rollen gefallen Sascha Nathan (als verliebter Metzger Oskar), Oliver Kraushaar (in kurzen Lederhosen als halbwegs bodenständiger Student Erich), Michael Benthin (obwohl er an einen Rollstuhl gefesselt ist als der einzigste Optimist: Rittmeister), Josefin Platt (als handlungsunfähige Mutter), Marc Oliver Schulze (als aalglatter Hierlinger), Maren Schwartz (als Seil hüpfende und den Traum nach Glück und Sorglosigkeit repräsentierende Ida), Niuscha Etemadi (als tätige Emma) und Simon Zigah (als kraftstrotzender Metzgergehilfe Havlitschek). Kleinere Rollen wurden nicht besetzt, dafür gibt es einen 20-köpfigen Männerchor, der zunächst lange Zeit stumm an den Seiten sitzt und bei seinen kurzen Auftritten dann große Wirkung erzielt.
So wie Günter Krämer bereits beim Bühnenbild auf Äußeres verzichtet, lässt er auch die Figuren eine klare, eindeutige Sprache sprechen. Eine scheinbare Höflichkeit hinter der sich menschliche Abgründe verbergen zeigt er nicht, hier wahrt kaum noch einer die Contenance. Antipathien, Gehässigkeit und Verbitterung sprudeln nur so hervor. Dennoch: am Ende der knapp dreistündigen Aufführung gab es lang anhaltenden, starken Applaus.

Markus Gründig, Dezember 09


Lolita

Produktion des Deutschen Theater Berlin im Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
1. November 09 (Frankfurt Premiere)

Unter der Intendanz von Elisabeth Schweeger war in der nachtschwärmerreihe ab Dezember 2006 eine Dramatisierung über das Leben des US-Terroristen Theodore John Kaczynski zu sehen („patriot act“, mit Martin Butzke in der Hauptrolle). Der Wissenschaftler Kaczynski stritt für eine bessere Welt, für eine Überwindung der Technisierung und wurde dabei zum gefürchteten Bombenleger. „Nur“ zum Mörder aus Eifersucht mutiert dagegen der Literaturprofessor Humbert Humbert. Der Name ist nur ein Pseudonym. Humbert ist, im Gegensatz zu Kaczynski, keine reale Person, sondern die Hauptfigur in Vladimir Nabokovs, 1955 erschienenen Weltbeststeller „Lolita“. Plante Kaczynski seine Attentate noch vor dem Hintergrund seiner gesellschaftlichen Ideale, handelte Humbert zumindest nur aus gekränkter Eitelkeit.
Der Roman sorgte bei seinem Erscheinen für Skandale. Nicht wegen des Mordes, sondern weil der darin gezeichnete, gut situierte 39-jährige Humbert ein ausgesprochenes Faible für Mädchen hat, für solche zwischen Kind und junger Frau. Er nennt sie kurzerhand Nymphen und seine Leidenschaft dafür gleicht schon einer Obsession. Das Thema Unzucht mit Minderjährigen ist zeitlos, die Meldungen darüber verstummen nie.
Oliver Reese, seit dieser Spielzeit Intendant am Schauspiel Frankfurt, hat eine Bühnenfassung dieses Romans verfasst, die in 2003 unter seiner Regie am Deutschen Theater in Berlin uraufgeführt wurde und nun auch in Frankfurt gespielt wird.Im Mittelpunkt seiner Inszenierung steht jedoch nicht Lolita, sondern allein der von seinen Trieben gesteuerte Humbert. Lolita taucht in diesem Ein-Mann-Stück als Figur ebenso wenig auf wie ihre Mutter/Humberts Ehefrau. Umso lebendiger sind sie dafür in der Fantasie Humberts. Seine Frau entspricht für ihn dem Bild einer frigiden, verabscheuungswürdigen Person, ihre Tochter Dolores, kurz eben Lolita, jedoch gleicht einer Gottheit, zumindest so lange sie jung ist und der zarte Flaum auf Ihrer Haut ihn noch betört. Für Lolita, wie für alle „Nymphchen“, entfacht er ein leidenschaftliches Feuer. Ingo Hülsmann gibt diesen Humbert mit der gleichgültigen Arroganz, Souveränität und Wortgewandtheit eines Politikers. Klar ist er nicht normal, doch was soll es, schließlich ist er „Humbert der Schreckliche“ und wer kann ihm seine Leidenschaft schon verübeln. Hülsmann belässt es nicht beim einfachen Textvortrag, sondern begeistert mit seiner intensiven Darstellung, wie er sich beispielsweise lüstern vor Sehnsucht über den Kühlschrank rekelt oder verträumt über einem Stuhl liegt. Das Abscheuliche, das er erzählt, erscheint wie das Normalste auf der Welt.
Die Bühne von Hansjörg Hartung besteht aus einer großen rechteckigen Spielfläche, die sich leicht schräg vom Bühnenboden abhebt und in ein weißes Lichtband eingesäumt ist, die Seiten sind offen. Humbert steht während seinem mit großen Unterhaltungswert zu genießenden, niemals Längen aufweisenden, 80-minütigen Plädoyer vor den Geschworenen gewissermaßen im Zentrum dieses eingekreisten Ortes.
Vier Stühle mit dickem Bezug und ein großer Kühlschrank verweisen auf den Entstehungsort und die -zeit des Romans: die USA in den 50ern. Die wechselnd stimmungsvolle Ausleuchtung (Ingo Greiser) sorgt ebenso wie eingespielte musikalische Sequenzen (dramatische Klassik wie in Basic Instinct, donnerndes Orgelspiel oder lieblich säuselnde Verträumtheitsmelodien) für eine zusätzliche angenehme Auflockerung. Ein großer Abend für Hülsmann und dadurch auch für das Publikum.

