Uraufführung von »Notre Dame« eröffnete die 71. Bad Hersfelder Festspiele

Notre Dame ~ 71. Bad Hersfelder Festspiele ~ Quasimodo (Robert Nickisch) ~ © Bad Hersfelder Festspiele / S. Sennewald

Mit Victor Hugos Klassiker Notre Dame eröffneten die 71. Bad Hersfelder Festspiele am vergangenen Freitagabend. Die Stiftsruine mit ihrem Hochchor, der Apsis und der Lullus-Glocke (älteste datierte gegossene Glocke Deutschlands) und den umherfliegenden Tauben gibt einen idealen Spielort. Doch für Intendant und Regisseur Joern Hinkel ging es um mehr. Neben den romantischen und plakativen/grotesken Szenen inkludierte er in seine Umsetzung auch die von Hugo eingearbeiteten historischen und philosophischen Themen wie Ausgrenzung, Vorurteile und gesellschaftlicher Stimmungsmache.

Gemeinsam mit dem Dramaturgen Tilman Raabke hat Hinkel eine eigene Fassung des weltberühmten Romans erstellt. Auf Texthinzufügungen wurden verzichtet. Jeder Satz, der auf der Bühne gesprochen wird, stammt aus dem umfangreichen Roman. Die Bad Hersfelder Fassung unterscheidet sich von der bekanntesten Verfilmung des Romans aus 1956 (Regie: Jean Delannoy und mit Gina Lollobrigida als Esmeralda und Anthony Quinn als Quasimodo), die diese beiden Figuren in den Mittelpunkt stellt, und auch von Disneys Musicalversion, die ab Oktober im Wiener Ronacher Theater gespielt wird.

Eröffnung mit Blick auf die Ukraine

Vor der Premiere fand ein großer Festakt zur Eröffnung statt. Der zum Jahresende aus dem Amt des Bürgermeisters von Bad Hersfeld ausscheidende Thomas Fehling begrüßte das Publikum und dankte für die vergangenen 12 Jahre, die er die Festspiele in seiner Funktion als Bürgermeister begleiten konnte. Intendant Joern Hinkel wies auf die Figuren Quasimodo und Esmeralda hin. Erst werden sie groß gefeiert, dann kippt die Meinung des Volkes und sie werden verachtet und verflucht. Wie gehen wir mit Andersdenkenden um, mit Menschen, die nicht unserer Norm entsprechen, wie reagieren wir auf Gewalt? Was Victor Hugos Werk auszeichnet, insbesondere bei seinem Roman Les Miserables, sei, dass Menschen sich ändern können. „Montags werden schwerwiegende Fehler gemacht, aber freitags kann die Sache besser gemacht werden“.

Angeregt von Figuren wie Quasimodo und der sprechenden Ziege Djali gibt es eine weitere Möglichkeit, über eigene Empfindungen zu reflektieren. An Vorstellungstagen findet 90 Minuten vor Beginn die Wandermenagerie „Chimærium – eine lebende Installation“ im Stiftsgarten statt. In fünf Gehegen sind Chimären, lebende Fabelwesen aus Literatur und Mythologie (wie Affen- Hühner- und Schweinemenschen, eine Nixe, Cyborgs, etc.) zu erleben. Besucher können diese nicht nur beobachten und sich von ihnen inspirieren lassen, es kann auch mit ihnen interagiert werden. Die Erlebniswelt erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Theater Anu (Bille Behr & Stefan Behr).

Bei dem Festakt zur Eröffnung der Bad Hersfelder Festspiele 2022 hinterließ Marina Schubarth, Leiterin Dokumentartheater Berlin, mit ihrer Festrede tiefe Eindrücke. Sie enthielt Berichte von drei Schauspielerinnen aus der Ukraine und schloss mit dem Wunsch nach Frieden und Freiheit für das von einem Genozid betroffene Land (vom Publikum gab es stehenden Applaus). Dem schlossen sich die Grußworte der Bundesministerin des Inneren und für Heimat, Nancy Faeser und der hessischen Ministerin für Wissenschaft und Kunst, Angela Dorn nur zu gerne an. Per Videobotschaft grüßte gut gelaunt der hessische Ministerpräsident Boris Rhein. Zwischen den Reden untermalten das Paul Walke Trio (Landesjugendjazzorchester Hessen) und das Duo Lana Woytkewitsch (Gesang) und Maria Parkhomenko (Bandura) die Eröffnungsfeier musikalisch mit emotional ergreifenden Werken. Zu Gast war auch der Generalkonsul der Ukraine in Frankfurt am Main, Vadym Kostiuk.

