

Während der Ausbildung zur Köchin wird die sechzehnjährige Monique schwanger. Sie muss die Ausbildung abbrechen und heiratet früh, ganz so wie es sich in den 1960er-Jahren gehörte. Mit 20 Jahren ist sie bereits zweifache Mutter und lebt mit einem Alkoholiker als Ehemann, der auch noch gewalttätig ist. Sie reißt aus, nimmt Zuflucht bei ihrer Schwester. Dann verliebt sie sich in einen Mann, der anders ist als andere Männer, nicht nur weil er Parfüm benutzt. Drei weitere Kinder folgen und auch er wird zum Alkoholiker und missachtet sie.
Der 1992 geborene französische Autor Édouard Louis erzählt in seinem Kurzroman Die Freiheit einer Frau genau diese Geschichte. Es ist die Geschichte seiner Mutter (Monique Bellegueule). Der international gefeierte Autor und Regisseur Falk Richter hat das Buch in 2022 dramatisiert und auf die Bühne des Hamburger Schauspielhauses gebracht. Diese Inszenierung ist nun am Staatstheater Wiesbaden zu sehen.
Wie in Hamburg mit der Schauspielerin Eva Mattes als die ältere Monique. Alle anderen Darsteller:innen kommen aus dem Wiesbadener Ensemble. Als kleine Ironie auf die im Roman/Stück immanente Sozialkritik können dabei die ambitionierten Eintrittspreise für die Premierenvorstellung in Wiesbaden gesehen werden. Sie lagen auf Festspielniveau. Nichtsdestotrotz war die Vorstellung nahezu ausverkauft (vom Parkett bis zum 2. Rang!). Die Folgevorstellungen sind etwas günstiger.
Shootingstar der französischen Literatur
Éduard Louis macht die verhängnisvolle Verkettung von extremer Armut, mangelnder Bildung und Nähe zu Rechtspopulisten nicht nur in diesem Buch deutlich. Immer wieder tritt er für die von der Gesellschaft Vergessenen ein. Die Aufarbeitung seiner eigenen Geschichte als der Drittgeborene hat er mit seinem autofiktionalen Erstlingswerk Das Ende von Eddy begonnen (ab 21. März 25 am Staatstheater Mainz zu sehen). Er wurde damit zu einem Shootingstar der französischen Literatur. Seine Bücher sind bereits in über 30 Ländern erhältlich und er lehrt(e) an Universitäten in Deutschland und den USA.
Die Geschichte seines Vaters erzählte er in Wer hat meinen Vater umgebracht (eine Dramatisierung davon ist derzeit am Schauspiel Frankfurt zu sehen; Besprechung). Über seinen älteren (Halb-) Bruder handelt sein letztes Buch L’effondrement (Der Zusammenbruch), es ist bisher nur auf Französisch erschienen. Anders als die Mutter hat er keinen Ausweg gefunden, er starb 38-jährig. Das Buch soll die Familiengeschichte der Bellegueule beenden (einer literarischen Aufarbeitung bezüglich der beiden Schwestern bedarf es scheinbar nicht).

Staatstheater Wiesbaden
Éduard (Maximilian Borchardt)
Foto: Maximilian Borchardt
Viel Videomaterial und eine Frauenrockband
Éduard Louis Erzählstil ist besonders, weil er mit Erinnerungsfragmenten immer wieder Sprünge vor und zurück macht. Diesem Stil folgt die Inszenierung von Falk Richter. Teils spielt die Handlung in der Gegenwart, dann spricht die ältere Mutter, teils in der Vergangenheit, dann spricht die junge Mutter. Oftmals überschneiden sich die zeitlichen Ebenen. Auf drei Bildschirmen werden viele vorgefertigte und live Videoaufnahmen projiziert. Dies teilweise aus der Wohnküche (aus der nicht einsehbaren Seitenbühne; Video: Sébastien Dupouey). Eine nur mit Frauen besetzte Liveband sorgt unter der Leitung der Hamburger Musikerin Bernadetta La Hengst zudem mit zahlreichen Rocksongs und -balladen für Stimmung. Die Inszenierung ist ein revuehaftes Spektakel, das mitunter überpointiert wirkt, gleichwohl aber en détail ausgearbeitet ist.

Staatstheater Wiesbaden
Monique (Eva Mattes)
Foto: Maximilian Borchardt
Metamorphosen einer Frau
Im Mittelpunkt des Bühnenbilds von Katrin Hoffmann steht ein Treppenpodest als Sinnbild für die verschiedenen sozialen Stufen. Nach ganz oben schafft es hier keiner, die Familie lebt unten. Eine große, nach unten weisende Faust-Skulptur drückt die Machtverhältnisse plastisch aus. Vor dem Stufenpodest steht ein schäbiges Miniaturhäuschen, fast wie ein Stall aussehend. Umgedreht wird der Blick in die engen Wohnverhältnisse der Familie frei.
Im Hintergrund ein auf Paris Bezug nehmender großer Triumphbogen mit der Insigne „Métamorphose“ als Anlehnung an die Selbstbefreiung Moniques (und Bezug zum Originaltitel Combats et métamorphoses d’une femme (Kämpfe und Metamorphosen einer Frau). Herumliegende große Steine können als Steine, die den Bellegueules in den Weg gelegt wurden, interpretiert werden, ein paar Zierbäumchen für eine ländliche Verortung (oder für eine bessere Gegend in Paris).