Markus Gründig, November 09


Der Messias

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
29. Oktober 09 (Premiere)

Kaum eines der großen staatlichen Theaterhäuser lässt es aus, rechtzeitig zur Vorweihnachtszeit ein für Kinder passendes Stück auf die Bühne zu bringen. Sei es im Rhein-Main-Gebiet in diesem Jahr „Der Lebkuchenmann“ am Staatstheater Darmstadt, „Peter Pan“ am Staatstheater Mainz oder „Ronja Räubertochter“ am Staatstheater Wiesbaden. Das Schauspiel Frankfurt bietet nicht nur für Kinder ein Stück an („Roter Ritter Parzifal“), sondern auch eines für Erwachsene, das im Titel gleich unmissverständlich Bezug zum christlichen Fest nimmt: „Der Messias“ von Patrick Barlow. Die ganzjährige Weihnachtskomödie hatte ihre Uraufführung 1983 in London, die deutschsprachige Erstaufführung folgte 1987 in Berlin (Grips Theater). Dreh- und Angelpunkt ist zwar einerseits die Weihnachtsgeschichte, doch dient diese letztlich nur als Zugpferd für die beiden arbeitssuchenden Schauspielvagabunden Theodor Scholze-Stadermann (dominant: Michael Quast) und Bernhard (sensibel und wandlungsfähig: Andreas Uhse).
In ihrer gut zweistündigen Performance übernehmen sie sämtliche Rollen, die bei einer Erzählung der Weihnachtsgeschichte anfallen: von der frustrierten Hausfrau Maria und dem brummeligen Zimmermann Josef über den Erzengel Gabriel, die Drei Könige, König Herodes bis zu Hirten und einfachem Herbergsvater. Quast gibt stets den Ton vor, immerhin hat er das Stück auf Frankfurter Verhältnisse erweitert. Dabei belässt er es nicht nur auf die Einflechtung lokaler Bezüge (u. a. nennt er die Theatertruppe ARM, lang: Abendländische Bühne Rhein-Main), sondern persifliert mit Papiermaske, ausladender Gestik, langsamer und bedeutungsschwerer Aussprache und klappernden Fußtritten beispielsweise auch Marc Oliver Schulzes Interpretation des König Ödipus, die derzeit im Schauspiel Frankfurt zu sehen ist. Der junge Regisseur Ronny Jakubaschk sorgt vor allem im ersten Teil für viele große unterhaltsame Momente, die das Stück fast schon wie eine Comedyperformance publikumswirksam erscheinen lassen. Entsprechend aktiv ist das Publikum auch eingebunden und darf sich im akkuraten Chorgesang üben. Im zweiten Teil nach der Pause kommt nicht wirklich Neues dazu, da wird die Geschichte brav zu ihrem Ende gebracht. Auch hier unterstützt die beiden Darsteller Sonja Ebel-Eisa als Opernsängerin Erna Timm.
Gespielt wird auf einer im Zuschauerraum errichteten Spielfläche vor dem Eisernen Vorhang. Eine leere Sperrholzplattenbühnen mit zwei seitlichen Türen und mittiger Flügeltür (Bühne: Julia Plickat, auch Kostüme) reicht, die nötige Requisite wird provisorisch anmutend gezeigt (wie beispielsweise Marias Pappkartonesel) und kommt beim Publikum bestens an. Am Ende langer Applaus.