Notre Dame
71. Bad Hersfelder Festspiele
Ensemble
© Bad Hersfelder Festspiele / S. Sennewald

Spektakuläre Bilder durch Mapping

Die Stiftsruine ist schon für sich beeindruckend. Jens Kilians Bühne zeigt zudem mehrere mobile Metallkonstruktionen: kleinere für Behausungen (wie das Freudenhaus von Madame Falourdel oder Esmeraldas Kerkerhöhle) und größere für die Kirche Notre Dame. Esmeraldas Stube wird mit einem großen Bett angedeutet, die Einsiedlerin haust in einem Schaukasten mit großen Fensterfronten. Groß zur Geltung kommt eine herabgelassene Glocke, an der Quasimodo seine aufgestauten Gefühle frei setzen kann. Nach der Pause gibt es mit dem Einsatz der Mapping-Technik ein Novum bei den Festspielen. Dabei handelt es sich um computeranimierte Projektionen, die auf die vorhandene Architektur abgestimmt sind (Stuttgarter Animationsstudio Frischvergiftung).
Die Kostüme von Daniela Selig spielen reichlich mit historischen Bezügen, reichen aber auch bis in die Gegenwart. Gelegentlich eingespielte pulsierende Beats (musikalische Leitung: Jörg Gollasch) vermitteln eine energetische Spannung. Alles wirkt sehr stimmig und rund. Bei den großen Ensembleszenen (Narrenfest, Wunderhof der Bettler, Einzug der Adligen) gibt es sehr viel zu sehen.

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Esmeralda (Cathrine Sophie Dumont), Claude Frollo (Richy Müller)
© Bad Hersfelder Festspiele / S. Sennewald

Große Namen trotz Ensemblecharakter

Regisseur Joern Hinkel zeigt den Roman als großes Ensemblestück und stellt die jeweiligen Figuren pointiert dar. Ähnlich wie im Buch und im Film wird auch hier teilweise die Erzählform angewendet. So ist es besonders Anouschka Renzi, die als mondän gekleidete Erzählerin mit ihrer prägnanten Stimme positiv in Erscheinung tritt. Dazu verkörpert sie schlüssig die für ihr Geschäft eintretende Puffmutter Madame Falouradel und die Adelige Aloise de Gondelaurier, die ihre Tochter Fleur-de-Lys (bezaubernd: Lara Aylin Winkler) tatkräftig bei der Partnersuche unterstützt.

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Aloise de Gondelaurier (Anouschka Renzi)
© Bad Hersfelder Festspiele / S. Sennewald