Staatstheater Wiesbaden
Monique (damals; Sandrine Zenner)
Foto: Maximilian Borchardt
Im erhöhten Orchestergraben, gespielt wird im Großen Haus (!), stehen zwei zur Bühne ausgerichtete Stühle. Von hier schauen Éduard und seine Mutter aus dem heute mitunter dem Treiben zu. Und er ist alles andere als der gute Sohn von heute. In seiner Kindheit und Jugend, damals noch Eddy Bellegueule heißend, kämpfte er gegen Homophobie, Mobbing und Gewalt. Alters- und situationsbedingt konnte er kein Verständnis für die Eltern aufbringen. Die Mutter verachtete und verleugnete er. Für seine Familie und die Bewohner seines Dorfes fand er kaum gute Worte. Er ist es allerdings, der mit seiner Flucht aus dem Dorf und die nachfolgenden Veränderungen an Sprache, Essgewohnheiten, Kleidung, etc. die größte Metamorphose hinlegte (davon erzählt er ausführlich in seinem Buch „Anleitung ein anderer zu sein“).
Eva Mattes mit Herzenswärme und Empathie
Eva Mattes zeigt als an Selbstbewusstsein erstarkte Monique von heute viel Herzenswärme und Empathie, ohne sich dabei selbst zu vergessen. Als die Geschichte erzählender Éduard ist Lennart Preining nahezu omnipräsent. Dabei agil, besonnen und dessen Fragen und Sorgen eindringlich vermittelnd.
Sandrine Zenner zeigt als Monique von damals, wie jung, unerfahren und überfordert die Mutter war. Die Szene, wenn sie sich zum Skorpions Song „Send Me An Angel“ schmetterlingshaft erhöht, ist von der Regie freilich stark überzeichnet, bleibt aber in Erinnerung.
Adi Hrustemovic gefällt in Mehrfachbesetzung. Sei es als ruppiger Vater, als gutmütiger Zauberclown oder als verführerischer und galanter Kellner. Maria Wördemann gibt souverän Moniques temporäre Freundin Angelique aus der „gehobeneren Klasse“. Sie reißt das Publikum aber vor allem als tanzende Sabrina mit Kate Bushs „Wuthering Heights“ zu spontanem Applaus hin (Szene: Eddys erste Choreografietätigkeit in seinem Heimatdorf Hallencourt).
Was von Anfang an klar war: Am Ende hat es Monique geschafft, sich zu befreien. Dass sie ihren zweiten Ehemann vor die Tür setzen konnte, ging nicht von heute auf morgen. Wichtige erste Impulse waren die Freundschaft zu Angelique und die radikale Entwicklung Eddys/Éduards, der ihr vorlebte, was trotz aller scheinbarer Ausweglosigkeit möglich ist. Vom Wiesbadener Publikum gab es für alle Beteiligte intensiven Beifall und Standing Ovations.
Markus Gründig, Februar 24
Von Die Freiheit einer Frau gibt es am Staatstheater Wiesbaden nur wenige Vorstellungen. Die nächste am 2. März und dann zum Abschluss der Internationalen Maifestspiele (30. und 31. Mai 25).
Am Schauspiel Frankfurt startet Éduard Louis am 16. Februar 25 seine kleine Tournee zur Vorstellung seines jetzt in Deutsch erschienenen Buches Monique bricht aus. Das nimmt am Ende Bezug zur Erstaufführung von Die Freiheit einer Frau in Hamburg 2022, denn Éduard Louis besuchte die Aufführung gemeinsam mit seiner Mutter.
Die Freiheit einer Frau
(Combats et métamorphoses d’une femme)
Roman von: Éduoard Louis (* 1992)
Aus dem Französischen von: Hinrich Schmidt-Henkel
Deutschsprachige Erstaufführung: 5. März 2022 (Hamburg, Schauspielhaus)
Fassung von: Falk Richter
Premiere am Staatstheater Wiesbaden: 31. Januar 25
(Übernahme der Produktion vom Schauspielhaus Hamburg)
Inszenierung: Falk Richter
Bühne: Katrin Hoffmann
Kostüme: Andy Besuch
Video: Sébastien Dupouey
Videomitarbeit: Jonas Link
Livemusik / Songs: Bernadette La Hengst
Bühnenmusik: Daniel Freitag
Licht: Oliver Porst
Dramaturgie: Beate Heine
Besetzung:
Éduard: Lennart Preining
Monique Bellegueule (heute): Eva Mattes
Monique Bellegueule (früher): Sandrine Zenner
Vater (damals) / Bruder (damals) / Clown / Freund / Kellner: Adi Hrustemovic´
Angelique (damals) / Sabrina / Clownsgehilfin: Maria Wördemann
Live-Band: Bernadetta La Hengst, Peta Devlin, Almut Lustig / Bärbel Schwarz, Ella Mae Hengst
Literaturkritiker (Video): Lasse Boje Haye Weber
Statisterie (Video): Wolfgang Meinert, Dieter Meisenheimer
staatstheater-wiesbaden.de