Markus Gründig, Oktober 09


Peterchens Mondfahrt

Koproduktion zwischen Theater an der Parkaue, junges Staatstheater des Landes Berlin, Showcase Beat le Mot, Schauspiel Frankfurt und Dschungel Wien

Besuchte Vorstellung:
27. Oktober 09 (Frankfurt Premiere)

Sie wollen alles. Nicht nur ein lehrreiches, pädagogisch sinnvolles Theatererlebnis, das passiv konsumiert werden kann, sondern sie wollen auch die vierte Wand und die Tradition der illusionistischen Erzählweise durchbrechen. Die Rede ist vom internationalen Performance- und Theaterkollektiv Showcase Beat Le Mot, das 1997 gegründet wurde und mit ungewöhnlichen Inszenierungen aufwartet. Nach „Der Räuber Hotzenplotz“ setzt sich das vierköpfige Kollektiv mit „Peterchens Mondfahrt“ zum zweiten Mal mit einem Stück für Kinder auseinander. Dabei ist für sie dieses Märchen mehr als eine fantastische Traumwelt, es geht ihnen auch um einen neuen Zugang zum Stück, bei aktiver Beteiligung der jungen Zuschauer.
Etwas ungewöhnlich ist es ja schon, wenn vier ausgewachsene Männer (Dariusz Kostyra, Veit Sprenger, Thorsten Eibeler und Nikola Duric) ein Kinderstück spielen, doch dies scheint den Kindern nichts auszumachen. Im Gegenteil: in ihren kunterbunten Käferkostümen (großer Panzer auf dem Rücken, Küchenhilfsmittel als Hörner, in kurzen bunten Sportshorts und langen Kniestrümpfen bzw. Stiefeln) sehen sie aus, als kämen sie von einer anderen Welt. In ihrem Spiel legen sie ihre eigene theatrale Praxis bloß, da sie wechselnd nicht nur Käfer spielende Männer sind, sondern auch Peter, Anneliese, Sumsemann und Mondmann, oder einer der interessanten Naturgeister (Donnermann als aufleuchtendes Kanistersammelsurium, Sandmann als Popkorn produzierende Mikrowellenhalde, Sturmriese als Staubsaugergeflecht und Wassermann als mobile Badewanneninstallation).
Bei Saalöffnung stehen sie bereits auf der Bühne und beobachten das junge Publikum. Dabei ist die Bühne von Anfang an mit dem Zuschauerraum durch ein großes, in der Saalmitte über die Stuhlreihen führendes Laufband verbunden. Über dieses werden später Silberscheiben an die Sternenkinder verteilt, damit sie mithelfen können, den Mondmann zu blenden und hierüber erhalten Sie auch die zur Pause die auf der Bühne gebackenen Planetenpfannekuchen und Himmelsziegenhörnchen (gefällig stimmendes Milchstraßenpopcorn gab es schon vorher).
Harte Beats geben zu Beginn den Takt vor, zu dem sich Bucovina Klänge mischen, die vier Protagonisten tauen schnell auf und gewinnen Fahrt (wenn es mitunter auch etwas schleppend voran geht). Fragen an die Kinder sind selbstverständlich, manche geben freilich auch ungefragt ihren Kommentar ab.
Musik, Tanz, Video, Spiel und Kochen sind feste Bestandteile dieses Events, ebenso wie die reichlich in Anspruch genommene Möglichkeit, sich in der Pause auf die Bühne zu begeben und alles ganz nah zu betrachten. Wobei für die Kinder die größte Gaudi ist, wenn Peter, Anneliese und Sumsemann mit Kanonenschüssen eindrucksvoll durch die Mondlüfte fliegen.

Markus Gründig, Oktober 09


Drei Schwestern

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 10. Oktober 09 (Premiere)

Das Leben zieht vorbei und kehrt nie wieder zurück

Arbeitsscheu, lethargisch, beziehungsunfähig und in all diesem selbst gestrickten Leid gefangen: die Russen sind für Anton Tschechow ein seltsames Volk. So hält er ihnen in seinen Stücken immer wieder einen Spiegel vor, auch in „Drei Schwestern“, das die Geschichte der Familie Prosorow beschreibt, deren Leben in der russischen Provinz dahin plätschert und wo jeder voller unerfüllter Wünsche ist, genervt, enttäuscht und in sich selbst gefangen.
Karin Henkel, mehrfach ausgezeichnete und gefeierte Regisseurin, inszenierte zum ersten Mal in Frankfurt und legte mit dieser, ihrer zweiten Tschechow-Inszenierung, ein wahres Glanzstück ab. Drei packende Stunden (mit einer Pause), die betroffen machen, zum Nachdenken anregen und dabei noch bestens unterhalten. Das ist natürlich vor allem auch ein Verdienst der Schauspieler, die hier erstmals als Ensemble auf der großen Bühne des Hauses stehen. Stefan Mayer (Bühnenbild) zeigt das große Haus der Familie zunächst als unmöbilierte Einraumwohnung, die sich nach hinten vergrößert, später seitlich aufbricht und so, wie auch die Beziehungen und Charaktere, zerfällt, auseinander gezogen wird und sich deutliche Risse auftun. Ein Haufen Erde für den ländlichen Bezug ist am hintersten Bühnenrand wahrzunehmen, ein kahler Baum als Ausdruck des Niedergangs steht seitlich und Wände mit bunter Kindertapete erinnern an eine schöne vergangene Zeit.

