»Orpheus. Die Kunst des Verlierens« multiperspektivisch in Mainz

Orpheus. Die Kunst des Verlierens ~ Staatstheater Mainz (im Landeesmuseum Mainz) ~ Charon (Axel Heintzenberg), Vergil (Paul Jonathan Irion), Musaios (Julian von Hansemann), Orpheus (Yoonki Baek) ~ © Andreas Etter
kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Im Musiktheater ist der Tod nahezu allgegenwärtig. In vielen Opern wird getötet und gestorben. Dennoch bleibt der Tod und der Verlust eines (geliebten) Menschen etwas Unheimliches und Abstraktes. Am Staatstheater Mainz hat man sich jetzt den Themen Tod und Verlust in einer außergewöhnlichen und spartenübergreifenden Produktion auseinandergesetzt. Im Mittelpunkt steht dabei die mythische Figur des legendären Sängers Orpheus (der versuchte, seine verstorbene Frau Eurydike aus der Unterwelt zurück ins Leben zu holen).

Dafür wurde die nicht alltägliche Form eines Wandeltheaters gewählt. Gespielt wird außerhalb der gewohnten Bühnenorte: im Landesmuseum Mainz. Das wird schon seit längerem vom Staatstheater gelegentlich als Spielort genutzt. Meistens der Hof, so wie demnächst wieder mit Carlo Goldonis Der Diener zweier Herren ab 7. Juni 25.

Dass dort jetzt Orpheus. Die Kunst des Verlierens seine Premiere feierte, hat einen ganz besonderen Grund. Im Landesmuseum Mainz wird ein fast 6×6 Meter großes Orpheus-Bodenmosaik aus dem 2./3. Jahrhundert n. Chr. ausgestellt. Es wurde 1995 in der Badergasse entdeckt und ist nun nach Restaurierung und Vervollständigung als Dauerleihgabe der Landesarchäologie Mainz zu besichtigen.

Zwischen Ernst und Heiterkeit

Julian von Hansemann (Autor, Regisseur und Schauspieler) und Paul-Johannes Kirschner (Komponist, Pianist und Musikalischer Leiter) laden das Publikum auf eine Reise in die Unterwelt, den Hades, ein, um verschiedene Aspekte und Blickrichtungen zu Tod und Verlust zu erfahren. Dies geschieht aus verschiedenen Perspektiven, teils in unterhaltsamer, teils in etwas theoretischer Form. Stets aber mit viel Engagement.

Orpheus. Die Kunst des Verlierens
Staatstheater Mainz (im Landeesmuseum Mainz)
Eurydike (Heide-Marie Böhm-Schmitz)
© Andreas Etter

Für die Aufführung ist der Boden im Erdgeschoss des Landesmuseums mit vereinzelt herumliegenden Trauerblumen geschmückt und stimmt so auf die Todesthematik ein. Hierbei handelt es sich aber nicht um klassische Trauerblumen wie Lilien oder Rosen, sondern um bunte Blumen wie von einer Sommerwiese. Denn trotz des ernsten Themas geht es nicht nur ernst zu. Schon der Einzug des Vergil (betont cool: Paul Jonathan Irion) mit Begleitcorso und mit gregorianischen Gesang (Guillaume de Machauts „Puis qu’en oubli“) changiert zwischen Ernst und Heiterkeit.

Drei Orte für drei Gruppen

Nach diesem kurzen Auftakt gilt es, drei unterschiedliche Orte aufzusuchen. Hierfür wird das Publikum per Zufallsprinzip in verschiedene Zuschauergruppen aufgeteilt. Die Reihenfolge der besuchten Zwischenstopps variiert also. Im Hof kann dem Spiel der Kontrabassistin Kristina Edin gelauscht werden. Das leitet zu einer Performance von Eurydike über, wie sie nach dem Schlangenbiss mit dem Tod kämpft und sich nach Orpheus sehnt (Tänzerin Heide-Marie Böhm-Schmitz in exponierter Position).

In einer Nische des Untergeschosses erklingt eine aperiodizitäre Neukomposition von Paul-Johannes Kirschner. Er spielt sie selber am Klavier, während Sopranistin Samira Schür in einer schmalen Vitrine als janusköpfige Persephone dazu kunstvoll singt.

