In der Spielzeit 2017/2018 startete am Schauspiel Frankfurt das Gemeinschaftsprojekt Stimmen einer Stadt von Schauspiel Frankfurt und Literaturhaus Frankfurt. Für die auf drei Jahre verteilte monodramatische Serie wurden neun Autorinnen und Autoren eingeladen, mit verschiedenen Frankfurter Biografien ein literarisch-dramatisches Kaleidoskop der Stadt auf die Bühne zu bringen. Die Teile VII – IX sollten ursprünglich bereits in der vergangenen Spielzeit Premiere feiern (am 8. April 2020). Durch die Zwangsschließungen aufgrund der Covid-19-Schutzmaßnahmen fand sie jetzt im September statt.
Für die Stücke VII – IX hat Philip Bußmann eine schlichte Einheitsbühnengrundstruktur auf die Bühne gestellt: eine schräg in den Raum gestellte Holzwand. Zusätzlich werden Möbel davor platziert, sodass unterschiedliche Räume entstehen. Wie ein Bett (nebst zahlreichen Kissen, einer vertrockneten Pflanze und Umzugskartons als Nachttisch) für eine Dachstube, ein schlichter Bürotisch nebst großen Kopierer und aufgetürmten Umzugskartons für ein im Umzug befindliches Büro und ein Klavier und eine Chaiselongue für einen Nebenraum einer Trauerhalle.
Melancholische spät-68-erin
Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller, Dramatiker und Journalist Martin Mosebach (1951 in Frankfurt am Main geboren) lässt in seinem Monodrama Das Leben ist eine Kunst eine fiktive spät-68-erin aus ihrem Leben erzählen. Sie heißt Erna Klobig und hat eine erwachsene Tochter (Bella). Erna hält an allem fest, kann sich nur sehr schwer von Dingen trennen, schon gar nicht von den Jugendstil- und Biedermeiermöbeln in ihrer Dachgeschosswohnung. Nur beim Thema Männer fielen ihr die Trennungen leicht. Bezüglich Männergeschichten in ihrem Leben überwogen Kurzgeschichten, nicht Romane. Anke Sevenich verleiht der Figur unter der Regie von Anselm Weber, die die ganze Aufführung über in ihrem Bett liegt, sitzt, steht, singt, träumt und weint, viele Facetten. Einerseits ist sie ein aufgeschlossener, freiheitlich denkender Mensch (sie erzählt, dass sie gewöhnlich in der Wohnung nackt herumläuft), gleichwohl eine Gefangene ihrer selbst. Ihre Gegenwart ist von schmerzhaften Erinnerungen aus der Vergangenheit geprägt, bei der ihr Vater, ehemals Kreisveterinärwart in Hofgeismar, eine große Rolle spielt. Eingerahmt ist ihre melancholisch gefärbte Erzählung in das aktuelle Thema der Gentrifizierung: Ihre Dachgeschosswohnung im Frankfurter Bahnhofsviertel, umgeben von Druckräumen und Bordellen, soll saniert werden.
Desillusionierter Lokalpolitiker
Politiker stehen immer wieder im öffentlichen Interesse, nicht nur in Frankfurt. Dies weniger wegen ihrer politischen Arbeit, als mit dem, was nebenher bei ihnen mitunter (schief) läuft. Lars Brandt, Sohn vom ehemaligen SPD-Parteivorsitzenden und Bundeskanzler Willy Brandt, stellt mit seiner Erzählung Die Gräten einen frei erfundenen Kommunalpolitiker vor (überzeugend resignierend dargestellt von Bijan Zamani). Dieser muss zu einer Pressekonferenz und findet die dafür notwendige Projektakte nicht. Regisseur Anselm Weber lässt ihn über seine Desillusionierungen berichten, dabei streift er viele Themen zur politischen Gegenwartskultur. Bau- und Flugzeuglärm, Telefonanrufe und Textnachrichten unterbrechen seinen Monolog (diese Szenen werden von Bildprojektionen lokaler städtischer Großbauten aus den 1950/60er Jahren ergänzt).
Ein Grundproblem für ihn ist die Differenz zwischen Idealvorstellung und ernüchternder Realität. Trotz ständiger Meetings, Planungen und Telefonaten gibt es nur Stillstand, keinen Fortschritt. Jedem Schritt nach vorne, folgen zwei nach hinten und/oder zur Seite. Der Mensch hinter dem Politiker bleibt leider vollkommen verborgen. Der bevorstehende Umzug des Büros steht dabei auch für einen gesellschaftlichen Umbruch, für den Wandel an sich. Ob der Umzug aber einen Wandel für den Politiker bringen wird, bleibt fraglich, schließlich mangelt es, wie den titelgebenden Gräten der Kontakt zur Wirbelsäule, an einem guten Kontakt zum Wesentlichen.
Charismatischer Grabmacher mit viel Empathie
Er ist allgegenwärtig und doch für die allermeisten Menschen sehr weit entfernt: der Tod. Zsuzza Bank verleiht in Alles ist groß einer Person die Stimme, die von Berufswegen jeden Tag mit dem Tod konfrontiert wird: einem Grabmacher. Der hier beschriebene Familienvater arbeitete früher als Paketbote, wollte sich aber nicht auf eine Scheinselbstständigkeit einlassen und wechselte zu einem Job, für denen es keine Ausbildung gibt, der dennoch ein großes Maß an Einfühlungsvermögen erfordert und regelmäßig mit schweren Schicksalsschlägen konfrontiert. Auf seinem Arbeitsplatz, dem städtischen Parkfriedhof Heiligenstock auf dem Berger Rücken ist alles groß, die Wege, Wiesen, Bäume und Grabfelder. Die Lebensgeschichten der zu Grabe Getragenen manchmal auch. Der Grabmacher kann dank seiner guten Beobachtungsgabe viel erkennen: an der Anzahl der Trauernden, ihren Blicken und Emotionen. Wie bei der Trauergemeinde von Helmut, der mit 80 Jahren nach einem Schlaganfall im Heim verstorben war, oder beim Begräbnis eines moslemischen Jungen, bei dem er nur das Grab auszuheben hat, die Trauernden aber den ganzen Rest übernehmen. Nils Kreutinger nimmt unter der Regie von Kornelius Eich als charismatischer Grabmacher mit Entertainer-Qualitäten, seiner imposanten Stimme und seiner energetischen Ausstrahlung vom ersten Wort an stark für sich ein.
Markus Gründig, September 20
STIMMEN EINER STADT VII-IX
VII: Das Leben ist eine Kunst von Martin Mosebach
VIII: Die Gräten von Lars Brandt
IX: Alles ist groß von Zsuzsa Bank
Premieren/Uraufführungen am Schauspiel Frankfurt: 13. September 20 (Kammerspiele)
Besuchte Vorstellungen: 26. September 20
Regie (Das Leben ist eine Kunst; Die Gräten): Anselm Weber
Regie (Alles ist groß): Kornelius Eich
Bühne und Video: Philip Bußmann
Kostüme: Mareike Wehrmann
Musik: Thomas Osterhoff
Dramaturgie: Lukas Schmelmer
Besetzung:
Erna Klobig: Anke Sevenich (Das Leben ist eine Kunst)
Lokalpolitiker: Bijan Zamani (Die Gräten)
Grabmacher: Nils Kreutinger (Alles ist groß)
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