Drei Schwestern
Schauspiel Frankfurt
Mascha (Claude De Demo), Olga (Stephanie Eidt), Irina (Kathleen Morgeneyer)
Foto: Sebastian Hoppe

Karin Henkel schafft immer wieder die Resignation und die Trauer über das verkorkste Leben bildlich darzustellen, bricht diese Szenen mit fast schon grotesk anmutenden Situationen auf, wie bei den Auftritten von der unverwüstlichen und sich frech im Haus breit machenden Natalja (mehrfach für Lacher sorgend: Mira Partecke) oder bei Andreijs Flucht in die Musik (pantomimisch Cello spielend: Sascha Nathan).
Am stärksten gefallen die drei Schwestern, die trotz ihrer Unterschiedlichkeit verbunden wirken: Stephanie Eidt als tüchtige Gymnasiallehrerin Olga, Claude De Demo als pfeifende, verstörte und verliebte Mascha und am eindringlichsten, Kathleen Morgeneyer als jugendlich anmutende, am Ende zerbrochene Irina.

Den meisten Zuschauern ist das neue Ensemble weitgehend unbekannt, manche Gesichter hat man höchstens durch die gegenwärtige Plakataktion in der Stadt schon einmal gesehen und freut sich nun, sie auf der Bühne zu erkennen. Doch bei diesem Potenzial wird sich das schnell ändern und das Haus nachhaltig füllen.

Marus Gründig, Oktober 09


Abgesoffen

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstelllung: 5. Oktober 09

Ins Badezimmer gelockt, in der Badewanne unters Salzwasser gedrückt und gewartet bis die Lunge platzt: schon ist wieder einer abgesoffen. Zwei Auftragsmörder haben das schon 29-mal gemacht. Leiche 29 liegt nun im Kofferraum und wird über eine Strecke von siebenhundert Kilometern nach Gibraltar chauffiert, um dort erst ins Meer geschmissen und anschließend, getarnt als vermeidlich gescheiterter illegaler Immigrant, an Land gespült zu werden.
Auch diese Leiche war ein Moro, ein nordafrikanischer Immigrant, auch sein Tod soll als Abschreckung wirken, damit nicht noch mehr von seinen Landsleuten unberechtigt über das Meer nach Spanien einfallen.
Carlos Eugenio Lópezs Roman „Abgesoffen“ erschien im Jahr 2000 (in Spanien bzw. 2006 in der Übersetzung von Susanna Mende in Deutschland) und mit diesen Gesprächen während der nächtlichen Leichentransportfahrt hat nun das Schauspiel Frankfurt seine neue Spielstätte „Box“ eröffnet. Außen weiß, innen schwarz, steht sie in den bisher für die nachtschwärmer-Reihe genutzten Aufführungen im Zwischendeck, also im Foyer zwischen den Garderoben/Toiletten.
In der „Box“ wird nicht nur gespielt, auch das Publikum sitzt darin, weshalb uneingeschränkt von einem neuen Raum gesprochen werden kann. Am Premierenabend war es, obwohl wir mittlerweile Oktober haben, draußen noch sehr mild, in der Box war es geradezu heiß. Der kleine Raum bietet immerhin acht Reihen à zehn Sitzplätze (hierfür gab es keine neue Bestuhlung), bei vollem Saal und durch die Scheinwerfer kann es schnell sehr warm werden. Dies merkte bei der Uraufführung vor allem Oliver Kraushaar, der den Dialog im Anzug halten musste (getreu dem Motto: “Der Mörder unter uns”), während sein „Geschäftspartner“ (Nils Kahnwald) locker flockig im Unterhemd seine schlauen Kommentare abgeben konnte.

