Interdisziplinäres Geflecht »Atem / Souffle« am Staatstheater Darmstadt

Atem / Souffle ~ Staatstheater Darmstadt ~ Ensemble ~ © Isabel Machado Rios
kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Rund zwölf Kubikmeter Luft bewegt der Mensch täglich. Dabei atmet er um die 20.000-mal ein und aus. Für unser Leben ist das Atmen unabdingbar, gleichwohl etwas ganz Selbstverständliches. Das Staatstheater Darmstadt widmet ihm eine eigene Großproduktion: Atem/Souffle. Mit ihr wurde Anfang September die neue Spielzeit im Großen Haus eröffnet. Zusammen mit der aus der Republik Côte d’Ivoire (Elfenbeinküste) stammenden Choreografin Nadia Beugré schufen Intendant Carsten Wiegand und der Generalmusikdirektor Daniel Cohen ein „interdisziplinäres Geflecht aus Musik und Tanz um das Thema Atem“ (Carolin Müller-Dohle). Disparate musikalische Werke, von Zouglou über Jazz bis zur klassischen Moderne, laden dabei zur Reflexion ein. Dabei werden große Optiken und durch die Einbindung von sechs Tänzern zusätzlich energiereiche Szenen geboten. Dass die „Black Live Matters“-Bewegung dabei implantiert ist, war zu Beginn der Probephase in der Tiefe nicht vorhersehbar. Doch der Tod des 64-jährigen Rappers George Floyd am 25. Mai dieses Jahres machte dies unumgänglich.

Atem / Souffle
Staatstheater Darmstadt
Ensemble
© Isabel Machado Rios

Der Atem in der Musik

Sämtliche für diesen Abend ausgewählte Musikstücke haben einen mehr oder weniger direkten Bezug zum Thema „Atem“. Zu Gehör kommt eine große musikalische Bandbreite mit einigen nur sehr selten zu hörenden Werken. Die Musiker des Staatsorchesters Darmstadt sind hierbei besonders gefordert, da sie neben klassischen und modernen Werken auch afrikanische Musik spielen. Gerade diese Synthese macht den Reiz des Abends aus. Zu Beginn steht eine von Stefan Schulze arrangierte Orchesterfassung des Songs „c sa ki va tuer“ der Zouglou Maker’s. Er geht nahtlos in die erste große Szene „Die Stadt der Menschen“ über. Für diese ist auf der Bühne ein großes Konstrukt als Bild für ein großes Wohnhaus platziert. Auf drei Ebenen befinden sich insgesamt 21 leere Stuben. Manche sind zusätzlich horizontal oder vertikal unterteilt. Die Szene gibt einen Einblick in den erwachenden Alltag, bei dem Wäsche aufgehängt, gelesen, gesprochen, gearbeitet, musiziert und schließlich getanzt wird. Hierzu improvisieren der von der Elfenbeinküste stammende Thomas Guei an der Djembé und an einer Schlitztrommel und als Einspringer für den erkrankten Georg Festl, der gebürtige US-amerikanische Bariton Jared Ice an der E-Gitarre (er ist u. a. bekannt durch den Podcast „Sex Drugs Opera“ und als Steuerbeamter a. D. Pannecke in Frau Luna). Die Tänzerin Kaisha Essiane und die Tänzer Michel Kiyombo, Eric Nebie, Seibany Salif Traoré, Nestor Kouame und Lebeau Boumpoutou zeigen in der Choreografie von Nadia Beugré unterschiedliche Stile. Sie erzählen kleine Geschichten von Nähe und Entfremdung, die mit Flickflack-Sprüngen und kurzen Breakdance-Einlagen (wie Spins und Turtles) bereichert werden.

