»Körpertreffer« ~ Hinterfragung der Künste durch die medialen Veränderungen am Staatstheater Darmstadt in Kooperation mit CocconDance

Körpertreffer ~ Staatstheater Darmstadt/Cocoon Dance Company ~ Ensemble ~ © Nils Heck
kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Bei einem Besuch eines Museums für Moderne Kunst kann es vorkommen, dass die Frage aufkommt „Was will der Künstler uns damit sagen?“. Nicht immer erschließen sich Sinn und Zweck eines Kunstwerkes unmittelbar. Ähnlich kann es auch einem Zuschauer der Produktion Körpertreffer gehen, die jetzt in den Kammerspielen des Staatstheater Darmstadt uraufgeführt wurde. Es ist eine ungewöhnliche Produktion, bei der sich das Publikum sogar einbringen kann. Denn im Foyer besteht die Möglichkeit, vor der Vorstellung ein Porträt aufzunehmen, dass dann Teil der Inszenierung wird (und anschließend gelöscht wird). Zudem bekommt jeder Zuschauer einen schwarzen Umhang, sodass das Publikum im Saal dann nicht nur als eine geschlossene Gruppe wirkt, vielmehr werden dadurch optische Störungen, unterschiedliche Kleidungsstile und -farben vermieden. Denn gespielt wird unmittelbar vor dem Publikum und hinter Gazevorhängen im leeren hinteren Bereich (Bühne: Boris Kahnert).

Schon wenn das Publikum Platz nimmt, liegen die sieben Performer, Schauspielmitglieder des Staatstheater Darmstadt (Hans-Christian Hegewald, Robert Lang, Stefan Schuster und Mathias Znidarec) und Mitglieder von CocoonDance (Álvaro Esteban, Werner Nigg und Susanne Schneider), unter einem großen schwarzen Tuch auf dem Boden, lediglich ihr Gesicht ist zu sehen. Während zusammenhanglos erscheinende Textfragmente/Wortschnipsel (Text: Lothar Kittstein) eingespielt werden, erwachen sie nacheinander mittels eines auf sie gerichteten Lichtspots. Angeregt von einem Text des Kulturwissenschaftlers Dietrich Dietrichsen, dem auch der Stücktitel entnommen wurde („Körpertreffer – Zur Ästhetik der nachpopulären Künste“; Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2015, Suhrkamp), reflektieren Sie während ihrer interdisziplinäre Performance mit ihren Körpern in den folgenden 60 Minuten Fragen wie „Was ist das Gesicht als Körperteil? “ und „Was bedeuten Veränderungen des Raums für den Tanz?“.


Körpertreffer
Staatstheater Darmstadt/Cocoon Dance Company
Ensemble
© Nils Heck

Angefangen mit langsamen Gesichtsverzerrungen, werden ihre Aktionen immer bewegungsreicher, bis sie wieder zu einem Zeitlupentempo zurückkehren, die Spielbereiche wechseln, einzeln oder als Gruppe auftreten. Anfangs tragen sie lange Shirts in blauen Tönen, später kurze bunt gemixte (Kostüm: Florence Klotz). Videoprojektionen gibt es auch, diese spielen aber keine übergeordnete Rolle. Sie kommen beispielsweise dann zum Einsatz, wenn sich alle eine Art weiße Strumpfmaske überziehen oder wenn Gesichtsporträts überlagert werden (Video: Benjamin Weber). Wichtiges Stimmungselement sind die eingespielten Beats und Sounds (Musik: Jörg Ritzenhoff). Eine besondere Rolle spielen die Gesichter. Das Thema biometrische Gesichtserkennung ist zwar gesellschaftspolitisch aktuell, im Programmheft wird die unterkomplexe binäre Struktur aber als aus der Zeit gefallen betrachtet und Gilles Deleuze und Félix Guattari zitiert, die das Gesicht in ihrer Studie „Mille Plateaux“ als „Horrorgeschichte“ bezeichneten, weshalb die Produktion versucht, das Gesicht aufzulösen.

Unter der Choreografie von Rafaële Giovanola ist der Zuschauer zugleich gefordert, sich in diese Fragestellungen hineinzudenken. Das spannende dabei ist, dass hier die Mittel der choreografischen Arbeit gleichwertige Medien sind. Körpertreffer ist kein Tanzabend, mehr ein Forschungslabor mit abstrakten Bildern. Die Körper verlieren ihre privilegierte Trägersubstanz. Aus Performativen, digitalen Mittel, Sprache, Klängen und Licht ist der Zuschauer nicht nur gefordert, Sichtweisen zu ändern, sondern selbst auf Entdeckungsreise für ein zumindest temporäres anderes Bewusstsein zu gehen.

Markus Gründig, September 19


Körpertreffer
Staatstheater Darmstadt/Cocoon Dance Company
Ensemble
© Nils Heck

Körpertreffer
Spartenübergreifendes Projekt
Eine Produktion des Staatstheater Darmstadt in Zusammenarbeit mit der CocoonDance Company
Körpertreffer wurde gefördert vom Fonds „Doppelpass“ der Kulturstiftung des Bundes

Premiere am Staatstheater Darmstadt: 7. September 19 (Kammerspiele)

Choreografie: Rafaële Giovanola
Text: Lothar Kittstein
Bühne: Boris Kahnert
Kostüm: Florence Klotz
Video: Benjamin Weber
Musik: Jörg Ritzenhoff
Dramaturgie: Rainald Endraß / Maximilian Löwenstein

Von und mit:

Álvaro Esteban
Hans-Christian Hegewald
Robert Lang
Werner Nigg
Susanne Schneider
Stefan Schuster
Mathias Znidarec


koerertreffer.de / cocoondance.de / staatstheater-darmstadt.de