Abgesoffen
Schauspiel Frankfurt
Nils Kahnwald und Oliver Kraushaar
Foto: Alexander Paul Englert ~ englert-fotografie.de

Das junge Inszenierungsgespann Antú Romero Nunes (Regie) und Johannes Hofmann (Bühne/Musik/Video) verzichtet auf eine szenische Umsetzung. Da der Roman nur aus einem ununterbrochenen, zynischen Dialog besteht, wird das unmittelbar vor dem Publikum stehend, mal kumpelhaft gemütlich, mal sich ordentlich anschreiend, doch überwiegend gelangweilt gegeben. Gelangweilt in dem Sinne, dass den beiden alles gleichgültig ist, solange die Kohle stimmt. Somit erscheinen sie als ein Spiegelbild der Gesellschaft.
Ihr eigenes brutales Vorgehen wird nicht als unrecht empfunden, für jedes Argument gibt es ein passendes Gegenargument. Ist der eine (Oliver Kraushaar) eher nüchtern und sinniert noch betroffen über die blauen Augen eines der Opfer nach, ist der andere (Nils Kahnwald) eher ein kleiner Träumer und Idealist, der nebenbei auch noch Gedichte schreibt und sich eine Enzyklopädie kaufen will, wenn er kein Auftragsmörder mehr sein wird. Dumm sind sie beide nicht, aber auch nicht wirklich gescheit. „Gefährliches Halbwissen“ passt für Ihre zwischen Alltagsgeschwätz und existenziellen Fragen wechselnden Gespräche viel eher. Amüsant ist das 75-minütige Gequatsche allemal, etwa wenn sich der eine sich über sein Sexualleben äußert (wenn er vögelt denkt er an alles mögliche, vor allem ans letzte Fußballspiel, wahren, ehrlichen Sex gibt es eh nur beim Masturbieren, Sex muss eine Herausforderung sein, deswegen kommt für ihn eine Prostituierte nie in Frage und hässliche Frauen ficken besser…).

Markus Gründig, Oktober 09


Stadt aus Glas

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
4. Oktober 09

Mit einer falschen Nummer fing es an. So steht es auf die Bühne projiziert an der Wand, so lautet der erste gesprochene Satz und so beginnt auch Paul Austers Roman „Stadt aus Glas“, von 1985, den Stefanie Bruinier und Alexandra Althoff für das Schauspiel Frankfurt dramatisiert haben. Dieses Stück ist nicht nur das Dritte im Premierenreigen der Spielzeiteröffnung unter der neuen Intendanz von Oliver Reese, gleichzeitig wird nach einer gründlichen Renovierung erstmals auch die kleine Bühne im Schauspiel Frankfurt wieder bespielt, die jetzt erneut Kammerspiele heißen. Sind auch die Außenarbeiten noch lange nicht fertig, das erweiterte Foyer im Erdgeschoss bietet bereits jetzt angenehm viel Platz und der Zuschauersaal wartet mit schicken Ledersesseln (inkl. Rückenpolster) auf. Die Backsteinwände wurden geglättet und geschwärzt. Ein noch konzentrierterer Blick ist nun möglich.
Dieser fällt auf die offene Bühne bis zum Bühnengrund. Der Boden wurde nicht nur nach hinten zu angehoben, sondern auch geöffnet (ähnlich wie bei der Gertrud–Produktion). Die nicht offenen Bereiche sind mit weißen Styroporplatten belegt, ein nach zwei Seiten offener Raum steht auf der rechten Bühnenhälfte, auch die Wände sind in weiß gehalten. Enge und Weite werden so gleichsam sichtbar, schließlich spielt das Stück in der Großstadt New York und die weißen Wände eigenen sich auch gut als Reflexionsfläche für die Videoeinblendungen von idyllischen Familienbildern oder dem Verfolgungsplan auf Basis des New Yorker Straßennetzes (Video: Kerstin Polte und Alkmini Boura). Über zwei Dutzend Lautsprecher sind auf der Bühne ringsherum verteilt, scheinbar kann der zurückgezogen lebende Autor doch nicht ganz ohne Kontakt zur Außenwelt leben (Bühne: Markus Karner).

Austers Roman ist zunächst eine Kriminalgeschichte, die sich aber schnell zu einem kaum zu durchdringendem Verwirrspiel der Identitäten wandelt. Auster schreibt über den Schriftsteller Daniel Quinn, der das Pseudonym William Wilson benutzt, um anspruchslose Kriminalromane aus der Perspektive des Privatdetektivs Max Work zu schreiben. Personen mit identischen Namen spielen dabei die entscheidenden Rollen. Ist es anfangs noch leicht überschaubar, wer wer ist, wird dies zunehmend komplizierter, da auch die Schauspieler ihre Identitäten wechseln (als Brücke wird die jeweilige Kleidung des Anderen übernommen) und es bald längst um mehr als um eine Morddrohung geht, um existentielle Fragen des Daseins.