Atem / Souffle
Staatstheater Darmstadt
Kaisha Essiane und Tänzer
© Nils Heck

Expressive und zarte Tongebilde bei Ustwolskaja und Feldmann und Ives

In den frühen 1970er Jahren entstand Galina Ustwolskajas (1919 – 2006) Dona nobis pacem für Piccoloflöte, Tuba und Klavier (Komposition I). Hierfür liegt das große Wohnhauskonstrukt hinter einem eisernen Vorhang im Bühnenhintergrund verborgen. Im Halbdunkel ist im Bühnenboden ein breiter Spalt zu sehen. Aus diesem macht sich mit lauten und tiefen Tönen zunächst eine Tuba bemerkbar, zu der dann in extremer Höhe Klavier und Piccoloflöte hinzutreten. Bei dem circa 15-minütigen Werk in drei Sätzen fahren die Bühnenelemente auf denen die Musiker stehen zu einem Podest empor. Karges Material steigert sich bei Ustwolskaja zu expressiven Ausbrüchen, die am Ende wie ein letzter Atem am Rande der Hörbarkeit verklingen.
Das zweite große Stück ist Morton Feldmanns (1926 – 1987) Komposition Rothko Chapel. Er schrieb es in Ehrung des Malers Mark Rothko, für den 1971 in Houston eine interreligiöse Kapelle gebaut wurde. Feldmann verwendet überwiegend leise Klänge, weshalb sie auch als eine Musik der Stille (Gerd Schubert) bezeichnet wird. Hierfür befindet sich das Wohnhauskonstrukt nah am Bühnenrand, darin verteilt in grauen Gewändern: vier Musiker und 25 Chormitglieder des Staatstheaters Darmstadt. GMD Daniel Cohen dirigiert die scheinbar in-sich-gekehrt wirkende Komposition aus der 10. Reihe vom Publikumssaal aus.
Gustav Mahlers Urlicht („O Röschen rot!“, Sinfonie Nr. 2 c-Moll, 4. Satz) erklingt zunächst aus dem Bühnenhintergrund, später in Teilen aus dem rechten Publikumszugang.
Dazu gibt es weitere kleinere Stücke. Alle sind fließend miteinander verbunden und werden von den Tänzern mit performativen Elementen und von Videoprojektionen umrahmt.

Atem / Souffle
Staatstheater Darmstadt
Ensemble
© Nils Heck

Für das Schlussbild werden die Podien der nunmehr wieder leeren Bühne in eine treppenförmige Position gefahren. Zuvor wurden zahlreiche kleine Steine im Raum verteilt, die für Menschen stehen, die nicht mehr unter uns weilen. „Es ist ein Abschied von der Angst und ein Adieu an alle, die von uns gegangen sind“ (Nadia Beugré). Beim groß angelegten freudigen Finale mit einem euphorischen „Victoire“ (Sieg) und freier musikalischer Improvisation ist das Publikum eingeladen, mitzusingen (nicht ohne den Hinweis, dass dabei allerdings eine Mund-Nasen-Abdeckung zu tragen ist).

Der facettenreiche Abend ist ein gelungener Auftakt für eine vielversprechende Spielzeit voller Überraschungen am Staatstheater Darmstadt.

Markus Gründig, September 20


Atem / Souffle

Premiere am Staatstheater Darmstadt: 3. September 20 (Großes Haus)
Besuchte Vorstellung: 19. September 20

Musikalische Leitung: Daniel Cohen / Thomas Guei
Regie und Choreographie: Nadia Beugré
Regie und Bühne: Karsten Wiegand
Kostüm: Pascal Seibicke
Choreinstudierung: Sören Eckhoff
Dramaturgie: Carolin Müller-Dohle
Dramaturgie und Vermittlung: Ali Napoé

Mitwirkende:

Sopran (Rothko Chapel, Collage): Cathrin Lange
Mezzosopran (Urlicht): Lena Sutor-Wernich
Tenor (Rothko Chapel, Collage): Michael Pegher / David Lee
Bass (Collage): Georg Festl / Jared Ice
Bass (Rothko Chapel, Collage): Johannes Seokhoon Moon / Dong-Won Seo

Opernchor des Staatstheaters Darmstadt
Staatsorchester Darmstadt


Tänzer*innen: Kaisha Essiane / Michel Kiyombo / Eric Nebie / Seibany Salif Traoré / Nestor Kouame / Lebeau Boumpoutou

staatstheater-darmstadt.de