Seit 2014 ist der lettische Dirigent Andris Nelsons Chefdirigent und Musikdirektor des Boston Symphony Orchestra und seit 2018 Gewandhauskapellmeister des traditionsreichen Leipziger Gewandhausorchesters, dessen Wurzeln bis ins Jahr 1479 zurückreichen. Es zählt zu den renommiertesten Klangkörpern der Welt und als weltweit größtes Berufsorchester. In den vergangenen Jahren haben sich Andris Nelsons und das Gewandhausorchester intensiv mit Pjotr Iljitsch Tschaikowsky beschäftigt. Hierbei entstanden bereits Aufnahmen auf DVD und Blu-ray von der Sechsten und Fünften Sinfonie. Als finaler Abschluss des Zyklus später Sinfonien erschien jetzt noch eine fulminante Aufnahme der Vierten Sinfonie. Sie wurde im Dezember 2019 im Gewandhaus zu Leipzig live aufgenommen.
Tschaikowskys Vierte, der Mäzenin Frau von Meck gewidmet, entstand zeitgleich zu seiner Oper Eugen Onegin, beide Werke wurde im Januar 1878 vollendet, in einer für den Komponisten schweren Zeit voller Lebenskrisen. Seine kurze Ehe war gescheitert, er litt unter Depressionen und führte einen inneren Kampf mit seiner Homosexualität, die zur damaligen Zeit ein absolutes Tabu in Russland war und leider auch heute noch ist (positive Äußerungen über Homosexualität in Anwesenheit von Minderjährigen oder über Medien wie das Internet, stehen seit 2013 unter Strafe!). Die Vierte gilt als sein Werk mit der größten autobiographischen Nähe, auch wenn er sich diesbezüglich ausgeschwiegen hat.
Große Gefühlsaufwallungen umkreisen das Thema Fatum, die Schicksalsgewalt. Nelsons lässt das groß besetzte Gewandhausorchester mit straffem Tempo spielen, von der anfänglichen Fanfare der Hörner und Fagotte bis zum leidenschaftlichen Ende hin. Tschaikowskys Seelendrama erklingt glühend und schwelgerisch. Lyrischer Höhepunkt ist der verträumte 2. Satz. Wenn sich schon kein persönliches Glück finden lässt oder dieses nur kurz andauert, so lässt sich das Leben doch auch durch das Glück der anderen ertragen, ist die Botschaft des aufregenden finalen vierten Satzes.
Der Sinfonie vorangestellt sind zwei disparate und selten gespielte Werke. Zunächst die liebliche „Morgendämmerung über der Moskwa“, das Orchestervorspiel aus Modest Mussorgskijs musikalischem Volksdrama Chowantschschina. Sodann Mieczysław Weinbergs markantes Trompetenkonzert op. 94. Weinberg wurde zwar 1919 in Warschau geboren, floh 1939 in die Sowjetunion und lebte bis zu seinem Tod 1996 in Moskau. Dass er bei dieser Aufnahme gewürdigt wird, hängt auch damit zusammen, dass vergangenen Dezember seines 100. Geburtstags gedacht wurde. Solist des Trompetenkonzerts ist der virtuos spielende Håkan Hardenberger. Apropos Solisten. Die Soli spielenden Musiker bei Tschaikowskys Vierter Sinfonie werden im Booklet zur DVD namentlich nicht erwähnt, sind dafür aber mit ihren Instrumenten bei Nahaufnahmen der DVD schön zu sehen. Das Booklet bietet zudem in drei Sprachen (Deutsch, Englisch und Französisch) Detailinformationen zu den drei Werken (von Ann-Katrin Zimmermann).
Markus Gründig, Juli 20
Andris Nelsons
Gewandhausorchester Leipzig
Håkan Hardenberger
Modest Mussorgsky: Morgendämmerung über der Moskwa (Orchestervorspiel aus Chowantschschina; orch. by Dmitri Shostakovich)
Mieczysław Weinberg: Trompetenkonzert in B-Dur, op. 94
Pyotr Iljitsch Tchaikowsky: 4. Sinfonie f-Moll, op. 36
Katalognummer: ACC20494 (DVD) /ACC10494 (Blu-ray)
Im Handel seit: 19. Juni 2020
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