Stadt aus Glas
Schauspiel Frankfurt
Daniel Quinn (Sébastien Jacobi), Köchin/Angel (Sandra Gerling), Rezeptionist(Andreas Uhse), Max Work/Paul Auster (Thomas Huber)
Foto: Sebastian Hoppe

Bettina Bruinier stellt sich mit diesem Stück auch als neue Hausregisseurin am Schauspiel Frankfurt vor. Weite Teile des Stückes wurden sehr genau vom Buch übernommen, manches leicht verändert. Auch die dem Roman und dem Stück innewohnende Problematik der zunehmenden Verwirrung durch den Identitäts-/Rollentausch, ist hier zu erleben, aber auch Austers Themen Zerfall von sozialen Beziehungen und die Suche nach Identität. Als Zuschauer den roten Faden zu behalten, ist da nahezu unmöglich (aber von Auster auch so gewollt).
Vier neue Ensemblemitglieder sind bei diesem Stück zu erleben, dazu als beflissener „alter Hase“: Felix von Manteuffel. Thomas Huber gibt zunächst mit Rowdiegehabe den imaginären Paul Auster, turnt sich regelrecht in alle Bühnenbereiche vor und schmachtet vergeblich Stillmanns Frau hinterher. Als Bild für Austers einsam reisende Sinnsucher trägt er einen Cowboyhut.
Andreas Uhse gibt zunächst facettenreich den kasparhauserhaft geprägten Stillmann Junior, später aber auch den Rezeptionist. Sébastian Jacobi kommt unter diesen Figuren als am natürlichsten daher, schließlich ist er auch der Autor, wo die anderen Figuren nur seine Alter Egos sind. Überaus betörend wirkt der sinnliche Blick von Sandra Gerling als Frau Stillmann, die u. a. aber auch als wunderbar ordinäre Köchin mit großen Brüsten (Kostüme: Justina Klimczyk) beim Publikum für Lacher sorgt. Als Buben alternieren Jannik Wilhelm und David Schestag.
Am Ende herrscht trotz großartigem Spiel reichlich Verwirrung, aber auch dies ist ja so gewollt.

Markus Gründig, Oktober 09


Ödipus / Antigone

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
1. Oktober 09 (Premiere)

Für acht Jahre prägte Elisabeth Schweeger das Profil des Schauspiel Frankfurt (2001-2009), bot mit Ihrem Team von jungen Schauspielern und namhaften Regisseuren einen offenen Diskurs an. So manch Kulturinteressierter verweigerte sich jedoch diesem Diskurs, ohne sich überhaupt ein eigenes Bild darüber gemacht zu haben (über vieles was in den letzten Jahren der Intendanz Schweegers am Schauspiel Frankfurt zu sehen war, finden sich hier auf kulturfreak.de ausführliche Informationen und Besprechungen). Mit Beginn der neuen Spielzeit 2009/10 ist der gebürtige Paderborner Oliver Reese Intendant vom Schauspiel Frankfurt und viele verknüpfen diesen Wechsel mit einem Neuanfang, manche gar mit der irrsinnigen Hoffnung, dass es einen Rückschritt, zurück zum „guten alten Theater“, was immer das auch sein soll, geben wird.
Reese war zuletzt Chefdramaturg und Interimsintendant am Deutschen Theater in Berlin, zuvor wirkte er als Chefdramaturg im Maxim Gorki Theater Berlin (an dem Armin Petras, langjähriger Hausregisseur am Schauspiel Frankfurt, nun Intendant ist) und in gleicher Position am Ulmer Theater.
Kann Reese der Stadt und ihren Bürgern ein anderes Theater bieten? Nun, nach nur einem Abend kann diese Frage noch nicht beantwortet werden, auch wenn allein schon äußere Zeichen eine Veränderung anzeigen. Der Concierge- und Servicebereich im Foyer hat einen anderen Platz erhalten, die Panorama Bar (ehemals Glashaus) wird künftig auch nach einer Vorstellung geöffnet sein und vor allem gibt es eine neue Bestuhlung und die Zuschauerräume wurden renoviert, sodass es dem Zuschauer schon rein äußerlich leicht gemacht wird, sich auf einen besonderen Abend einzustellen. Am ersten Premierenabend waren deutlich mehr Besucher in Abendgarderobe auszumachen und auch das Durchschnittsalter dürfte im Vergleich zu früheren Premieren gestiegen sein. So manch Theaterverweigerer scheint also offen für Neues zu sein. Natürlich waren bei dieser wichtigen Premiere auch viele Kulturschaffende zu Gast und auch Petra Roth, Frankfurts Oberbürgermeisterin, gab sich die Ehre.