Orpheus. Die Kunst des Verlierens
Staatstheater Mainz (im Landeesmuseum Mainz)
Musaios (Julian von Hansemann)
© Andreas Etter

Unter Vergils kompetenter Leitung ermöglicht eine Besucherführung vom großen Fahrstuhl heraus „Einblicke“ in verschiedene Abteilungen des Hades (wie in den Styx, den Ort des Übergangs zwischen der Welt der Lebenden und des Totenreichs oder dem „Höllengericht“, bei dem durchaus Widersprüche eingereicht werden können, die aber grundsätzlich negativ entschieden werden).
Am Orpheus-Mosaik angekommen, berichtet Orpheus und Eurydikes Sohn Musaios (eloquent Julian von Hansemann) über seine Erinnerung an die Mutter. Als kleiner Junge erinnert er sich nur noch an die Beerdigung, wie ihm der Vater die Hand mit der Schippe gestützt hat und an das Geräusch der auf den Sarg aufprallenden Erde.

Zu Gast beim Gott der Unterwelt

Schließlich treffen alle Zuschauergruppen in der Unterwelt (der Steinhalle) aufeinander (hier wird auf Stühlen Platz genommen). Diesen mystischen Ort verleit der Fährmann Charon (Axel Heintzenberg verwegen mit The Velvet Undergrounds „Heroin“) eine transzendente Atmosphäre. Sodann übernimmt Hades (ebenfalls Julian von Hansemann) höchstpersönlich das Ruder und begrüßt alle Neuankömmlinge.

Orpheus. Die Kunst des Verlierens
Staatstheater Mainz (im Landeesmuseum Mainz)
Orpheus (Yoonki Baek), Persephone (Samira Schür)
© Andreas Etter

Orpheus (der südkoreanische Tenor Yoonki Baek) legt sich mächtig ins Zeug, um seinem Flehen Nachdruck zu verleihen (Arie „Funeste piagge aus Jacopo Peris Oper Eurodice). Einen glanzvollen Auftritt im Schleppenkleid mit Luftballons legt die Persephone der Samira Schür hin. Persephone war nicht nur die Göttin der Unterwelt, sondern auch des Frühlings (fröhliche Stimmung zu „Hei-di-Hades“). Bei alledem spielt ein kleines Ensemble unter der Leitung von Paul-Johannes Kirschner die musikalisch sehr unterschiedliche Werke fein abgestuft.

Mit an jedem Sitzplatz ausliegenden Augenbinden, kann dem Disput zwischen Orpheus und Eurydike allein akustisch gefolgt werden (ein theorielastiger Teil des Abends). Sie treffen gemeinsam die Entscheidung für „ihren Augenblick“. Fast wie nebenbei kommt auch die Frage auf „was würde ich heute anders machen?“, deren Beantwortung jede(r) Zuschauer:in sich selber stellen kann.

Am Ende der vielseitigen Darbietungen kräftiger Beifall.

Markus Gründig, April 25


Orpheus. Die Kunst des Verlierens

Wandeltheater mit Musik
Von: Julian von Hansemann und Paul-Johannes Kirschner

Premiere: 20. April 25 (im Landesmuseum Mainz)

Musikalische Leitung: Paul-Johannes Kirschner
Inszenierung: Julian von Hansemann
Kostüme: Ute Noack
Dramaturgie: Elena Garcia Fernandez

Besetzung:

Orpheus: Yoonki Baek
Eurydike: Heide-Marie Böhm-Schmitz
Hades, Musaios (Sohn des Orpheus): Julian von Hansemann
Persephone: Samira Schür
Charon: Axel Heintzenberg
Vergil: Paul Jonathan Irion

Mitglieder des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz:
Kontrabass: Kristina Edin
Violoncello: Christopher Hermann
Harfe: Daphne Milio
Schlagzeug: Gerald Stütz
Cembalo, Klavier, Synthezier: Paul-Johannes Kirschner

staatstheater-mainz.com / landesmuseum-mainz.de