Als zunächst heimlicher Beobachter aus dem Hintergrund und dann sich immer stärker in den Vordergrund spielender Dompropst Claude Frollo ist Richy Müller das bekannteste Gesicht im Ensemble. Er gibt die Figur in all ihrer Widersprüchlichkeit und inneren Zerrissenheit bedächtig, aufgewühlt und vehement. Wie Claude Frollo ist auch Quasimodo (angespannt: Robert Nickisch) in seiner Gefühlswelt gefangen, dazu wird er von fast allen verachtet und gefürchtet. Da hat es die attraktive und lebensfrohe Esmeralda der Cathrine Sophie Dumont zunächst einfacher. Sie kann ihren Gefühlen freien Lauf lassen, bis das Schicksal immer unbarmherziger zu ihr wird. Unbeschwertheit zeichnet ihre treue und intelligente Ziege Djali (entspannt: Karla Sengteller) aus. Einen schwachen Charakter hat der sich stets an die Gegebenheiten anpassende und die Ziege Djali und nicht Esmeralda vorziehende, Dichter Pierre Gringoire (voller Elan: Mathias Schlung). Die größte Strafe erfährt der Hauptmann der königlichen Leibgarde Phöbus de Châteaupers (mit starker Wirkung auf die Frauen: Oliver Urbanski): er muss heiraten. Jürgen Hartmann ist u. a. als Bettlerkönig Matthias Spicali und Ankläger Charmolue zu erleben, Peter Englert als spielsüchtiger und fauler Student Jean Frollo. Thorsten Nindel hat als überzogen dargestellter König Ludwig XI. einen kurzen, aber imposanten Auftritt. Die leidende Einsiedlerin Paquette la Chantefleurie der Bettina Hauenschild (auch Guillaume Rousseau) harrt lange in ihrer zur Touristenattraktion verkommenen Bleibe (zu der die Bürgerlichen kommen und Selfies schießen (wie sie es auch mit Quasimodo tun).

Am Ende der drei Stunden (inklusive einer Pause) sehr viel Applaus für die spielerische Verhandlung über Solidarität und gesellschaftlichem Zusammenhalt.

Markus Gründig, Juli 22


Notre Dame

Roman (Notre-Dame de Paris)

Von: Victor Hugo
Theaterfassung: Tilman Raabke und Joern Hinkel

Premiere/Uraufführung bei den 71. Bad Hersfelder Festspielen: 1. Juli 22 (Stiftsruine)

Regie: Joern Hinkel
Bühne: Jens Kilian
Kostüm: Daniela Selig
Mapping: Sheidan Zeinalov und Maximilian Pfisterer, Frischvergiftung
Dramaturgie: Tilman Raabke
Musikalische Leitung: Jörg Gollasch
Lichtdesign: Ulrich Schneider
Sounddesign: Joerg Grünsfelder
Maske: Ute Mai
Regieassistenz: Alexandra Marinescu
Soufleuse: Ute Uhlemann

Besetzung:

les misérables (Die Elenden)
Quasimodo:Robert Nickisch
Claude Frollo: Richy Müller
Esmeralda: Cathrine Sophie Dumont

les heureux (Die Glücklichen)
Djali, die Ziege: Karla Sengteller
Pierre Gringoire: Mathias Schlung

Die Balkongesellschaft
Phöbus de Châteaupers: Oliver Urbanski
Fleur-de-Lys de Gondelaurier: Lara Aylin Winkler
Aloïse de Gondelaurier: Anouschka Renzi
Diane de Christeuil: Kristina Kufner
Amelotte de Montmichelle: Luca Lehnert

Die Studenten
Jean Frollo: Peter Englert
Robin Poussepain: Luca Lehnert

Das Gesetz
Ludwig XI.: Thorsten Nindel
Florian Barbedienne: Günter Alt
Jacques Charmolue: Jürgen Hartmann

Die Gesetzlosen
Madame Falourdel: Anouschka Renzi
Clopin Trouillefou: Günter Alt
Matthias Hunyadi Spicali: Jürgen Hartmann
Guillaume Rousseau: Bettina Hauenschild

Bürgerinnen bei Paquette
Paquette la Chantefleurie: Bettina Hauenschild
Oudarde Musnier: Lara Aylin Winkler
Gervaise: Luca Lehnert
Mahiette: Kristina Kufner
Eustache, ihr Sohn: Jonas Bauer / Suad Etishovski / Jan Pfeiffer

Und: Silas Blüm, Jerome Clemons, Lennart Fink, Joachim Götz-Leyendeckers, Jürgen Keilmann, Brigitte Kerzmann, Sibylle Kramer-Siebert, Christoph Nuhn, Karin Oesinghaus, Fritz Resmann, Bodo Richter, Stefan Rupprecht, Lara-Marie Schmidt, Harald Schnabel, Christopher Seban, Birgit Siepen, Harald Simon, Renate Stübing, Helge Thamm, Heinz Vorbach, Harald Weber, Sieglinde Wenzel

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