Ödipus
Schauspiel Frankfurt
Ödipus (Marc Oliver Schulze)
Foto: Sebastian Hoppe

Zur Eröffnung einen, ja den, klassischen Autor Sophokles zu wählen ist nicht verkehrt, bieten seine Stücke doch zeitlose Themen und lässt sich dabei das Theater vom Ursprung her aufgreifen. Sophokles’ anspruchsvolle Stücke sind allerdings auch keine Publikumsrenner per se, die automatisch für ein volles Haus sorgen. Insoweit ist für diese Auswahl allein schon Mut zu attestieren (auch wenn die Eröffnung als Eröffnungswochenende gegeben wird, mit dem publikumsfreundlichem Musical Cabaret im Bockenheimer Depot) und Paul Austers „Stadt aus Glas“ in den Kammerspielen.
Als Regisseur konnte Reese den Wahl-Berliner Michael Thalheimer gewinnen, ein gebürtiger Hesse aus Münster bei Dieburg, der sich in der Theaterszene einen großen Namen als Verdichter klassischer Tragödien gemacht hat („Die Welt“ betitelte ihn anlässlich seiner Berliner „Orestie“- Inszenierung gar als „König des Theaters“). Reduzierung, starke Bilder, intensive Momente (wobei auch Stille intensiv empfunden werden kann), ebensolche Mimik und Gestik der Darsteller und ein mitunter langer Redefluss der Protagonisten zeichnen seinen Stil aus, den er nun auch dem Frankfurter Publikum präsentierte.
Von der großen Bühne des Schauspiel Frankfurt ist bei diesem Doppelabend nur wenig zu sehen, nur eine vage Ahnung von dem was sie ausmacht, ist wahrnehmbar. Im neu hergerichteten Zuschauersaal des großen Hauses wurde von Olaf Altmann vor die Bühne ein mächtiges Podest aus Sperrholzplatten aufgebaut, das sich vom Bühnenrand bis zu den Seiteneingängen zieht und frei assoziiert so etwas wie Thebens Festung symbolisiert (und ein wenig an sein Bühnenbild der Hexenjagd-Inszenierung erinnert). Die Schauspieler kommen so dem Publikum sehr nahe, holen es quasi da ab, wo es sitzt. Dies schafft auch eine inhaltliche Brücke zwischen den Geschehnissen in Theben und Heute.

Zu Beginn von „Ödipus“ zieht der 40-köpfige Chor über die Publikumseingänge auf die Bühne, um sich sodann in zwei Gruppen geteilt, an den Bühnenrand aufzustellen. Masken aus braunen Papiertüten werden aufgesetzt und das Stück über aufbehalten, zunächst auch bei den Hauptfiguren, die sich durch das laute Klackern ihrer an die Füße gebundenen Holzklötze (sogenannten Kothurne, den Bühnenschuhen im antiken Theater) bemerkbar machen und sich in dieser erhöhten Position vom gemeinen Volk unterscheiden. Bemerkenswert ist Ödipus´ Gang aus dem Volk heraus: nicht wie ein erhabener Herrscher, sondern als von Anfang an Gebeugter, Gebückter und Geplagter. Es dauert lange bis zum ersten Mal die Augen von Ödipus (großartig: Marc Oliver Schulze) hinter seiner Maske zu sehen sind. Mit wirrem Blick gibt er sich unnachgiebig auf die Suche von Laios’ Mörder. Röhrt, fuchtelt mit seinen Armen durch die Luft und gibt ein eindrückliches Bild eines zunehmend Verzweifelten ab. Seine langen Texte trägt er dabei äußerst fesselnd vor. Constanze Becker („Schauspielerin des Jahres“ 2008) passt in ihrer zurückhaltend dargebotenen Königin Iokaste gut dazu und zeigt ebenso eine überaus intensive Präsenz. In weiteren Rollen: Oliver Kraushaar als Bote aus Korinth, Isaak Dentler als Kreon und Michael Abendroth als Hirte des Laios.

Antigone
Schauspiel Frankfurt
Kreon (Marc Oliver Schulze) und Antigone (Constanze Becker)
Foto: Sebastian Hoppe

Nach dem 1 ¾ -stündigen Ödipus und einer fast dreißigminütigen Pause folgte die Fortsetzungsgeschichte „Antigone“ (die Sophokles allerdings 10 Jahre vor „Ödipus“ geschrieben hat).
“Antigone“ ist bei Thalheimer weniger die Geschichte von Ödipus´ Tochter, die göttliches Recht über weltliches Recht stellt, als die des Kreon, der weltliches Recht über göttliches Recht stellt. Tragisch und mit viel Theaterblut endet auch diese Tragödie. Constanze Becker ist hier als Antigone und Marc Oliver Schulze als Kreon zu erleben. Einen eindringlichen Haimon (Sohn Kreons) gibt Isaak Dentler und Susanne Buchenberg (wie Kuchenbuch noch vom alten Ensemble) gefällt als warmherzige Eurydike, Gemahlin des Kreos.
Klangcollagen à la Sigur Ros (Musik Bert Wrede) unterstützen die mystische Atmosphäre in beiden Stücken (mit stimmigem Licht von Johan Delaere), während der Chor mal laut schreiend, mal flüsternd seine eindringlichen Kommentare abgibt (Chorleitung: Marcu Crome).
Ein informatives Programmheft erläutert das Stück wie auch den Inszenierungsansatz. Und nebenbei auch schön: die großen Schaukästen an der Theateraußenfassade (Neue Mainzer Strasse) beinhalten wieder große Inszenierungsfotos , so wie bereits bei der Intendanz Eschberg.

Thalheimer zeigt, dass Klassiker auch in ihrer Reduziertheit (oder gerade deswegen) fesseln können und diesen knapp vierstündigen Abend zu einem besonderen Erlebnis machen, was nicht zuletzt Verdienst von Marc Oliver Schulzes Spiel ist.

Markus Gründig, Oktober 09


blutsbande

theaterperipherie Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
17. September 09 (Premiere)

Alexander Brill hat mit seiner theaterperipherie den Nerv der Zeit getroffen. Die Auseinandersetzung mit den Menschen und Kulturen an der gesellschaftlichen Peripherie fruchtete bisher mit zwei herausragenden Inszenierungen, die nicht nur in Frankfurt gespielt wurden, sondern die auch Gastspieleinladungen ins In- und Ausland erhielten. Mit den Stücken „ehrensache“ und „leyla und medschnun“ wurde bei den bislang insgesamt 59 Vorstellungen eine Auslastung von 87% erreicht (bei einem Schüler- und Studentenanteil von rund 62% und rund 42% Zuschauer mit Migrationshintergrund).
Als drittes Stück folgte jetzt „blutsbande“, für das Alexander Brill unter Zugrundelegung der Theaterklassiker „Romeo und Julia“ (William Shakespeare) und „Die Familie Schroffenstein“ (Heinrich von Kleist), die Textfassung geschrieben und die Regie übernommen hat.
Das Thema ist dabei so aktuell wie international: Liebe ist unmöglich, wo Verblendung, Hass und Rache herrscht. Der gelöste, freudentaumelnde Discotanz am Anfang des Stückes findet ein jähes Ende, als Jojo (megacool im viel zu großen Trägershirt und ebensolcher Sonnenbrille: Soheir Tafzati) hereinstürmt und den Tod von Petar aus Rossat verkündet. Was wirklich passiert ist, die genauen Todesumstände, interessiert niemanden. Die Sippe aus Warent ist an Petars Tod schuld und Rache, Rache, nichts als blinde Rachegedanken treiben nun die Rossats an. Da wirkt es fast wie ein kleines Wunder, dass sich die beiden Brüder Otar (sensibel: Thomas Handzel) und Joni (stürmisch: Jonas Abbood) aus Rossat in Anes (leidenschaftlich: Tanja Ronaghi) aus Warent verliebt haben. Am Ende werden jedoch alle drei tot sein.

blutsbande
theaterperipherie Frankfurt
Otar (Thomas Handzel), Cutio (Hadi Khanjanpour) und Volia (Rebecca Ajnwojner)
Foto: Seweryn Zelazny

Faszinierend wirkt die Manipulation der Medien, die geschickt wichtige Details auslassen oder Belangloses zur Wichtigkeit erheben und so das Geschehen massiv manipulieren und die Stimmung aufheizen. Vor Bildern stehend, wird der Kommentar des Nachrichtensprechers (Johannes Wachsmuth) und der Reporterin (Alba Lenertz) im hinteren Bühnenbereich mit einer Kamera auf eine große Leinwand übertragen (und so ein wenig „Blick hinter die Kulissen“ vermittelt). Die eigentliche Handlung geschieht überwiegend auf einer vorgezogenen, kahlen Bühne, die sich durch zwei kleinen Campinglampen und einer Decke auch zu einem romantischen Wiesenlager wandelt (Bühne: Alexander Brill und Jana Lünsmann-Messerschmidt).
Brills Sprache ist modern und klassisch zugleich. Es wird kein Blatt vor den Mund genommen, es wird offen gesagt, was gedacht wird und doch eine strenge Form gewahrt. Von wenigen Monologen ausgenommen (die wie ein Exkurs eingefügt wurden), wird meist mit kurzen Sätzen gesprochen, schreitet die Handlung stets schnell vorwärts, wodurch die Charaktere an der Oberfläche bleiben. Um den Aktualitätsfaktor zu erhöhen wurde die Handlung an den aufflammenden Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis angelehnt, spielen junge Darsteller mit christlichen, jüdischen und muslimischen Wurzeln, sie spielen sich allesamt in die Herzen der Zuschauer. Manche sind bei diesem Stück neu dabei, manche erneut (dabei ist es schön zu sehen, wie diese jungen Darsteller an Reife gewonnen haben, wie beispielsweise der gebürtige Iraner Hadi Khanjanpour, hier in der Rolle des Cutio).

Markus Gründig, September 09